Campus38 Magazin - Das junge Magazin aus der Ostfalia | no. 6

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Das junge Magazin aus der Ostfalia

Die Anderen und Ich

Mama, wo bist du?

Kalte Suppe auf dem Balkon

Ode an den Sommer

Die verlorene Zeit

CAMPUS 38 no.6

Liebe Lese r*innen,

was sich vor knapp drei Monaten noch ganz weit weg angefühlt hat, halten Sie genau jetzt in Ihren Händen: die 6. Ausgabe des Campus38Magazins. Lange Nächte, intensive Redaktionssitzungen und zusätzliche Campus-Besuche haben sich schlussendlich gelohnt und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Und wenn Sie wüssten, wie es sich anfühlt, … noch eine Woche vor Druck einen Kühlschrank aus dem AStAGebäude ein paar hundert Meter bergauf und -ab ins Fotostudio auf dem Campus zu bugsieren, um das perfekte Titelbild zu knipsen.

… noch 48 Stunden vor Abgabe diese Zeilen und ein Inhaltsverzeichnis entstehen zu lassen.

… noch in der letzten Sitzung der Artdirektion finale Änderungen zu treffen und eine letzte Nachtschicht einzuschieben, dann können

Sie hoffentlich nachvollziehen, wie stolz wir gerade auf uns sind. In dieser Ausgabe Campus38 wird Kritik geübt und hinterfragt. Mal humorvoll und augenzwinkernd, mal ganz ernst.

Unsere Artikel spiegeln Themen wider, welche uns und unsere Generation beschäftigen. Sie laden ein, unseren Blick, unsere Perspektive, unseren Standpunkt einzunehmen und vielleicht auch zu verstehen.

Eben Denkanstöße geben, Identifikationsfiguren schaffen, Meinungen bilden. Aber was ist schon ein Magazin ohne ansprechendes Layout?

Ein großes Dankeschön an unsere Artdirektion Dilara Selle und Marie Juchems für das Gestalten des Magazins und die tolle Zusammenarbeit.

Ein weiteres ebenso großes Dankeschön an Professor Dr. Marc-Christian Ollrog und Professor Klaus Neuburg, den Fotografen Helge Krückeberg, Jens Martens und alle weiteren Lehrenden, welche uns bei der Umsetzung dieses Projekts begleitet und unterstützt haben.

Werfen Sie einen Blick in unseren Studierendenkühlschrank und bedienen Sie sich. Finden Sie heraus, was es mit Miniaturkühen auf Discounterfleisch (S. 49), der Mischung aus Ingwer und Zitrone (S. 8), sowie Brotboxen mit Fruchtzwergen (S. 20) auf sich hat.

Die Chefredaktion

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Inhalt Schulsystemreform Ungleichheiten im Bildungssystem Zukunftsmodell künstliche Kreativität Klaut uns die KI die Jobs? Sag jetzt bloß nichts Das Interview ohne Worte Faszination Trash-TV Menschenverachtende Unterhaltung Das Kartenhaus droht zusammenzubrechen Pflege am Abgrund Ode 2/4 An das Klopapier Zoo? Nein, danke! Sechs Gründe, nicht mehr hinzugehen Die Anderen und Ich Bahriyes Geschichte Vintage Revival Designer für alle Ode 1/4 An den Sommer Princess Culture Der Weg zur Heldin Kalte Suppe auf dem Balkon Selbstversuch einer Morgenroutine Die Beteiligten Die Gesichter hinter dem Magazin 6 8 12 13 14 18 20 28 30 33 34 42 36 4

Chill mal, Puppe!

Die Realität Catcalling

Mama, wo bist du?

Massentierhaltung als Standard

Du bist kein Gewinner

Ruiniert durch Fußballwetten

Gesichtsgitter und Hörsaal

Der Touchdown-Bachelor

Das Schweinehündchen

Und wie man es überwinden kann

Verbrecher in Rente

Die Sucht nach dem Unmoralischen

Kalter Entzug?

Süchtig nach Social Media

Leinwand Haut

Ein Tag mit einem Tätowierer

Ode 3/4

An die Ruhe

Die verlorene Zeit

Leg das Handy weg!

Wohnzimmer Vibe

Partykultur neu gedacht

Hinter den Kulissen

Campus38 - behind the scenes

Impressum

Ode 4/4

An das Gefühl

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73 74 78 81 82 5
49 50 54 57 58 62 64 72

Die Beteiligten

Diese Köpfe stecken hinter der sechsten Ausgabe von Campus38. Studierende, Dozent*innen, Externe: Alle haben viel Herzblut investiert und dieses besondere Magazin produziert.

