marie 57/ Februar 2021

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Leben ohne Existenzangst Wie würde die Corona-Krise, wie würde überhaupt jede Wirtschaftskrise verlaufen, wenn es für jede Österreicherin und jeden Österreicher ein Grundeinkommen gäbe? Unabhängig davon, wer wo was macht und kann. Und soll es unabhängig davon sein, ob jemand überhaupt einen Job hat? Sagen wir: 1000 Euro für jeden Erwachsenen, 500 Euro für jedes Kind. Die Idee „Grundeinkommen“ ist nicht neu. Sie hat ihre Wurzeln in der christlichen Weltanschauung und ist ein „Liebkind“ von Papst Franziskus. Text: Gerhard Thoma, Fotos: Verein Generation Grundeinkommen

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r hoffe, dass die Corona-Krise, „dieser Moment der Gefahr, uns aus dem Autopiloten herausholt“ und zu einer humanistischen und ökologischen Umkehr führt, „die den Götzendienst des Geldes beendet und die Würde und das Leben in den Mittelpunkt stellt“, erklärte Papst Franziskus im April 2020. Alle Menschen, die arbeitswillig sind, sollen ein Grundeinkommen erhalten, und zwar zusätzlich bzw. in Feinabstimmung zu ihrem bisherigen Lohn. Die Regierungen mögen endlich einsehen, dass technokratische Muster oder das rein marktwirtschaftliche Modell nicht ausreichten, um die gegenwärtige Krise oder die anderen großen Probleme der Menschheit anzugehen. Ein solches Grundeinkommen würde Franziskus zufolge eine Forderung einlösen, die „so menschlich und zugleich so christlich ist: kein Arbeiter ohne Rechte.“ Bis ins 18. Jahrhundert waren in Europa einzig und allein die christlichen Kirchen für die Versorgung und Pflege der Armen und Kranken zuständig. Getragen von der Tugend der Nächstenliebe und Wohltätigkeit, der Caritas, galt: Wer von seiner Tätigkeit leben konnte, sollte im Sinne der Nächstenliebe mit anderen teilen, denn vor Gott seien alle gleich. Thomas von Aquin erhob Almosen sogar zum Gebot: unter der Voraussetzung, dass der Empfänger auch tatsächlich Not leide. Auf dieser Vorstellung beruht die katholische Soziallehre, wonach die Gemeinschaft dort helfen müsse, wo jemand bedürftig sei. Diese Aufgabe hat heute zwar großteils der moderne Sozialstaat übernommen, ist dabei aber nach

wie vor vom christlichen Grundgedanken inspiriert: Denn von Einkommen und Lohn wird Geld für Krankenfürsorge, Arbeitslosigkeit, Altersversorgung und andere soziale Zwecke abgezweigt. Nach dem Motto: Einer für alle, alle für Einen. Dies soll und kann Existenzängste lindern. Und doch gab es schon vor 500 Jahren Leute, die auf eine Weiterentwicklung dieses christlichen Prinzips pochten, nämlich in Form eines Grundeinkommens für jede Bürgerin und jeden Bürger.

Mindestsicherung

Vor allem der aufkeimende Humanismus brachte neue Einkommensideen hervor. So beschrieb Thomas Morus 1516 in „Utopia“ ein Staatsmodell, das den Bürgern alle lebensnotwendigen Güter kostenlos zur Verfügung stellen sollte. Allerdings sah Morus eine allgemeine Arbeitspflicht vor, weshalb man nicht von einem bedingungslosen Grundeinkommen sprechen konnte. Hinter seinem Ansatz standen zudem pragmatische Gedanken: Er hoffte, durch diese Umverteilung die Kriminalität zu senken. Juan Luis Vives entwarf 1525 für die Stadt Brügge ein Konzept zur Armutsbekämpfung und schlug eine moderate Variante der Mindestsicherung vor. Er ging davon aus, dass die meisten Armen freiwillig arbeiten würden, wenn sie denn könnten. Neben der Unterstützung in Not sollte eine Art Förderprogramm die Arbeitsaufnahme erleichtern: etwa durch Ausbildung. Die Aufklärung sowie die Vor- und Nachwehen der Französischen Revolution befeuerten die Debatte. Charles de Montesquieu schrieb 1748: „Der Staat

schuldet allen seinen Einwohnern einen sicheren Lebensunterhalt, Nahrung, geeignete Kleidung und einen Lebensstil, der ihre Gesundheit nicht beeinträchtigt.“ Etwa zur gleichen Zeit warb in den USA Gründervater Thomas Paine für einen Fonds, den die Grundbesitzer füllen sollten; jeder Bürger würde daraus regelmäßig eine Summe erhalten. Er plädierte auch für eine Art Startgeld für jeden Bürger und war Verfechter einer Erbschaftssteuer. Im Zeitalter der Industrialisierung startete ein früher Grundeinkommens-Versuch am 6. Mai 1795 im englischen Speenhamland, als Friedensrichter eine neue Form der Mindestsicherung beschlossen. Ein „arbeitsamer Mann“ sollte wöchentlich einen fixen Geldbetrag erhalten, gekoppelt an den Brotpreis. Wer Frau und Kinder daheim hatte, bekam mehr. 1834 endete der Versuch, nachdem Tausende Landarbeiter für mehr Brot und eine bessere Entlohnung protestiert hatten. Heutige Forscher urteilen anders, doch damals fiel das Fazit einer Kommission ernüchternd aus: Das System sei eine Katastrophe. Es habe für eine Bevölkerungsexplosion, sinkende Löhne und einen Verfall der Sitten gesorgt. Die „soziale Frage“ verschärfte sich indes im Laufe des 19. Jahrhunderts weiter, die Industrialisierung führte zu einer massenhaften Verarmung der Arbeiterschaft. Auch um neue politische Bewegungen wie den Kommunismus einzudämmen und die Arbeiter zu besänftigen, führten zahlreiche westeuropäische Länder eine Versicherungspflicht gegen Unfälle, Krankheit und Invalidität ein.


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