marie 57/ Februar 2021

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Mittendrin in V

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er Heimatbegriff ist bekanntermaßen ein schwammiges, dehnbares Konstrukt. Viel zu oft missbraucht findet er dennoch ständig Gebrauch. Verführerisch und grotesk erscheint er uns zugleich, als Quelle und Ziel, als Fokus und Tabu. ‚Heimat’, Eigenart der deutschen Sprache, zweisilbiger Begriff mit einer Strahlkraft wie kein anderer, er bewahrt seine Intensität über die Epochen hinweg. Wie eine schwarze Sonne überstrahlt er all die Unschuld, Redegewandtheit, Coolness, mit der wir ihm begegnen wollen. Selbst der Gelassenste unter uns weiß: Ohne Heimatverwurzelung hätten wir Sesshaft-Gewordenen es schwer, und dennoch wären wir besser dran, wenn wir sie nicht brauchen und stattdessen nomadisch irgendwo und nirgendwo zuhause sein würden. Per Zufall sind wir in irgendeine Kultur und Tradition hineingeboren, wahllos ist uns eine Heimat gegeben. Bald wollen wir sie nicht mehr hergeben. Unsere Sprache steht damit, wie sie mit allem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl verknüpft ist, eng in Verbindung. Muttersprache, Dialekt, Regiolekt haben wir uns von klein auf über die Umwelt angeeignet. Bald verwechseln wir die Bequemlichkeit der Kommunika-

tion mit ‚Heimat‘. Sie schlägt uns auf den Gaumen und wir schmecken, riechen sie aus altbekannten, erst durch hartnäckige Wiederholung liebgewonnen Speisen heraus. Wir legen die Gesellschaft bestimmter Menschen, an die wir uns erst gewöhnen mussten, als heimatliche Nähe aus, obgleich wir mit anderen genausogut zurechtkommen würden. Segen und Fluch, Glück und Schmerz ist die eingeimpfte Heimat. War sie eine Weile lang ein Gefühl der Wärme und harmlose Sehnsucht nach Geborgenheit, wird sie gar bald Mittel der Abgrenzung anderen gegenüber. Zuerst eine Wiege, dann Besitztum, das vor dem Zugriff anderer geschützt sein will. Ich bin nun mal Tiroler und als solcher geneigt dazu, die Heimat geologisch zu definieren. Wo mich Berge umringen und die Sonne hinter Gipfeln auf- und untergeht, stellt sich für mich Vertrautheit ein. Von Kindheit an hatte ich auf karges Felsland mit steilen Abhängen zu starren und lernte, eine Schönheit hinein zu interpretieren. Bald aber wollte ich mich von diesem Würgegriff des Schönen befreien. Ich zog aus und habe seither in vielen Städten und auf Kontinenten der Welt gelebt, in denen ich glücklicher als in Innsbruck war. Ich wollte mein Leben lang alles sein, bloß kein Tiroler. Und doch bin ich es. Heute sitze ich in unserem Berghaus, eine halbe Stunde von Innsbruck entfernt, und betrachte den Gilfert und daneben, ein wenig tiefer gelegen, den Graukopf. Wolkenfetzen umspielen ihre Gesteinsglatzen, hin und wieder geben sie den Blick auf ein Gipfelkreuz frei, meist aber verhüllen sie die Bergspitzen. Unterhalb der Gipfelwolken sind die Berge mit matschigem Grün und Brauntönen überzogen, Reste alten Schnees kleben in Mulden, Felshänge, Gebirgswiesen, Fichtenwälder

Meine Heimat

1675 m

auf

Text: Hans Platzgumer, Fotos: Thomas Dür


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