Antonia Slupa Lasse Büttner Melanie Walther Felix Warsawa Benedict Carli Ava Noeske Dilara Selle Marie Juchems Lena Kurz Maurice Stolka Lara-Malin Blazek Marcel Richter Dahlia Dziggel Eileen Wienhold Maximilian Kühn Pia Kellner
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Nicht abgebildet sind:

Prof. Klaus Neuburg

Marcel Franze

Megan Hanisch

Dr. Jochen Schlevoigt

Rohila Ziai-Nouri

Sophie Junghans

Paul Krüger

Jan Ollmann

Gina Göttling

Leonie Winger

Neele Kühn

Larissa Schuldt

Vanessa Adam

Liza Löfstedt Nicolas Even Melina Seebörger Helge Krückeberg Ilayda Kirisci Jens Martens Sina Ewert Joost Nölken Rabea Gard Leonie Gutsche Lennard Burghardt Andrea Hanke Jason Antonio Luba Boger Tosha Rana Hausmann Michelle Langlotz Lucy Bense
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Sarah Schlösser Marc-Christian Ollrog

Kalte Suppe auf dem Balkon

Ein Neujahresvorsatz der besonderen Art: Zum Jahreswechsel habe ich, aus einer Sinnkrise heraus, eine sogenannte Morgenroutine ausprobiert und meine Erfahrungen im folgenden Artikel ehrlich und humorvoll verarbeitet.

Ich weiß ja nicht, welche Videos dir auf deiner persönlichen YouTube-Startseite vorgeschlagen werden. Aber bei mir und vielen anderen jungen, männlichen Erwachsenen sind dort haufenweise Videos des Themenbereichs Selbstverbesserung zu finden. Wie kann ich schwerere Gewichte heben? Wie habe ich mehr Erfolg im Berufsleben? Wie kann ich meinen Schlaf optimieren?

In einer leistungsorientierten Gesellschaft, die von Oberflächlichkeiten, einem ausgeprägten Mitteilungsbedürfnis und der altbekannten „Fake it till you make it“-Mentalität geprägt ist, macht das Sinn – gecatcht hat mich diese Thematik jedoch nie wirklich. Zwar treibe ich regelmäßig Sport und bin gesund, die krankhafte Faszination, die beste Version von sich selbst zu sein, war aber nie mein Bier. Vielleicht bin ich zu faul, vielleicht bin ich auch einfach zufrieden mit mir selbst.

Ende 2022 war das nicht der Fall. Ein Jahr geprägt von persönlichen Schicksalsschlägen lag hinter mir und hinterließ mich in keiner guten Verfassung. Als ich gegen Jahresende deprimiert auf meinem Sofa lag und einen weiteren Abend mit geliefertem indischem Essen als einzigem Begleiter verbrachte, packte mich der Gedanke nun doch. Ich muss mich

Text • Benedict Carli
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ändern – so kann es nicht weitergehen. Und plötzlich erschienen mir die Männer, die auf den Vorschaubildern mit perfekt austrainiertem Körper neben einem Brokkoli posierten, wie Freunde. Oder eher gesagt wie Mentoren. Ich fühlte mich wie ein junger Padawan, obwohl ich eingewickelt in meiner Decke optisch eher Yoda ähnelte. Nach dem ersten Video vom renommierten amerikanischen Neurowissenschaftler Andrew Huberman war ich im Rabbit Hole. Welche Nahrungsergänzungsmittel verhelfen mir zu bester Denkfähigkeit? Soll ich mich ketogen oder vegan ernähren? Und warum sind Kältekammern für zuhause so verdammt teuer?

Nachdem ich zwei Stunden YouTube-Videos verschiedenster Content Creator konsumiert und sich meine Euphorie wieder auf ein normales Maß reduziert hatte, war ich bereit, einen Entschluss zu fassen: Ab Jahreswechsel habe ich jeden Morgen einen gleichbleibenden Ablauf. Eine sogenannte Morgenroutine. Der Neurowissenschaftler Andrew Huberman ist großer Fan dieser Prozedur.

Der 48-jährige Amerikaner, der eher den Eindruck eines gut trainierten 35-Jährigen macht, ist Professor an der Stanford University. Internationale Bekanntheit erlangte er durch seinen 2021 entstandenen Podcast Huberman Lab, in welchem er sein Knowhow nutzt, um jedes ach so kleine Detail typischer Baustellen des menschlichen Alltags zu optimieren. Testosteron-Mangel? Müdigkeit? Depression? Unkonzentriertheit? Für all diese Probleme hat Huberman Lösungsvorschläge, die auf (teils experimentellen) neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Sie rangieren immer irgendwo zwischen konkreten, einfach umzusetzenden – gar banal wirkenden – Handlungsempfehlungen und tiefergreifenden Veränderungen des Lebensstils. Sie sind stets gewürzt mit einer Prise pflanzlicher Nahrungsergänzungsmitteln, Mineralien und Vitaminen, von denen Huberman ein großer Fan ist.

