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Ankunft in Bregenz
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Kleine chronologische Dokumentation einer Flucht unter einem guten Stern
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Natália Pál arbeitet im Wechsel mit einer Kollegin immer acht Wochen lang in Bregenz als 24-Stunden-Betreuung für einen Mann, der Unterstützung braucht. Als die Invasion der Ukraine durch russische Truppen beginnt, ist sie zufällig in ihrem Dorf zu Hause, bei ihrer Familie. Sie packen ihre Sachen und verlassen das Land, gerade noch rechtzeitig, bevor ihre beiden Söhne Erik und Sándor nicht mehr über die Grenze dürfen. Ich treffe sie zwei Tage, nachdem sie in Vorarlberg angekommen sind, für ein erstes Gespräch.
Text: Daniela Egger, Fotos (von links nach rechts): Lucas Breuer, Daniela Egger
Samstag, 5. März
Wir sitzen im Café – Natália Pál (47), ihre Söhne Erik (20) und Sándor (23), Nachzüglerin Gabriella (10) und Fotograf Lucas Breuer, der die Familie seit ihrer Ankunft in Bregenz begleitet. Die Flucht war nicht dramatisch, die Reise haben sie zuvor beruflich regelmäßig gemacht, wie Natália erzählt: „Wir sind zuerst mit dem Zug nach Ungarn gefahren. Dort waren wir ein paar Tage, bevor wir nach Bregenz weitergereist sind. Ein Teil der Familie Breuer hat uns in Budapest aufgenommen, während der andere Teil in Bregenz schon vieles arrangiert hat. Wir haben großes Glück. Als wir ankamen, war bereits klar, dass Erik und Sandor einen Arbeitsplatz bei einem befreundeten Baumeister haben, das war eine große Erleichterung. Der Geschäftsführer von Oberhauser & Schedler Bau in Andelsbuch, Michael Pircher, ein Freund von Lucas, hat alles arrangiert, Arbeitskleidung bereitgestellt und die Behördenwege gemacht. Selbst eine Wohnung haben wir heute schon besichtigt. Wir dürfen für den Übergang in der Wohnung der Familie Breuer bleiben, bis wir was gefunden haben, aber ich hoffe, dass wir sie bald entlasten können. Platz haben wir dort nicht wirklich, aber das ist im Moment nicht wichtig.“
Sándor erzählt, dass er, seit er 16 Jahre alt ist, im Ausland arbeitet und nur zu Besuch zu Hause auf dem Dorf ist, wie auch sein Bruder Erik und die meisten ihrer Freunde. Deshalb ist jetzt von ihren Bekannten auch niemand mehr in der Ukraine. Sie sind in Kontakt mit ihren Freunden, die meisten wollen sofort wieder zurück, sobald der Krieg vorbei ist – egal, wer das Land dann regiert, sagt er. „Wir leben etwa 40 Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt“, sagt Natália. „Das Land war zuerst Ungarisch, dann gehörte es zu Tschechien, dann wieder zu Ungarn, dann kamen die Russen, jetzt ist es die Ukraine ... Wir gehören zu einer ungarischen Minderheit und sprechen vorwiegend Ungarisch. Ich habe dorthin geheiratet, aber ich rede inzwischen besser Ungarisch als Ukrainisch. Als die Region zu Russland gehörte, gab es ausreichend Arbeit und Einkommen, dafür konnte man kaum etwas kaufen. Mit der ukrainischen Regierung waren die Regale voll, aber es gab nur wenig Arbeit – und von dem Lohn kann man nicht leben. Deshalb arbeiten wir schon seit vielen Jahren alle im Ausland. Sobald nicht mehr geschossen wird, wollen wir nach Hause, dort bleibt jetzt die Arbeit liegen – das kann unsere 80-jährige Oma nicht allein schaffen.“
Auch Gabriella hat keine Schulfreundinnen mehr daheim, die sind alle rechtzeitig ausgereist. Ihr gefällt es in Bregenz am besten, vor allem, weil die Familie zusammen ist. Auf den ersten Schultag am Montag in der VS Augasse freut sie sich sehr. Ich frage die beiden jungen Männer, was sie in ihrer Freizeit gerne machen – beide lieben es zu fischen. Erik hätte gerne studiert, Geschichte, sagt er. Aber es war besser arbeiten zu gehen, meint er. Dass sie schon am Montag in einem vollkommen neuen Land und ohne Sprachkenntnisse damit beginnen können, ist ungewöhnlich, und die beiden sind sehr froh darüber – so können sie ihre Mutter entlasten. Ihr Vater ist vor einem Jahr an Krebs gestorben, seither hängt alles an Natália, die immer noch in großer Trauer ist.
