Mittendrin in V
STELL DIR VOR, ES IST KRIEG Text: Hans Platzgumer, Illustration: pixabay
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ch sitze in unserer Zweitwohnung in Wien, als am 24. Feber russische Truppen offiziell in die Ukraine einmarschieren. Ich bin nicht überrascht, dass es zu dieser Eskalation gekommen ist. Seit sieben Jahren befindet sich die Ostukraine im Kriegszustand, und das Säbelrasseln im Umfeld dieses Konfliktherdes ist seit Wochen unüberhörbar geworden, der Ton zwischen der NATO und Russland immer rauer. Putin hat über 150.000 Soldaten an die ukrainische Grenze gebracht, nun haben sie Marschbefehl erhalten. Eine Armee tut, was ihr befohlen wird. Soldaten ist es nicht erlaubt, über ihr Tun nachzudenken. Weder die Sinnhaftigkeit noch Atrozität ihrer Einsätze dürfen sie in Frage stellen, es ist ihnen nicht gestattet, laut über die Grausam- und Unmenschlichkeiten nachzudenken, in die sie sich treiben lassen. Das war schon immer so, und auch im 21. Jahrhundert hat sich nichts daran geändert. Trotz modernster Technologie, superpräziser Waffensysteme, ferngesteuerter Drohnen, künstlicher Intelligenz oder nuklearer Abschreckung, das Schlachtfeld, für das Soldaten ausgebildet werden, bleibt ein Gemetzel. Neben der Ukraine gibt es viele Schauplätze, wo derzeit grausame Kriege toben, in Äthiopien etwa, in Libyen, Syrien oder im Jemen, wo sich seit einem halben Jahrzehnt eine der schlimmsten humanitären Kata strophen der Menschheitsgeschichte abspielt – wofür sich jedoch in Europa kaum jemand interessiert. Mit dem Krieg ist es wie mit allen unangenehmen Wahrheiten: Solange sie uns nicht direkt betreffen, sind wir in der Lage, sie auszublenden. Im Feber 2022 ist der Krieg nun aber mit einem Schlag auch nach Europa gezogen. Von Wien aus liegt das Kriegsgebiet sogar näher als Bregenz. Wir können nicht länger wegschauen, nicht nur wegen der unmittelbaren Nähe, auch weil wir selbst, der Westen, Teil dieses Krieges sind. Aus dem kalten Krieg ist ein heißer geworden, ein Angriffskrieg, Wirtschaftskrieg, Vergeltungskrieg, Propagandakrieg, womöglich ein Atomkrieg, alles gleichzeitig und direkt vor unserer Haustür. Bis in unsere Wohnzimmer reicht der Krieg hinein, von den Displays unserer Smartphones und aus dem Innersten unserer Köpfe ist er nicht länger wegzudenken. Zwei Tage nach Beginn der russischen Invasion entschied eine mit einem meiner Bekannten befreundete Familie aus Lemberg, ins Ausland zu flüchten. Lemberg – Lwiw – liegt ganz im Westen der Ukraine. Seit Jahren ist der Krieg zwar ein Dauerzustand im Land dieser Familie, aber die Frontlinie lag über tausend Kilometer entfernt im Osten. Man hatte sich an die dortigen Gefechtsfeuer gewöhnt und sein Leben weitergeführt. Mittlerweile ist das ganze Land davon ergriffen. Zu lange ist die Flucht hinausgezögert geworden, jetzt muss alles schnell gehen. Als die Mutter mit ihrer 15-jährigen Tochter und dem 19-jährigen Sohn am 26. Feber an der polnischen Grenze ankommt, werden nur sie und die Tochter
weitergelassen. Der Sohn hat das wehrfähige Alter erreicht. Die ukrainische Regierung hat eine Generalmobilmachung erlassen, alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren sind zum Wehrdienst für das Vaterland verpflichtet, sie dürfen die Ukraine nicht mehr verlassen. Der Sohn muss umkehren, muss in die Kaserne, muss, sobald ihm der Befehl dazu erteilt wird, an die Front ziehen, muss sein Land mit Waffengewalt, mit allem, was er hat, notfalls mit seinem Leben verteidigen gegen anrückende Soldaten, die junge Männer sind wie er, dieselbe Sprache sprechen können wie er und wie er Schussbefehl erhalten haben gegen das, was als Feind ausgerufen wurde. Zehntausende Kalaschnikow-Sturmgewehre wurden an Zivilisten verteilt, Waffennachschub im Wert von über einer halben Milliarde Euro wird aus der EU in die Ukraine gebracht. Im Feber 2022, nach Jahrtausenden menschlicher Zivilisation, die bis in die Jungsteinzeit zurückreicht, erhält nun in einem europäischen Land jeder Mann nicht nur das Recht zur Barbarei, sondern sogar den Auftrag zu töten. Als ich ein junger Mann war, gerade im wehrfähigen Alter, gab es in Österreich noch keine einfache Wahl zwischen der Wehrpflicht und der Ausübung eines Zivildienstes. Weigerte sich ein männlicher Staatsbürger, den Dienst an der Waffe für das Vaterland zu tun und gegebenenfalls an eine Kriegsfront geschickt zu werden, musste er in einem gerichtlichen Verfahren beweisen, überzeugter Pazifist zu sein und jegliche Waffengewalt abzulehnen. Während Freunde von mir versuchten, sich untauglich schreiben zu lassen oder aus Österreich auswanderten, um den Heeresdienst zu vermeiden, versuchte ich, mich für den Zivildienst zu qualifizieren. Als Zeugen meiner gewaltverneinenden Überzeugung traten vor Gericht ein Lehrer meiner Schule sowie ein Jesuitenpater auf, der mich aus einem Jugendzentrum kannte. Er war eine in Innsbruck angesehene Persönlichkeit, vor allem ihm habe ich zu verdanken, dass ich als unbelehrbarer Pazifist eingestuft wurde, unfähig, jemals mit der Waffe auf den Feind zu zielen. In der Verhandlung wurde ich mit der üblichen Frage konfrontiert: Ihre Freundin wird vor Ihren Augen von einer Gruppe Angreifer geschlagen und vergewaltigt, Sie tragen eine Pistole bei sich, würden Sie sie einsetzen, um Ihre Freundin zu retten? Ich weiß nicht mehr, was ich auf eine derart alberne Fangfrage wie diese geantwortet habe. Natürlich würde ich die Waffe zücken, aber natürlich würde ich sie auch von vornherein nicht bei mir tragen. Pater Severin reagierte auf die zugespitzte Frage mit einer ähnlich zugespitzten Antwort. Er erklärte, ich sei derart friedliebend, dass ich eher sterben würde als jemals Gewalt anzuwenden. Er zeichnete mich als potenziellen Märtyrer, stellte mich als eine Mischung aus Ghandi und Mutter Teresa dar, und das obwohl ich mit einer Lederjacke voller Anarchiezeichen oder Kill Fascism-Badges in den Verhandlungssaal getreten war und aus dem Kopf-