Voller Motivation entschloss

ich mich also, eine solche Routine aus dem Video eines Bloggers zu übernehmen. Und die hatte es in sich – zumindest für jemanden, dessen erste Anlaufstelle nach dem Aufwachen bis dato die Tinder-App gewesen ist. Sie läuft wie folgt ab:

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Sofort aufstehen und Bett machen

Ein Glas Salzwasser auf dem Balkon trinken

Dabei meinen Tagebucheintrag verfassen sowie eine grobe Tagesplanung aufstellen

100 Liegestütze

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Anschließende Ganzkörperdehnung

Kalt duschen

Einnahme meiner Supplements – Vitamin D, Omega 3, B-Vitamine + Ginseng, Kreatin und Magnesium

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Nachdem ich einen angenehmen Silvesterabend in der Heimat verbracht hatte, hieß es für mich schon am ersten Tag des neuen Jahres: volles Programm nach dem Aufstehen. Hierbei sei angemerkt: Leicht verkatert macht das Ganze besonders viel Spaß. Wie auch immer: keine Zeit für Selbstmitleid!

So stand ich also tatsächlich auf und machte mein Bett. Yes, Erfolg. New year, new me. Als ich bei klirrender Kälte und leichtem Nieselregen mit meinem Tagebuch unterm Arm den Balkon betrete und mein Blick nach unten in mein Glas Salzwasser fällt, fühle ich mich wie ein Idiot. Egal. Ich rühre noch einmal um und setze an. Und siehe da: Eigentlich halb so wild – schmeckt ein wenig wie kalte Suppe. Ich nehme Platz und fange an, meine beiden schriftlichen Aufgaben in Angriff zu nehmen. Für heute steht eigentlich nur Lernen an, es ist Feiertag und in sechs Tagen erwartet mich meine Medienrecht-Klausur.

Im Tagebuch muss ich drei Dinge notieren, für die ich dankbar bin, und wie ich den heutigen Tag besser als den gestrigen gestalten möchte. Diese pseudo-philosophischen Fragen beantworte ich eher schlecht als recht und gehe leicht unterkühlt zurück in die Wohnung, um mit meinem Programm fortzufahren. Die 100 Liegestütze arbeite ich in vier Sätzen ab, im Hintergrund ertönt Scooter. Langsam fühle ich den Wach-Effekt. Ob es sich hierbei nicht nur um den nachlassenden Kater handelt, ist unklar. Das Dehnprogramm besteht aus ziemlich grundlegenden Übungen, kein Yoga für Fortgeschrittene. Ins Schwitzen bringt es mich dennoch.

Nachdem ich auch diese Aufgabe vollbracht habe und mich über meine durchaus verbesserte Mobilität freue, steht nun das gruseligste Kapitel vor mir: die eiskalte Dusche. Für einen notorischen Warmduscher wie mich eine große Herausforderung. Ich betrete meine Duschkabine und drehe den Hahn bis zum Anschlag nach rechts. Das Wasser strömt aus dem Hahn und während ich nackig in der Ecke stehe, überlege ich, ob ich meinen Körper wirklich unter diesen eisigen Strahl bewege. Nachdem ich mich nach fast zwei Minuten dazu entschließe, nicht schon am ersten Tag aufzugeben und unter das Wasser stelle, zucke ich zusammen und gebe ein unkontrolliertes Geräusch von mir, was sich irgendwo zwischen erregtem Stöhnen und angeschossenem Elch einordnen lässt. Meine Augen springen auf, ich

kriege Schnappatmung – aber verdammte Scheiße: Ich bin wach!

Im Spiegel betrachte ich meinen Körper, der durch das eiskalte Wasser mit blau-roten Flecken übersät ist. Um ehrlich zu sein: Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal innerhalb der Stunde nach dem Wachwerden so aktiv war. Homeoffice und OnlineVorlesungen gepaart mit Herzschmerz haben mir eine Grube gegraben, in der ich es mir äußerst gemütlich gemacht habe. Und die Wachrufe der Realität gerne mal verschlafen habe. Ich gehe in die Küche und nehme meine Nahrungsergänzungsmittel zu mir. Entweder bin ich absolut verrückt geworden, oder ich kann die durch sie dazugewonnene Vitalität wirklich sofort spüren. Beginnt jetzt ein neues Kapitel meines Lebens?

