marie 56/ Jänner 2021

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International

Von Mund zu Mund Geschichten verbreiten sich wie Viren und prägen unser Verhalten. Nun wollen Forscher*innen aus Epidemien lernen, um soziale Krisen vorauszusehen. Text: Andres Eberhard, Foto: Masum Ali/Pixabay

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Geschichten werden erzählt, seit es Menschen gibt. Neu ist, dass sie sich schneller und unkontrollierter verbreiten als je zuvor.

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as wird über die Coronakrise dereinst in unseren Geschichtsbüchern stehen? Vielleicht: „Die Pandemie war die Kehrseite der starken Globalisierung.“ Oder: „Das neue Virus beschleunigte die Digitalisierung.“ Auch als Weckruf für solidarische Werte in einer individualisierten Gesellschaft oder als Zerreißprobe für moderne Demokratien könnte Covid-19 in Zukunft gelten. Ein bisschen Wahrheit steckt vermutlich in jeder dieser Erzählungen. Dennoch werden wir uns in hundert Jahren kaum an alle erinnern. Die eine oder andere Geschichte wird sich durchsetzen, wir werden unsere Lehren daraus ziehen, woraufhin Historiker*innen die Dinge so aussehen lassen werden, als wären sie unvermeidbar gewesen. Wir neigen dazu, Ereignisse in runde, stimmige Geschichten zu packen, die weitererzählt und damit nicht vergessen werden. Solche Narrative prägen unser Denken. Dass die Realität komplexer ist, geht vergessen. Was war noch einmal der Grund für die Ausbreitung der Pest? Ach ja, fehlende Hygiene. Aids? Freie Liebe ohne Schutz. „Menschen sind ein Geschichten erzählendes Tier“, sagt der Philosoph Alasdair MacIntyre. Tatsächlich wird und wurde schon immer auf der ganzen Welt erzählt, in jeder Kultur, jedem Milieu, jedem Alter. Anthropolog*innen schlagen vor, unsere Spezies von Homo sapiens (der weise Mensch) in „Homo narrans“ (der erzählende Mensch) umzubenennen. Und Neurowissenschaftler*innen sehen in unserem Hang zum Geschichtenerzählen den Grund dafür, warum wir nachts träumen. Schließlich erscheinen uns im Schlaf nicht Gleichungen oder geometrische Figuren, sondern Narrative: Menschen, Orte und Ereignisse. Geschichten werden erzählt, seit es Menschen gibt. Neu ist, dass sie sich schneller und unkontrollierter verbrei-

ten als je zuvor. Über soziale Medien gehen Storys „viral“. Das ist für Leute aus der Werbung interessant, aber auch für Politiker*innen. Diese versuchen mithilfe von Narrativen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. In der Coronakrise waren das etwa Versuche, das Virus als „kleine Grippe“ kleinzureden, es als „chinesischen Virus“ zu verunglimpfen oder den eigenen heroischen Kampf gegen den unsichtbaren Feind in den Vordergrund zu rücken: Tests statt Tote. Geschichten sind ein mächtiges Instrument. Wie sehr sie unser Verhalten beeinflussen – also wie wir aufgrund von Narrativen entscheiden, wie wir abstimmen, investieren oder unseren Beruf wählen –, ist noch nicht restlos untersucht. Denn Narrative existieren oft bloß im „Hörensagen“ und sind nur schwer mit Zahlen und Statistiken festzumachen. Sie wurden deswegen bislang fast ausschließlich von der Geisteswissenschaft analysiert – von Historiker*innen etwa oder von Literaturwissenschaftler*innen. Das ändert sich gerade. Der Ökonom und Nobelpreisträger Robert Shiller vergleicht in seinem neuen Buch „Narrative Economics“ die Verbreitung von Geschichten mit jener von Epidemien. Erzählungen würden „mutieren“, also sich verändern. Als Beispiel für ein Narrativ mit mehreren „Ansteckungswellen“ nennt Shiller jenes der intelligenten Maschinen, die alles übernehmen. Diese Erzählung existiert schon seit der Antike. Unseren Vorfahren bereiteten Erfindungen Kummer, die mit Wasser, Wind, Dampf oder Pferden angetrieben wurden. Im 20. Jahrhundert herrschte Angst vor den Produktionsmaschinen der Industrie: Diese könnten die Arbeiter*innen in den Fabriken überflüssig machen. Heute lebt das Narrativ im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz wieder auf. Shiller glaubt, dass Finanzkrisen und generell wirtschaftliche Entwick-


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