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Thema muss Schrecken verlieren

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Zum ersten Mal hörte ich von der mutigen Frau von einem schwer beeindruckten Lehrer, der mir seine Erlebnisse mit einer verzweifelten Schülerin schilderte. Nachdem klar wurde, dass diese seit Jahren von ihrem Vater missbraucht wurde, begleitete er sie zunächst zur Polizei. Eine frustrierende Erfahrung, mit der er nicht gerechnet hatte. Bei seiner Recherche, welche anderen Schritte sinnvoll wären, stieß er auf den Verein Schmetterlinge und auf Karin Kaufmann, die ihn und einen Lehrerkollegen kurzerhand mitnahm, um an die Türe des Vaters zu klopfen, damit sie dessen Computer sicherstellen konnte. Sie muss heute noch herzlich lachen, als wir darauf zu sprechen kommen: „Die beiden Männer waren so verängstigt, dass sie sich die Taschen mit Steinen füllten, bevor wir das Haus betraten. Dabei sind diese Täter meist die netten, verständnisvollen Nachbarn, die nie laut werden. Es war sehr einfach, seinen Computer zu bekommen und damit die pornografischen Fotos sicherzustellen, die er von seiner Tochter gemacht hatte. Nur mit handfesten Beweisen ist eine Anzeige bei der Polizei wirklich sinnvoll, das weiß sie aus leidvoller Erfahrung. Die Aussage einer jungen Frau alleine gilt nicht viel und hat kaum Aussicht auf Erfolg. Der Lehrer, der mir damals davon berichtete, bestätigte diese ernüchternde Erkenntnis nicht nur – trotz seines Beistandes wurde das Mädchen auf dem Polizeiposten bald der Lüge verdächtigt. Nachdem das Material sichergestellt war, kam dieser Vater dann aber in Haft. „Ich gehe davon aus, dass jedes zweite Mädchen und jeder dritte Bub irgendwann einen oder regelmäßige sexuelle Übergriffe erleben, und wenn wir das Online-Grooming dazurechnen sind wir bald bei 100 Prozent. Jeder Zehnjährige mit WLAN am Smartphone ist schwer gefährdet. Das betrifft auch das Teilen von Pornoseiten unter Gleichaltrigen – ein massives Problem, weil auch da ein Eingriff in die Intimsphäre passiert. Man bekommt Dinge zu sehen, für die man nicht bereit ist. Leider sind viele Eltern in diesem Bereich blind. Was auf den Smartphones und in den Online-Spielen

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Das Thema muss seinen Schrecken verlieren

Karin Kaufmann ist die Gründerin und Geschäftsführerin des Vereins Schmetterlinge – eine Interessensvertretung für Opfer sexueller Gewalterfahrungen. Seit 13 Jahren begleitet sie Kinder und Jugendliche gemeinsam mit ihren erwachsenen Vertrauenspersonen aus dem Trauma in ein gesundes und normales Leben – oft über Jahre.

Text und Fotos: Daniela Egger

„DIE ERWACHSENEN TÄTER KOMMEN MEIST AUS DEM ENGSTEN UMFELD –

DEN GROSSEN, BÖSEN UNBEKANNTEN GIBT ES NUR HÖCHST SELTEN.“

Verein Schmetterlinge

Selbsthilfeorganisation für Betroffene sexualisierter Gewalt und deren Angehörige Geschäftsführerin Karin Kaufmann, Rheinstraße 1, Hard schmetterlinge@vol.at Tel: 0664 8576771

Held*innen gesucht:

500 Menschen, die je 5 Euro im Monat spenden. Raiffeisenbank im Rheintal IBAN AT95 3742 0000 0011 8810

der Kinder abgeht, wollen sie nicht wissen,“ sagt Karin Kaufmann und wird immer eindringlicher dabei. „Und wir müssen dringend ein breites Bewusstsein dafür schaffen, dass die erwachsenen Täter meist aus dem engsten Umfeld kommen – den großen, bösen Unbekannten gibt es nur höchst selten.“