Im weiteren Verlauf der Woche ähneln sich die Abläufe nach dem Aufstehen. Wach werden, meinen Tag planen, kalte Suppe auf dem Balkon, kaltes Wasser auf den Rücken und so weiter. Doch wie sieht der restliche Ablauf meines Tages aus? Vielleicht konnte man es schon herauslesen, doch ich formuliere es der Einfachheit halber mal klipp und klar: Ich neige in der Regel dazu, zu prokrastinieren. Verpflichtungen und große Aufgaben schiebe ich gerne so lange auf, bis ein gefährlicher Mix aus Zeitdruck und Versagensangst entsteht. Vielleicht liebe ich den Nervenkitzel, doch wahrscheinlicher ist eher, dass ich ein Idiot bin.

Und gerade befinde ich mich in einer Zeit, die bei vielen meiner Leidensgenossen zu ebenjenen Verhaltensweisen führt: Die Klausurenphase. Allein das Ausschreiben dieses Wortes löst in mir negative Emotionen aus und führt dazu, dass mein Gesichtsausdruck dem eines Kleinkinds ähnelt, das zum ersten Mal Rosenkohl probiert. Doch ich fühle mich für diese Herausforderung gewappneter als je zuvor.

Gerade die Planung meines bevorstehenden Tages und die Reflexion des vergangenen Tages sind unfassbar hilfreiche Instrumente. Zeit, die ich vorher in zielloses Scrollen meiner TikTok-Startseite inves-

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Langsam fühle ich den WachEffekt . Unklar, ob es sich nur um den nachlassenden Kater handelt

tiert habe, nutze ich jetzt effektiv für meine bevorstehenden Aufgaben. Weil ich es mir morgens vornehme und meinen Tag strukturiere. Auch die B-Vitamine scheinen zu wirken: Ich fühle mich konzentriert. Und was wohl alle meine Lehrer ab der sechsten Klasse in Staunen versetzen wird: Ich lerne diszipliniert und der Stoff bleibt hängen. Was ich früher nicht für möglich gehalten habe, ist nun Realität: Ich lerne am Tag vor einer anstehenden Klausur nicht. In der Vergangenheit wäre das nur schlecht möglich gewesen – weil ich an eben jenem Tag erst mit der Klausurvorbereitung angefangen hätte.

Fast Forward: Hinter mir liegen drei Klausuren in vier Tagen. Meine Routine habe ich auch an diesen mit äußerst viel Stress verbundenen Tagen durchgeführt, also praktisch mal unter realistischen Bedingungen getestet. Ich bin stolz auf mich, auch weil ich den Hochschulcampus jedes Mal mit einem guten Gefühl verlassen konnte. Doch plötzlich macht sich in mir ein altbekanntes, aber in letzter Zeit doch so fremdes Gefühl breit: Der Drang nach Freiheit. Nach einem Ausbruch aus der Routine. Ich habe das Semester hinter mir, jetzt kann ich es mir doch auch mal gut gehen lassen. Oder?

Und so glitt ich aus meiner Routine. Am ersten Samstag nach der Klausurenphase besuchte ich meine Lieblingsdiskothek und war erst um neun Uhr zuhause. Morgens, wohlgemerkt. Ziemlich konträr zu den auf die Optimierung der körperlichen und seelischen Gesundheit und Funktionalität fixierten Verhaltensweisen. Den neuen Tag zu planen ist auch nicht sonderlich sinnvoll, wenn der alte Tag noch nicht beendet ist. Und man wohl bis um 17 Uhr schlafen wird. Habe ich mich selbst betrogen?

Die Antwort ist ein klares Nein. Denn was wie der Spruch auf der Lieblingstasse deiner Mutter klingt, bewahrheitet sich immer wieder: Nobody is perfect. Wir können danach streben, uns selbst zu optimieren – die muskulöseste, produktivste, attraktivste, intelligenteste Version von uns selbst zu sein. Macht uns das aber wirklich glücklich? Wir sind keine Maschinen, sondern Wesen mit Makeln und Bedürfnissen, die nicht anhand von objektiven Maßstäben zu bewerten sind. Doch gleichzeitig sollte man nicht ohne Ziele durchs Leben gehen – auch nicht ohne solche persönlicher Natur. Ein bisschen Eitelkeit und Ambition tut jedem Menschen gut.

Außerdem ist diese Phase bei Weitem nicht ohne Spuren versandet. Die eiskalte Dusche am Morgen ist auch noch heute, weit nach diesem Experiment, mein treuer Begleiter und ich merke, wie viel strukturierter mein Tag ist, wenn ich ihn vorausplane. Habe ich mal schlecht geschlafen oder weiß, dass vor mir ein stressiger Tag liegt, helfen mir Supple-

ments dabei, durchzuhalten. Ich bin von der Wirkung der Morgenroutine überzeugt.