Donnerstag, 10. März
Ich telefoniere mit Lucas, um zu fragen, wie es der Familie Pál geht. Wir können uns nicht treffen, weil die Breuers in Quarantäne sind. Lucas berichtet, dass Gabriella schon den ersten Besuch aus der Schule mitgebracht hat. Eine Schulfreundin, die Russisch versteht, es aber nicht spricht. Dafür benennt sie alles auf Deutsch – die beiden Mädchen verstehen sich bestens und Gabriella lernt schnell die ersten Wörter. Die Schule gefällt ihr sehr gut, diese Art von Unterricht ist ganz neu für sie – in der Montessori-Klasse der Augasse wird frei unterrichtet. Was sie begeistert: Die Kinder gehen schwimmen, turnen und machen Ausflüge. Sie erhält vier Mal in der Woche extra Deutsch-Unterricht. „Es sind sehr viele Kinder in der Klasse“, sagt sie. In ihrem Dorf Saloka waren sie zu neunt im Unterricht. 760 Einwohner zählt das Dorf, 70 Kinder sind in der Schule, Sandor war sogar allein in seinem Jahrgang. Lucas erzählt, dass sie noch auf Antwort warten wegen der Wohnung. Leider ist Natálias Arbeitgeber im Spital, weswegen sie derzeit nichts zu tun hat. Wann es mit ihrer Arbeit weitergeht, ist ungewiss und sie macht sich deshalb große Sorgen. Inzwischen schneidet sie die Bäume im Garten der Breuers und macht andere Arbeiten. Die beiden jungen Männer sind auf dem Bau ordentlich gefordert, das Sprachproblem verzögert vieles. Sie verstehen nicht gleich, was gemacht werden soll, und der Ungarisch sprechende Kranführer der

Firma, der sich als Übersetzer angeboten hat, hat nicht immer Zeit für Erklärungen. Michael Pircher ist zuversichtlich – mit Anfangsschwierigkeiten ist zu rechnen, die beiden sind beliebt, und sie können zupacken.
Samstag, 26. März
Ich sitze im Garten während Lucas Café kocht, Gabriella erklärt mir, was sie gelernt hat. Eine Mini-Unterhaltung auf Deutsch klappt bereits. Natália ist sichtlich entspannt, ihr Arbeitgeber ist zurück aus dem Spital und braucht Betreuung. Die beiden jungen Männer sind am Vormittag noch auf dem Bau, sie berichtet, dass beide gerne zur Arbeit gehen. Der Geschäftsführer betreut einen Skiverein, sie haben bei einem Rennen über 1000 Euro gesammelt, damit soll für Erik und Sándor ein Deutschkurs finanziert werden. Die Wohnsituation ist schwierig, weil sie eine Absage bekommen haben und das Gefühl, der Familie zur Last zu fallen, sie belastet. Die Wohnungssuche in Bregenz oder Umgebung ist nicht einfach – auch weil sie keinen offiziellen Flüchtlingsstatus haben. Durch die Doppelstaatsbürgerschaft in Ungarn sind sie EU-Bürger, arbeiten und können ganz normal Miete bezahlen. Mit Natálias Schwiegermutter sind sie täglich in Kontakt. Die schert sich schon gar nicht mehr um den häufigen Fliegeralarm – sie sagt, es lohnt sich nicht, mehrmals täglich in den Keller zu rennen. Abreisen will sie immer noch nicht, das Haus allein zu lassen, ist gefährlich. Natália vermutet, dass die Region zu nahe an der EU-Grenze liegt und deshalb in ihrem Dorf keine Bomben fallen werden. Ihre Schwiegermutter ist der Meinung, wenn Gott sie mit Bomben aus dem Leben holen will, ist das auch recht – sie nimmt, was kommt. Im etwa 200 Kilometer weit entfernten Lemberg wurde allerdings viel zerstört, dort liegt ein militärischer Stützpunkt, der heftig bombardiert wurde und wird. Mit einer Tante aus ihrer Heimatstadt weiter im Landesinneren ist Natália ebenfalls in Kontakt, sie musste ihr Geld schicken, weil die Versorgung schwierig und alles extrem teuer wurde. Natália hat selbst nicht viel Geld, aber sie spart, um ihre Verwandten zu unterstützen, die derzeit kein Einkommen haben.
Ob sie immer noch zurück möchten, sobald der Krieg vorbei ist, frage ich – Natália wiegt den Kopf und sagt zögerlich, es bräuchte wohl noch etwas Zeit. Sie müssen Geld verdienen, um zu Hause helfen zu können. Idealerweise könnten sie noch in Österreich arbeiten und zwischendurch nach Hause fahren, aber grundsätzlich wollen sie wieder zurück in die Ukraine. Gabriella will dort sein, wo ihre Familie ist, die beiden jungen Männer wollen dort sein, wo es Arbeit gibt. „Bei uns wachsen die Kinder anders auf als hier“, sagt Natália. „Wer hier zur Welt kommt, hat viele Möglichkeiten, das haben die Kinder bei uns auf dem Land nicht. Wer überleben will, muss Geld verdienen, welche Arbeit man bekommt, ist nebensächlich.“