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Meine Heimat auf 1675 Metern

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Der Heimatbegriff ist bekanntermaßen ein schwammiges, dehnbares Konstrukt. Viel zu oft missbraucht findet er dennoch ständig Gebrauch. Verführerisch und grotesk erscheint er uns zugleich, als Quelle und Ziel, als Fokus und Tabu. ‚Heimat’, Eigenart der deutschen Sprache, zweisilbiger Begriff mit einer Strahlkraft wie kein anderer, er bewahrt seine Intensität über die Epochen hinweg. Wie eine schwarze Sonne überstrahlt er all die Unschuld, Redegewandtheit, Coolness, mit der wir ihm begegnen wollen. Selbst der Gelassenste unter uns weiß: Ohne Heimatverwurzelung hätten wir Sesshaft-Gewordenen es schwer, und dennoch wären wir besser dran, wenn wir sie nicht brauchen und stattdessen nomadisch irgendwo und nirgendwo zuhause sein würden. Per Zufall sind wir in irgendeine Kultur und Tradition hineingeboren, wahllos ist uns eine Heimat gegeben. Bald wollen wir sie nicht mehr hergeben. Unsere Sprache steht damit, wie sie mit allem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl verknüpft ist, eng in Verbindung. Muttersprache, Dialekt, Regiolekt haben wir uns von klein auf über die Umwelt angeeignet. Bald verwechseln wir die Bequemlichkeit der Kommunikation mit ‚Heimat‘. Sie schlägt uns auf den Gaumen und wir schmecken, riechen sie aus altbekannten, erst durch hartnäckige Wiederholung liebgewonnen Speisen heraus. Wir legen die Gesellschaft bestimmter Menschen, an die wir uns erst gewöhnen mussten, als heimatliche Nähe aus, obgleich wir mit anderen genausogut zurechtkommen würden. Segen und Fluch, Glück und Schmerz ist die eingeimpfte Heimat. War sie eine Weile lang ein Gefühl der Wärme und harmlose Sehnsucht nach Geborgenheit, wird sie gar bald Mittel der Abgrenzung anderen gegenüber. Zuerst eine Wiege, dann Besitztum, das vor dem Zugriff anderer geschützt sein will.

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Ich bin nun mal Tiroler und als solcher geneigt dazu, die Heimat geologisch zu definieren. Wo mich Berge umringen und die Sonne hinter Gipfeln auf- und untergeht, stellt sich für mich Vertrautheit ein. Von Kindheit an hatte ich auf karges Felsland mit steilen Abhängen zu starren und lernte, eine Schönheit hinein zu interpretieren. Bald aber wollte ich mich von diesem Würgegriff des Schönen befreien. Ich zog aus und habe seither in vielen Städten und auf Kontinenten der Welt gelebt, in denen ich glücklicher als in Innsbruck war. Ich wollte mein Leben lang alles sein, bloß kein Tiroler. Und doch bin ich es. Heute sitze ich in unserem Berghaus, eine halbe Stunde von Innsbruck entfernt, und betrachte den Gilfert und daneben, ein wenig tiefer gelegen, den Graukopf. Wolkenfetzen umspielen ihre Gesteinsglatzen, hin und wieder geben sie den Blick auf ein Gipfelkreuz frei, meist aber verhüllen sie die Bergspitzen. Unterhalb der Gipfelwolken sind die Berge mit matschigem Grün und Brauntönen überzogen, Reste alten Schnees kleben in Mulden, Felshänge, Gebirgswiesen, Fichtenwälder

Meine Heimat auf 1675 m Text: Hans Platzgumer, Fotos: Thomas Dür

fallen ins Tal, Adler kreisen an diesen schattierten Gesteinswänden, die sich derart in der Landschaft manifestiert haben, dass alle Kriege der Menschheit ihnen nichts anhaben konnten.