Doch es erfordert einiges an Disziplin, jeden Morgen diesen Katalog an Herausforderungen abzustottern. Wer seinem Leben und seinem Morgen mehr Struktur geben möchte, der ist herzlich eingeladen, diesen Ablauf auszuprobieren. Ich für meinen Teil habe gemerkt, dass ich einfach nicht die Muße besitze, es tagtäglich durchzuziehen. Doch ich glaube, gerade das ist natürlich – und auch richtig. Für mich soll das Leben Spaß machen. Ich will mich nicht zu Dingen zwingen müssen. Gleichzeitig möchte ich nicht nur wie ein hedonistischer Kloß auf dem Sofa liegen und mein Leben verschwenden. Dieses Experiment hat mir gezeigt: Das Gleichgewicht macht unser Leben aus.

Also liebe*r Leser*in, mach dich auf den Weg ins Fitnessstudio. Aber nur, wenn du dir selbst versprichst, das Spaghettieis auf deinem morgigen Date zu genießen. Das Leben ist ein Yin und Yang – Genuss und Schmerz, Entspannung und Herausforderung, Whirlpool und Eisbad.

Ich hoffe, du findest deine passende Mischung.

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Der Spruch auf der Lieblingstasse deiner Mutter bewahrheitet sich: Nobody is perfect .

Princess Culture

Der Prinz ist der Held in der Geschichte. Das hat das kleine Mädchen so gelernt. Aber kann sie auch ihre eigene Heldin sein, ohne Prinzen?

Sonntagmorgen, halb sieben. Alle im Haus schlafen. Nur das kleine Mädchen nicht. Es sitzt im Wohnzimmer vor dem Fernseher und hat die Cinderella-DVD gerade in den DVDPlayer geschoben. In eine rosa Kuscheldecke gewickelt, macht es sich auf dem Sofa bequem. Gebannt folgt es der Geschichte, die auf dem Bildschirm flimmert. Es kennt die Geschichte in- und auswendig, trotzdem wird das kleine Mädchen immer wieder von ihr verzaubert. Ein bildhübsches Mädchen, elfengleich, unter den Fittichen ihrer bösen Stiefmutter, und der Prinz, der es aus diesem miserablen Zustand rettet. Cinderella wird zur Prinzessin, dank ihres Helden. Ach, wie schön. So etwas will das kleine Mädchen auch. Sie wollte immer die Prinzessin sein, wie Cinderella es war. Mit Tüllkleid, tollen Haaren und den glamourösen Bällen, auf denen man den Prinzen kennenlernt. Aber was geschieht, wenn man mit zunehmendem Alter erkennt, dass das Leben, wie Cinderella es führt, so nicht in die reale Welt passt? Zumindest nicht so, wie es sich das kleine Mädchen ausgemalt hat. Das kleine Mäd-

chen bin ich. Ich will heute nicht mehr auf einen Prinzen warten, wie Cinderella es getan hat. Ich möchte nicht, dass der Prinz der Held in meiner Geschichte ist, wie es der Prinz in Cinderella war. Nur eines möchte ich, ich möchte auch diese wunderschönen Kleider haben und einen Palast für mich. In dem ich bestimmen kann! Ich brauche nicht auf meinen Prinzen hoffen und warten. Das kleine Mädchen in mir und ich nehmen unser Leben selbst in die Hand. Ich will so sein wie die moderne Disney Prinzessin Vaiana. Sie wird zur Heldin der Geschichte. Vaiana kommuniziert das deutlich, indem sie ihren männlichen Gefährten, Maui mit den Worten „Du bist nicht mein Held!“ zurechtweist. Und auch diese Geschichte verfolge ich gebannt, mit dem kleinen Mädchen in mir, das in der rosa Kuscheldecke eingewickelt ist. Ich kann mich damit identifizieren. Die Prinzessin sein, die ich immer sein wollte, aber unabhängig. Ich male mir mein Reich aus, in dem ich mit dem kleinen Mädchen bestimme. Denn wer sagt denn, dass man die Welt nicht auch im Tüllkleid retten kann?

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Die warme Sommersonne

nähert sich dem Horizont, taucht die Welt in ein endloses Bernsteinzimmer.

Glänzend, braun und gold. Es ist nur ein Moment, doch gerade scheint er unendlich zu sein.

Nur uns gehört die Welt.

Irgendwer singt zur Musik, irgendwer kickt den Ball barfuß über die Wiese.

Für Sorgen haben wir keine Zeit.

Mit kratzendem Rasen unter den Beinen und Sonnencreme in der Nase hören wir unser Gelächter über den See schallen.

Bis die Rippen wehtun und die Augen tränen.

Diese bittersüße Vergänglichkeit ist Fluch und Segen zugleich.

Doch die Erinnerung daran macht uns reich.

Ode 1/4 • An den Sommer
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Leonie Gutsche

Einmal Hauptschule, immer Hauptschule?