Worauf man als Elternteil achten kann, um herauszufinden, ob jemand dem eigenen Kind zu nahetritt, beantwortet sie mit großer Klarheit: „Wesentlich ist der gute Kontakt zum Kind. Es muss wissen, dass in der Familie alles angesprochen wird, weil die Erwachsenen das so leben. Es muss vom Kleinkindalter an darin bestärkt werden, dass sein Körper ihm alleine gehört, und es muss erleben, dass es ernstgenommen wird. Gerade Mädchen reagieren oft mit Überanpassung, die sind kein bisschen auffällig – da muss man schon auf andere Zeichen achten. Albträume, Konzentrationsstörungen und ähnliches. Auch wenn sich ein Erwachsener mit einem Kind befreunden will, im Sportverein, im Bekanntenkreis, sollte man aufmerksam werden. Warum will er das?“

Übergriffe passieren überall, von den wohlhabenden Familien bis in die Sozialsiedlung. Wenn sie ihr Wissen in Workshops vermittelt, erkennt Karin Kaufmann aufgrund ihrer eigenen Erfahrung oft schon an der Körpersprache der Kinder, ob diese betroffen sind. Zunächst erläutert sie, was unter sexualisierter Gewalt überhaupt zu verstehen ist, wie man sich schützen kann und auch, wie man nach einem traumatischen Ereignis wieder zu sich kommen kann. „Das Thema muss seinen Schrecken verlieren,“ betont sie, „es muss in die Normalität integriert werden, damit man wieder gesund werden kann. Die Jugendlichen müssen auch ein Bewusstsein dafür entwickeln, was sie sich selber antun, mit Bodyshaming und Mobbing und der ganzen Bandbreite, die auf dem Schulhof stattfindet. Sie müssen mehr zusammenhalten. Für uns ist Aufklärung, Aufdeckung und damit zusammenhängend die Prävention alles. Darauf kommt es an.“

Aus Recherche-Gründen hat der Verein vor einigen Jahren das Fakeprofil eines elfjährigen Mädchens angelegt und gewartet, was passiert. In kürzester Zeit waren hunderte Männer bereit, alles Undenkbare mit dem Mädchen anzustellen. Ganz normale Bürger aus Vorarlberg. Hunderte. Nichts davon könnte vor Gericht geltend gemacht werden, aber eine erschreckende Bilanz war es selbst für die hartgesottenen Frauen vom Verein Schmetterlinge. Dieser kämpft seit Anbeginn ums Überleben. Die marginale Förderung für Selbsthilfegruppen deckt nicht einmal minimale Nebenkosten, es gibt keine Förderstelle, die die Dringlichkeit und Ausmaße dieses Problems auch nur im Ansatz erfassen würde, von Unterstützung gar nicht zu reden. Der Verein ist seit seiner Gründung vor 13 Jahren aus rein privaten Spenden finanziert und daher ist die finanzielle Situation dauerhaft angespannt. Dabei kann sich die Erfolgsquote sehen lassen. Tausende begleitete Kinder und Jugendliche, kein einziger Selbstmord, zahlreiche inzwischen Erwachsene, die ihr frühes Trauma in ein geglücktes Leben verwandeln konnten. Mit vielen von ihnen hat Karin Kaufmann immer noch Kontakt. „Wir sind der einzige Verein dieser Art in ganz Österreich. Die Arbeit ist so schwer, dass niemand dafür kämpfen will. Wir haben jetzt eine Zweigstelle im Burgenland eröffnet, planen Aufklärungsvideos und andere Kampagnen. Corona ist natürlich ein Desaster, wir dürfen ausgerechnet jetzt keine Beratungen anbieten. Der Bedarf ist aber unter dem Lockdown gestiegen, ich bekomme so viele verzweifelte Anrufe wie nie. Unsere Kassa ist leer, weil wir unsere eigenen Projekte wie beispielsweise den Secondhand-Laden nicht öffnen können. Wir suchen jetzt 500 Menschen, die je 5 Euro im Monat spenden – damit wären wir gerettet,“ sagt Karin Kaufmann und verweist noch einmal darauf, dass sie nur für betroffene Kinder und Jugendliche zuständig ist – und schon für diese sind ihre Kapazitäten an der Grenze des Machbaren. Wenn sie dann wieder öffnen dürfen.

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