Solche Gebirgskämme entzücken mich, aber sie versperren mir auch die Sicht, ohne sie könnte ich doppelt, dreimal so weit sehen, mein Horizont wäre gedehnt wie jener einer Küstenlandschaft. Schon als Kind wollte ich wie alle Kinder, die ich kannte, die Berge nur deshalb erklimmen, damit ich auf der anderen Seite hinuntersehen konnte. Dort würde alles besser sein, mutmaßte ich. Gebirge sind Hindernisse auf dem Weg hinaus. Sie machen das Land, das ihnen zu Füßen liegt, zum Kerker.

Zum Glück gibt es Überbrückungsorte, Verbindungsglieder, wo diese erbarmungslosen Grenzwälle plötzlich Erbarmen zeigen und Unterbrechungen offerieren, Bergpässe, Übergänge, die wie ein Trichter den Fluchtbereiten in die Weite führen. Zu diesen Markierungen fühle ich mich hingezogen. Ich blicke durch das Fenster unseres Berghauses, meine Augen folgen dem Verlauf des Bergrückens vom Gilfert, Graukopf zum großen und kleinen Gamsstein entlang des ‚Adlerwegs‘ hinunter. Am tiefsten Punkt, bevor der Weg sich erneut erhebt und zum benachbarten Kuhmesser hochführt, gibt der Bergkamm den Übergang frei und führt aus dem Tal und meiner kleinen Welt hinaus. Ich kann diesen Punkt von meinem Haus aus nicht sehen, weil sich ein bewaldeter Hang dazwischen schiebt. Doch ich weiß: der Übergang existiert. Das zu wissen, genügt mir. Über den Loassattel (so heißt dieser Pass, der meinen Blicken verborgen bleibt) führt eine Schotterstraße hinüber ins nächste Tal, von dort weiter ins Zillertal und irgendwann führt der Weg ganz hinaus aus den Bergen. Dieses Wissen tröstet. Ich bin nicht eingesperrt hinter Wänden, nein, die Wände haben Durchlässe. Dank dieses Sattels darf ich den Berg als offenes Gebilde verstehen, als Region, die mir und dem Rest der Welt die Türen in Form von Pässen öffnet. Frei betretbar und austretbar wird das Bergland für jedes Lebewesen, das dieses Weges kommen mag. Fluchtweg in die eine wie andere Richtung, eine offene Tür in einer immer enger werdenden Welt ist der Bergpass und als solcher meine Heimat. Der Loassattel, ich nenne ihn Heimat. Er ist der Ort, an dem ich eines Tages vielleicht sterben will. Vielleicht ist das die adäquateste Definition von Heimat: nicht der Ort, wo man das Leben beginnt, sondern jener, wo man es zu beenden gedenkt.

Inzwischen ist der Loassattel wie jeder Alpenfleck vom Massentourismus eingeholt, zwei Großparkplätze, zwei Gasthäuser haben ihn entstellt, jedes Jahr wird die Bergstraße weiter ausgebaut, die nun fast bis zu seinem Scheitelpunkt führt. Mit dem Loassattel meiner Kindheit, über den wir uns beschwerlich hinüber ins nächste Tal zu mühen hatten, hat die heutige Loas kaum noch zu tun. Sie ist ein zurechtgestutztes Souvenir ihrer Vergangenheit. Es schmerzt mich, wenn lärmende Reisegruppen auf den Sattel hochziehen, und weil ich ihnen aus dem Weg gehen will, wandere ich praktisch nie mehr über diesen Pass. Doch gerade das macht ihn mir umso tauglicher als Heimat-Anker. Denn jede Heimat wird erst wahrlich Heimat und doppelt wertvoll, wenn sie verloren ist. Der Verlust gibt ihr die mythische Größe. Wir glorifizieren sie, wenn wir uns nach ihr sehnen. Ist sie täglich verfügbar, rutscht sie in die Bedeutungslosigkeit. Ich kann den Loassattel von meinem Haus aus nicht sehen, aber ich weiß, er ist da. Ich betrete ihn nicht, weil zuviele ihn heute betreten. Ich meide ihn, aber empfinde ihn als Heimat. Ich halte ihn in meiner Erinnerung als das fest, was er einst gewesen ist: der schönste Bergübergang aller Alpen, mein Loassattel.

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