Pausenhof einer Grundschule: Hier fängt Bildungsungerechtigkeit schon an. Bild: Adobe Stock

Das deutsche Schulsystem ist übersät mit Bildungsungleichheiten. Noch immer entscheidet die soziale Herkunft

maßgeblich über die Schullaufbahn von Kindern und Jugendlichen. Wie es dazu kommt, was man dagegen tun kann und was das Gymnasium damit zu tun hat.

„Du bist Hauptschüler und du bleibst Hauptschüler!“ Dieser Satz hat sich wohl in den Köpfen so einiger Schüler*innen eingebrannt. Das Tragische daran: In vielen Fällen behält er Recht. Es gibt im deutschen Bildungssystem eine Abstiegsmobilität, aber kaum eine Aufstiegsmobilität. Und noch immer entscheiden das Elternhaus und die soziale Herkunft maßgeblich über die Schullaufbahn von Kindern und Jugendlichen. „Du bist Hauptschüler und du bleibst Hauptschüler!“ Dieser Satz sagt so einiges darüber aus, was in deutschen Schulen schiefläuft. Das müssen Sophia* und Emilia* am eigenen Leib erfahren. Die beiden sind Zwillinge und gehen in die vierte Klasse. Sie könnten gute Schülerinnen sein. Sind sozial. Hilfsbereit. Setzen sich für andere ein. Ihre Eltern haben einen sozial schwachen Hintergrund. Aufgrund dauerhafter Umzüge ist die jetzige Grundschule ihre sechste innerhalb von drei Jahren. Am Ende der vierten Klasse bekommt Sophia eine Empfehlung für die Realschule, Emilia geht auf die Hauptschule. Sie hätte auch auf die Realschule kommen können, aufgrund einer Lernschwäche jedoch als Inklusionsschülerin, berichtet ihre Klassenlehrerin. Da sei die Hauptschule einfach praktischer gewesen, zumal ihre ältere Schwester diese auch besuche. „Ich kann nur hoffen, dass sie sich freistrampeln“, sagt die Lehrerin am Ende des Gesprächs. Sophia und Emilia sind eines von vielen Beispielen für Bildungsungleichheit in Deutschland. Wie kommt es dazu? Was kann man dagegen tun? Und was hat das Gymnasium eigentlich damit zu tun?

Text • Nicolas Even
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Ein kurzer Rückblick ins Jahr 2001. Ein Jahr mit großen Schlagzeilen. Deutschland diskutierte über die Einführung der Riester-Rente, die Vertrauensfrage von Gerhard Schröder und: die Ergebnisse der ersten PISA-Studie. Die Veröffentlichung der internationalen Vergleichsstudie löste damals eine nationale Debatte über das deutsche Bildungssystem aus. „PISA-Schock“ titelten viele Zeitungen. Denn die Studie bescheinigte – entgegen der vorherrschenden öffentlichen Wahrnehmung – unterdurchschnittliche Leistungen der deutschen Schüler*innen. Was außerdem erschreckte: Ein starker Zusammenhang der schulischen Leistungen, sowohl mit dem sozioökonomischen Hintergrund als auch mit dem Migrationshintergrund.

Seitdem hat sich zwar einiges getan – etwa durch höhere Bildungsausgaben, verbesserte Zugänge zu frühkindlicher Bildung und stärkere Förderung sozial benachteiligter Kinder. Dadurch ist es gelungen, die Leistungen der deutschen Schüler*innen über den OECD-Schnitt zu heben. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenzbildung ist dennoch überdurchschnittlich hoch. Nach wie vor. Ungleichheitsforscher Markus Lörz begründet diesen starken Zusammenhang unter anderem mit der frühen Aufteilung der Grundschüler*innen nach der vierten Klasse. Das große Problem an dieser Aufteilung sei die soziale Selektion, die dabei stattfinde. Das bedeutet: Kinder aus sozial schwachen Haushalten haben geringere Chancen, beispielsweise das Gymnasium zu besuchen. Kinder aus privilegierten Familien dagegen weisen im Schnitt bessere Leistungen auf, erklärt seine Kollegin Anna Bachsleitner. Aber auch bei gleichen Leistungen besuchen sie häufiger das Gymnasium, denn die soziale Herkunft wirke sich auf die Entscheidungen der Eltern aus. Übrigens: Die Empfehlung über die weiterführende Schulform hat in Niedersachsen und den meisten anderen Bundesländern keine bindende Wirkung. Ultimativ wird die Entscheidung also zuhause getroffen. Und dort fällt eben auf: Eltern aus höheren Schichten schicken ihre Kinder häufiger aufs Gymnasium. Auch entgegen der Empfehlung der Lehrkraft. Und nicht nur das. Es ist sogar erwiesen, dass es Schüler*innen gibt, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft schlechter bewertet werden. Das kann sich ebenfalls auf die Schulempfehlung auswirken. Und genau an solchen Stellen entstehen Bildungsungleichheiten.

