marie 70/ April 2022

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Mittendrin in V

WÜRDE ICH ...? Text: Simone Fürnschuß-Hofer

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ch versuche mir vorzustellen, wie Würde ich davor noch alle Lebensmittel an das ist: Gestern möglicherweise noch die Nachbarn verteilen, würde ich das Haus verärgert gewesen zu sein, weil mein verriegeln, Wertgegenstände oder das PriJüngster das Hausaufgabenheft verlovate verstecken? Ginge es mir vielleicht wie ren hat und der Handwerker nicht gejenem Unternehmer, dessen Büro sich in eikommen ist und heute wegen Bombenalarms nem der Türme des World Trade Centers beim Keller meines Nachbarn Unterschlupf finfand und der inmitten des Infernos von 9/11 den zu müssen. Gestern möglicherweise noch noch die Bürotür absperrte, bevor er mit seimit meinem Mann über neue Balkonmöbel nem Team aus dem einstürzenden Gebäude oder den Sommerurlaub nachgedacht zu hanach draußen flüchtete? Wieviel Macht hätte ben und heute allem Alltag beraubt, für ein noch die Gewohnheit? Wie lange würde ich Brot eine Stunde unter Lebensgefahr ansteversuchen, zu retten, was noch zu retten ist? Und wann würde ich beginnen, Gewissheihen zu müssen. Gestern möglicherweise noch mit meiner Freundin bei einer gemütlichen ten und Habseligkeiten über Bord zu werfen, Tasse Tee darüber geseufzt zu haben, dass wir eine nach der anderen, als würde man einer zu wenig Zeit für die wirklich schönen Dinge Zwiebel Schicht für Schicht abschälen? Schades Lebens haben und heute am Abgrund stelen dessen, was mein Leben ausmachte? Ich hend das Unwirkliche nicht fassen könnend. stelle mir vor, wie es vielleicht noch einen Und das alles, weil dem Land, in dem ich lebe, Streit meiner Kinder vor dem Auto gäbe, ob der Krieg erklärt wurde von einem Machthader Kleiderkoffer meiner Tochter, die Fußber, dem abgesehen von eigenen Interessen bälle des Jüngsten oder die DVD-Sammlung nichts heilig und alles zuzutrauen ist. des Großen Mitnahme-Berechtigung hätten, ein letztes Aufbäumen gegen das Loslassen der Banalitäten, so, als würde man sich den Luxus der kleinen Sorgen weiterhin leisten wollen, als Sicherheitsschild gegen das große Ich versuche mir vorzustellen, wie das verheerende Unbekannte. Womöglich würde ist: Heute in den frühen Morgenstunden von es mich selbst schmerzen, geliebte Dinge, die einer Nachricht getroffen worden zu sein, die vielen gekauften aber noch ungelesenen Büalles, mein ganzes Leben, meine Werte, mein cher, zurückzulassen. Oder wäre für solch BeDasein wie einen Ballon platzen lässt und langloses gar keine Zeit mehr, weil die Gefahr mir den Boden unter dem wegzieht, was ich bereits so nah ist, dass der Fluchtreflex alle mir aufgebaut habe: eine Familie, ein soziales Bedürfnisse auf das eine zusammenschrumpNetz, einen Ort zum Wohnen, Werden und fen ließe: Leib und Leben zu schützen, rausSein. Eine berufliche Heimat. Alles Liebgezukommen aus der Gefahrenzone, meine wonnene, Vertraute, Haltgebende. Würde ich Kinder zu retten? vor Angst gelähmt sein oder in Aktionismus verfallen? Würde ich laut klagen oder leise weinen? Schreien oder erstarren? Was würde ich meinen Kindern sagen? Wieviel Angst würde ich ihnen gegenüber zugeben, vor welIch versuche mir vorzustellen, wie das cher Panik sie schützen können? Würde ich ist: Meinen Mann an der Grenze zurückzuüberlegen zu fliehen oder würde ich ohne lassen. Meinen Mann, dem alles Uniformierzu überlegen fliehen? Und wenn ich flöhe, te suspekt ist und der nun als Soldat in den was würde ich mitnehmen? Wären dieselKrieg ziehen soll? Ihn, den ich mir nicht einben Dinge im Kofferraum wie auf unseren mal verkleidet im Fasching mit einem SpielUrlaubsreisen? Könnte ich beim Zusammenzeugrevolver vorstellen kann? Würde ich ihn packen einen kühlen Kopf bewahren? Welüberreden, sich über die Grenze zu schmugche Dinge und Dokumente hätten Relevanz? geln oder würde ich ihn bekräftigen, unser


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