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Mit Ängsten leben lernen
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Krieg, Coronakrise, Klimawandel: Angesichts der Flut an bedrückenden, schwer verdaulichen Nachrichten nehmen unsere Ängste zu. Was können wir tun, um nicht gänzlich von ihnen beherrscht zu werden? Und wie können wir die Seelen unsere Kinder schützen? Die international renommierte Kinder- und Jugendpsychologin Sandra Velásquez Montiel weiß, wie wir ihnen – und uns selbst – bei der Verarbeitung und Integration des Unfassbaren helfen können.
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Text: Simone Fürnschuß-Hofer Fotos: iStock, Sandra Velásquez Montiel Liest ein Kind im Volksschulalter die Schlagzeile „Krieg in Europa“ galoppiert mitunter seine Fantasie mit ihm davon. Bis wir uns hinsetzen, um ein klärendes Gespräch zu führen, können in seinem Kopf bereits Horrorszenarien entstanden sein. Womöglich erinnert es sich an ein Computerspiel oder einen Film, in dem Soldaten vorkamen: böse Gestalten, die alles zerstörten. Und so ist es in der kindlichen Imagination nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Panzer auch an seinem Wohnort anrollen. Ein kleiner Informationsfetzen kann also ausreichen, eine ganze Kaskade von Sorgen und Ängsten in Gang zu setzen. Umso wichtiger, das Kind wieder aus seiner beunruhigenden Gedankenwelt herauszuholen. Kein leichtes Unterfangen, wenn einzelne Aspekte seiner Fantasie durchaus den Tatsachen entsprechen und wir als Erwachsene angesichts weltpolitischer Umwälzungen selbst zutiefst verunsichert sind.
Wie redet man mit einem Kind über den Krieg? Die in Wien ansässige Kinder- und Jugendpsychologin Sandra Velásquez Montiel sagt: „Wir können mit den Kindern so kommunizieren, dass sie verstehen,
Exekutiver Modus Präfrontaler Lappen: Was kann ich lernen?
Emotionaler Modus Limbisches System: Bin ich geschätzt? Überlebens-Modus Hirnstamm: Bin ich in Sicherheit?