Was ist also die Lösung? Wie kann dieses System gerechter werden? Erziehungswissenschaftler Marius Harring plädiert dafür, die Kinder und Jugendlichen so lange wie möglich gemeinsam zu beschulen. Die Entscheidung, welcher Abschluss letzten Endes

erlangt wird, solle so spät wie möglich erfolgen, um die Möglichkeiten der Schüler*innen bis zum Ende ihrer Schullaufbahn offenzuhalten. Diesen Weg könne man sehr gut über Gesamtschulen gehen. Genau das sei auch die Idee hinter dieser Schulform: möglichst lange gemeinsames Lernen ermöglichen. Und das Gymnasium? Bräuchte man dann gar nicht mehr unbedingt. Darauf sollte in diesem Modell sogar bewusst verzichtet werden, so Harring. Denn sonst laufe man Gefahr, eine Zweiklassengesellschaft zu erschaffen. Leistungsstarke Schüler*innen auf dem Gymnasium, leistungsschwache Schüler*innen auf der Gesamtschule. Kaum soziale Durchmischung. Das ist auch ein Argument des Comedians Felix Lobrecht, unter anderem bekannt für den Nr.1-Podcast Gemischtes Hack, den er zusammen mit Tommi Schmitt betreibt. Darin äußerte er sich ebenfalls zur Debatte über das deutsche Schulsystem. Lobrecht hat eine ganz klare Meinung zum Thema:

„Gymnasien abschaffen! Es gibt keinen Grund dafür, warum es Gymnasien gibt. Gymnasien dienen einzig und allein der Abgrenzung nach unten. […] Unter anderem durch Gymnasien wird auch Klassismus oder soziale Herkunft auch weiterhin ein wenig in der Öffentlichkeit beachtetes Thema bleiben, weil es durch Gymnasien keinen Austausch zwischen den Schichten gibt, weil die meisten Leute an Gymnasien einfach aus der Mittelschicht aufwärts kommen und die meisten aus der Mittelschicht abwärts […] finden da nicht statt oder deutlich weniger statt.“

„Natürlich tragen Gymnasien irgendwo zur Reproduktion von sozialen Ungleichheiten bei“, antwortet Markus Lörz auf die Aussage des Podcasters.

„Aber es ist vielmehr der sozial selektive Zugang zu den Gymnasien als das Gymnasium selbst.“ Verschiedene Schulformen bedeuteten eben verschiedene Entwicklungsmilieus. Und da finde mit der Schulwahl nach der vierten Klasse schon eine bedeutende Weichenstellung statt. Je nachdem, welchen Bildungsabschluss man dann erreicht, könnte auch der Lebensweg stark beeinflusst werden. Der Abschluss bedinge nämlich das spätere Einkommen,

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„ Gymnasien abschaffen ! Sie dienen einzig und allein der Abgrenzung nach unten.“

den Lebensstandard, aber auch die Gesundheit und die Lebenszufriedenheit der Menschen, erklärt Bachsleitner. Was kann man also dagegen machen?

Ein möglicher Schritt sei, den Zeitpunkt der Aufteilung nach hinten zu verschieben, empfiehlt Lörz. Denn gerade im Kindesalter seien die Bildungsentscheidungen stark von der sozialen Herkunft der Eltern beeinflusst. Zu einem späteren Zeitpunkt wäre die entscheidende Rolle der Eltern nicht so stark und die sozial selektive Wirkung etwas gemindert.

Außerdem hätten die Kinder dann mehr Zeit sich zu entwickeln, erklärt Axel Plünnecke, Bildungsökonom am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft. Eine spätere Trennung könnte nicht nur der sozialen Selektion entgegenwirken, sondern auch einem anderen Effekt. Plünnecke vergleicht ihn mit einem Beispiel aus der Sportwelt: Bei einem Blick auf die Geburtsdaten der Jugend-Nationalmannschaften stelle man fest, dass viele Spieler*innen in den ersten Monaten des entsprechenden Jahres geboren wurden. Und vergleichsweise wenig in den letzten Monaten. Wieso? Fast ein Jahr älter bedeute eben auch fast ein Jahr weiter. Im Sport wie auch in der Schule. Gerade im jungen Alter nicht unerheblich. Nach der Grundschule seien so beispielsweise die 11-jährigen Kinder kognitiv weiter als die 10-Jährigen. Zumindest im Durchschnitt. Dadurch bekämen die älteren Schüler*innen sogar häufiger eine Gymnasialempfehlung.

