Stufenfahrten
Jüdisches Museum in Berlin – eine unvergessliche Erfahrung von Esat Kaan Dinc
W
as wir gleich am Dienstagmittag mitmachen mussten, war gewaltig. Wir wären unaufrichtig gegen uns selbst, würden wir es nicht mit dem Wort ‘gewaltig’ ausdrücken, denn an jenem Dienstagmittag hat man uns der deutsch-jüdischen Vergangenheit und deren einmaliger Grässlichkeit überantwortet. Und noch ehe man den Gleichgültigen spielen konnte, ist man zur Reflexion dessen, was sich ganz bösartig als Unmenschlichkeit des Jahrhunderts in die deutsche Geschichte eingeschlichen hat, verurteilt worden. Ja. Das jüdische Museum in Berlin-Kreuzberg war kein leicht zu schluckender Happen, sondern einer, der allen zunächst ganz unbeschwerlich die Kehle hinuntergerutscht ist und uns urplötzlich aber zu einem großen, dicken Kloß im Hals geworden ist. Eine Erfahrung, die in ihrer Heftigkeit alles Bisherige an jenem Mittag überstieg, war der sogenannte Memory Void, einer der symbolischen Leerräume im Libeskind-Bau (das aus Titanzink gebaute, neue der beiden Museumsgebäude). Im Memory Void befindlich: die Installation “Schalechet” (Hebräisch für gefallenes Laub), über 10.000 Gesichter mit aufgerissenen Mündern, aus schweren, runden Eisenplatten geschnitten, bedecken den Boden des Voids im Erdgeschoss. Es ist schwierig, Formulierbares aus dem Wahrgenommenen abzuleiten, ohne dabei in den Verdacht der Verharmlosung oder deskriptiven Versachlichung zu geraten. Doch einen Versuch wird man wohl oder übel wagen müssen: Die Gesichter und die ihnen ansehbare abrupte Verstummung als Ausdruck der Unmittelbarkeit des Schreckens, der über die Opfer von Krieg jeglicher Art hereingebrochen sein muss. Zynisch wird es, wenn man genau über diese Gesichter trampeln muss. Doch das sei auch irgendwie Sinn der Sache, ist uns mitgeteilt worden. Insgesamt eine Erfahrung, die sich in unser aller Gedächtnis niedergelegt hat, ohne jemals ausdringen zu können.
Jüdisches-Museum Foto: Cornelia Kopitzki 16 Leonarda 1/2022