dass die Lage ernst ist, wir aber auf der Landkarte einen sicheren Ort haben.“ Oberste Priorität habe immer die Vermittlung von Sicherheit. Gleichzeitig müsse der Angst des Kindes Raum gegeben werden. Sandra Velásquez Montiel: „Wenn also eine Nachricht das Kind belastet, ist der erste wichtige Schritt, darüber zu reden, die Information „aufzulösen“ bzw. neu anzulegen. Idealerweise mit behutsamem Nachfragen, ohne über die Emotion oder den Wissensstand des Kindes zu urteilen: Was hast du gehört? Wie fühlt sich das an für dich? Was macht „Oberste dir Angst? Es gilt herauszufinden: Was weiß das Kind bereits? Und wo
Priorität hat gibt es Missverständnisse?” Sie empimmer die fehle die sokratische Methode: Nicht zu belehren, sondern geschickt durch
Vermittlung Fragen Irrtümer zu beseitigen und von Sicher- dem Kind die Chance zu geben, Wissen und Erkenntnisse selbst zu entdeheit.“ cken. Wie-, Wo-, Was-, Wann-Fragen zu stellen. „Unsere Arbeit ist es, dass die Kinder denken lernen“, so Sandra Velásquez Montiel. „Auf keinen Fall sollte man Kinder, die sehr neugierig sind und viel fragen, mit komplexen Informationen überfrachten.“
Erstens: Reptilienhirn beruhigen
Achtung: Lassen wir uns nicht ernsthaft auf einen Gesprächsprozess mit dem Kind ein, gehe jede beruhigende Geste, jedes gut gemeinte Wort verloren. Weil dann das Gehirn nicht aufnahmefähig, der sogenannte Präfrontalcortex blockiert ist. Wie unser Hirn funktioniert und wie sich Emotionen, Gedanken und Verhaltensweisen gegenseitig beeinflussen, zeigt die Psychologin anhand eines vereinfachten Schemas (siehe Illustration), das sie im Übrigen auch den Kindern, mit denen sie arbeitet, erklärt: Der Hirnstamm – unser „Reptilienhirn“, weil ältester Gehirnteil – strebt nach Sicherheit. Ist diese nicht gegeben, weil wir uns bedroht fühlen, reagiert dieses immer noch so, wie es uns einst zum Überleben verhalf: Mit Flucht, Kampf oder Erstarren. Wichtig ist auch, was eine Ebene höher im sogenannten limbischen System, das unsere Emotionen reguliert, passiert. Herrscht hier das Grundgefühl, wertgeschätzt und geliebt zu werden? Oder hat sich eher der Eindruck einer mir unfreundlich gesinnten Welt eingenistet? „Wir können nur lernen, wenn wir uns sicher und wertgeschätzt fühlen“, sagt die Psychologin. Ist dies der Fall – und nur dann – kann der über dem limbischen System liegende Präfrontale Lappen Informationen aufnehmen und verarbeiten. In anderen Worten: Nur dann gelingt uns das mit dem Denken. Erwachsenen genauso wie Kindern. Was aber, wenn unser „Reptilienhirn“ in Aufruhr ist, Panik in uns hochsteigt und wir blockiert sind? „Wir können die Sprache des Körpers nützen, um zurück ins Hier und Jetzt zu kommen und Distanz zu den unangenehmen Gefühlen aufzubauen“, meint Sandra Velásquez Montiel. Neben Achtsamkeits- und Atem-Übungen empfiehlt sie körperzentrierte Methoden, die gleichermaßen für Groß und Klein funktionieren, weil sie unser aller Sicherheitsgefühl nähren: Singen, rhythmische Spiele, Fantasiereisen etc. Speziell die „H-Atmung“ – durch die Nase tief einatmen und mit einem hörbaren „H“ durch den Mund ausatmen – sei äußerst effektiv, die Wirkung gar wissenschaftlich belegt: Nach dem Erdbeben auf Haiti beispielsweise konnten durch die Anwendung dieser fokussierten Atmung Posttraumatische Belastungsstörungen um 40 Prozent reduziert werden, so die Expertin. Das Kind nach einem Gespräch über ein belastendes Thema in den gegenwärtigen Moment zurückführen gelänge auch über Fragen wie: „Was gibt es heute Mittag zum Essen? Was machst du noch am Nachmittag?“ Und immer wieder gälte es bei Kindern, egal welchen Alters, deren Gefühle abzufragen, diese nicht zu bewerten und die Aussagen stattdessen vielmehr zu nutzen, im Dialog zu bleiben. Einen wichtigen Impuls richtet die Kinder- und Jugendpsychologin an alle pädagogisch tätigen Menschen: „In meiner Arbeit mit Schulen geht es mir insbesondere auch um die Frage, wie wir durch entsprechende Übungen und Materialien „mitfühlende“ Klassen gestalten können, um dieser Generation die Ressource zu geben, über die eigenen Gefühle zu sprechen.“ „Auf keinen Fall sollte man Kinder, die sehr neugierig sind und viele Fragen stellen, mit komplexen Informationen überfrachten.“
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Zweifelsohne erfordert jede Alters- bzw. Entwicklungsstufe eine andere Art und Weise der Kommunikation. Sandra Velásquez Montiel: „Im Kindergartenalter sind Kinder noch egozentriert, beziehen jede Gefahr auf sich. Wie bereits erwähnt, ist es hier wichtig, dem Kind ein Ja zum erlebten Gefühl zu geben und gleichzeitig Geborgenheit zu vermitteln. Und vor allem erst dann in den Austausch zu gehen, wenn das Kind selbst etwas zur Sprache bringt. Ist ein Kind nicht daran interessiert, über den Krieg zu sprechen, gibt es keine Notwendigkeit, es voranzutreiben – es ist vielleicht noch nicht besorgt darüber und kleine Kinder sollten nicht gezwungen werden, sich dessen bewusst zu sein.“ Kinder ab sieben Jahren bräuchten mehr faktisches Wissen, das Denken wird rationaler und ab circa elf Jahren entwickeln wir unsere Abstraktionsfähigkeit. Das ist der Zeitpunkt, um mit Kindern Dinge zu analysieren und Sachverhalte zu diskutieren. Allerdings steigt hier durch Smartphones und Internetzugang auch die Gefahr unzuverlässiger Informationsquellen, da bräuchte es durchaus Einschränkungen. „Bei Jugendlichen sind Diskussionsrunden angesagt“, empfiehlt Sandra Velásquez Montiel, denn: „Um den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist es gut, die Kinder reden zu lassen, ihnen ein Ventil zu geben. Ein anderes Ventil sind Taten, denn Taten geben Kraft und Hoffnung: Selbst ein kleiner Akt wie das Spendensammeln, Briefe an Zeitungen zu schreiben, etwas zu posten, TikTok-Videos zu machen, Gedichte zu lesen etc. kann dem Kind das Gefühl geben, dass es in der Lage ist, etwas zu bewirken. Wir alle wollen selbstwirksam sein. Unser Gehirn braucht das Gefühl von Bewegung.“

Videotipp: „Sandra and Pauli“
In ihren „Sandra and Pauli“ Videos (zugänglich über youtube) führt Sandra Velásquez Montiel mit ihrer Therapiepuppe Pauli hilfreiche Techniken vor, wie man mit Kindern über den Tod, über Krieg, über Mobbing, über ungesunde Beziehungen usw. reden kann. Sie möchte damit Eltern und ihren Kindern einfache und zugängliche Informationen darüber geben, wie sie mit herausfordernden Situationen und Emotionen umgehen und innere Ressourcen mobilisieren können.
Mehr zu Sandra Velásquez Montiel: www.safe-place-doebling.at Video zur H-Atmung etc. auf Instagram: psychologyinaction Weitere Materialien, die dabei unterstützen, mit Kindern und Jugendlichen über die aktuelle Situation zu sprechen bzw. Schul- und Gruppenstunden zu gestalten: www.jugendrotkreuz. at/ukraine

Aktuelle Ausstellungen, die das Thema Angst behandeln: KULTURTIPP vorarlberg museum, Sonderausstellung „Auf eigene Gefahr. Vom riskanten Wunsch nach Sicherheit“, noch bis Frühjahr 2023 Kunstmuseum Liechtenstein: Rivane Neuenschwander, „knife does not cut fire“, noch bis 24.4.2022
Buch-Neuerscheinung „Panzerschloss“
Die Geschichte erzählt von Kindern, die in Streit geraten und von Soldaten, die mit ihrem „Trumm“ die Kinder verscheuchen wollen, sie illustriert die Kraft des Zusammenhalts und die Macht der Fantasie, die Verwandlung und Versöhnung möglich machen.
Aus der Reihe „Fynn & die Kinder“ von Lisa Aigelsperger, Beatrice Cozzolino, Leykam Verlag