Hausarzt 10/2021

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Hausarzt medizinisch

Stress – eine reine Kopfsache? Autor: Dr. Wolf-Dieter Nagl Arzt für Allgemeinmedizin, psychosomatische Medizin und Hypnose in Mödling und Linz

Foto: © shutterstock.com/ ra2 studio

Die Schulung des Geistes

Stress ist in unserem Leben allgegenwärtig und die Wissenschaft bestätigt, dass Distress, also negativer Stress, die Gesundheit gefährdet und das Immunsystem aus der Balance bringt. Spannend sind aus medizinischer Sicht hier vor allem die unterschiedlichen Auswirkungen von akutem bzw. chronischem Stress auf das Immunsystem. Denn akute bis mittelfristig andauernde Stresssituationen regulieren das angeborene Immunsystem herunter – eine verminderte Abwehrleistung in Bezug auf Viren und eine Verzögerung der Wundheilung sind die Folgen. Die gleichzeitig stattfindende Überaktivierung des erworbenen Immunsystems führt dabei zu einer Verstärkung von Krankheiten mit allergischer Komponente, was sich beispielsweise durch vermehrte Neurodermitisschübe oder Asthmaanfälle unter akutem Stress äußert. Im Gegensatz dazu lässt ein chronisch stark erhöhter Stresslevel, der über viele Monate oder gar Jahre besteht, das Immunsystem in die Gegenrichtung kippen – was eine Überaktivierung der angeborenen Immunzellreihen bedeutet. Daraus entsteht eine sogenannte „Silent Inflammation“, eine stille chronische Entzündung, welche die Entwicklung vieler Volkskrankheiten – etwa der Arteriosklerose, aber auch der rheumatoiden Arthritis –

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Oktober 2021

begünstigt. Doch woher kommt all der Stress und wie lässt sich diesem effektiv beikommen?

Externer versus interner Stress Zunächst kann zwischen externen und internen Stressfaktoren unterschieden werden. Zu den externen Stressquellen zählen neben privaten Belastungen, zwischenmenschlichen Konflikten und beruflichen Herausforderungen – wie Arbeitsverdichtung und Zeitknappheit – auch die ständige Informationsflut über Smartphones und soziale Netzwerke. Neben den genannten externen Stressfaktoren wirken die internen Stressoren etwa in Form von negativen Gedankenspiralen, Sorgen und Ängsten auf uns ein. Letztlich führt jedoch jede externe Stressquelle durch die Art und Weise, wie wir über sie denken und sie bewerten, zu internem Stress. Viele der uns bekannten Stressquellen lassen sich nicht ohne Weiteres aus der Welt schaffen, aber wie mit ihnen umgegangen wird, lässt sich definitiv verändern. Als Ärzte können wir unseren Patienten wissenschaftlich gut untersuchte Methoden empfehlen, die nachweislich dabei helfen, Stress in Körper und Geist zu reduzieren. Meditation ist eine davon.

Der Geist birgt ein weitaus größeres Heilungs- und Regenerationspotenzial, als wir üblicherweise nutzen. Neurowissenschaftliche Untersuchungen zu Meditation zeigen, dass sich die Gehirnaktivität durch ein Training der Aufmerksamkeit verändert und sich die Reaktionen auf Stress dadurch deutlich verbessern lassen. Meditation bedeutet, die Aufmerksamkeit gezielt auf eine Sache – beispielsweise die Atmung – zu richten und zu versuchen, sie dort zu halten. Dabei wird im Frontallappen vor allem der linke präfrontale Kortex aktiviert, der uns dabei hilft, Emotionen und Gedanken besser zu kontrollieren und das Gedankenkarussell zu entschleunigen. Die erhöhte Aktivität dieser Gehirnregion geht nachweislich mit einer positiveren Lebenseinstellung einher und verringert die Aktivität der Amygdala. Die Amygdala, oft etwas vereinfacht als das „Angstzentrum“ bezeichnet, spielt bei der Stressreaktion eine entscheidende Rolle – denn sie ist das „biologische Radar“ für Gefahren X HAUSARZT-Buchtipp Denke, was dein Herz fühlt Von Wolf-Dieter Nagl Kneipp Verlag Wien 2021

Foto: © Achtsamkeits-Akademie Wien

Meditative Atemübungen helfen, das Gedankenkarussell zu entschleunigen


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