Oder sollte man lieber doch gänzlich auf das Gymnasium verzichten? Die Frage, wenn man diesen Weg ginge: Was ist die Alternative? Gesamtschulen wäre vermutlich die häufigste Antwort. Davon ist ja auch Marius Harring überzeugt. Nun gut. Gesamtschulen gibt es schon einige in Deutschland. Oder andere Schulen, die alle Abschlüsse zusammenfassen, zum Beispiel die Hamburger Stadtteilschule. Plünnecke ist sich sicher, dass Gesamtschulen allein

nicht die Lösung wären. Höchstens in Kombination mit Gymnasien sieht er eine gute Möglichkeit. Denkbar sei für ihn eine Mischung aus G8 am Gymnasium und G9 an der Gesamtschule. Um Kindern die Zeit zu geben, die sie gegebenenfalls bräuchten, sich zu entwickeln. Aber das Gymnasium abschaffen – für ihn keine gute Option. Erstens funktioniere es schlicht und einfach zu gut. Soll heißen: von den Ergebnissen her. Außerdem trügen Politik und Gesellschaft das Gymnasium zu sehr, als dass man es einfach abschaffen könne. Und zweitens erwartet der Bildungsökonom dann einen Effekt, wie beispielsweise in den USA. Dort gibt es das High School-System. Eine Schule für alle. Also schon mal keine soziale Selektion über den Zugang, denn es müssen ja alle Schüler*innen auf die High School. „Da findet soziale Selektion nicht über die Empfehlung nach der vierten Schulklasse statt, sondern über die Finanzmöglichkeiten der Eltern“, so Plünnecke. Was er damit meint: Die Wahl des Stadtteils, in den Familien ziehen, werde maßgeblich durch die finanziellen Möglichkeiten beeinflusst. Dadurch entstehen Unterschiede zwischen Schulen in sozial schwächeren und Schulen in sozial stärkeren Stadtteilen.

Harring ist dennoch der Meinung, dass man das Gymnasium abschaffen kann und sollte. Auch wenn man sich damit gewisse Selektionseffekte einkauft. „Langfristig gesehen glaube ich, dass das der richtige Weg wäre. […] Aus meiner Perspektive kann das kein Grund sein, diesen Weg nicht zu gehen und es nicht auszuprobieren“, so Harring. Außerdem gebe es Positivbeispiele, die zeigen, wie es geht. Skandinavische Länder zum Beispiel. Dort zeigen sich nur geringe Selektionseffekte. Doch der Erziehungswissenschaftler sieht ebenfalls politische Hürden, spricht bewusst von einer Utopie. Eine Utopie, die Sophia und Emilia möglicherweise die Chance gegeben hätte, sich unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zu entwickeln. Eine Utopie, die das Potenzial hat, Bildungsungleichheiten bedeutend zu verringern. Eine Utopie, die den Satz: „Du bist Hauptschüler und du bleibst Hauptschüler“, ausmerzen würde.

Es bleibt nur zu hoffen, dass die Politik das auch bald erkennt. Damit diese Utopie Wirklichkeit werden kann. Und damit das System Schule in Deutschland endlich gerecht wird.

*Namen zur Wahrung der Anonymität geändert.

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Je nachdem, welchen Bildungsabschluss man dann erreicht, könnte auch der Lebensweg beeinflusst werden.

VintageRevival

High-End Designer sind etwas, was man sich normalerweise aufgrund der hohen Preise in den wenigsten Fällen gönnt. Wenn Carrie-Bradshaw-Liebhaber sich dennoch für die nobelsten Modehäuser dieser Welt begeistern, aber seit je her Angst vor der eigenen Privatinsolvenz hatten, ist Second-Hand die Lösung.

Zunächst liegt es auf der Hand, dass, wenn man gebrauchten Kleidungsstücken und Accessoires ein zweites Leben schenkt, diese nicht zu den derzeitig 1,3 Millionen Tonnen Kleidungsmüll gehören. Demnach lässt sich Fashion nachhaltig und klimafreundlich ausleben.

Flohmärkte bieten günstige Schnäppchen, sind aber eher für den erfahreneren Vintage-Shopper.

Ich will nicht genau das, was er hatte

Investiert man ein wenig mehr Zeit in die Recherche und das Suchen nach neuer Kleidung, so stößt man auf dem Gebrauchtmarkt auf originelle und interessante Teile aus den letzten Jahrzehnten. Während andere also wie eine homogene Masse aus den gleichen neuen Trends herumlaufen, interpretierst du, mit Hilfe von Vintage, Mode im Ganzen neu.

Um auch sicherzugehen, dass der neue Designer-Liebling kein billiger Abklatsch ist, hilft gute Recherche zur Authentifizierung. Wichtig sind zum Beispiel Logos, Hardware, Nähte oder Farbe.

Grün, grün, grün sind alle meine Kleider 2

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Text • Leonie Winger

Auf autorisierten High-End-Vintage-Börsen im Internet ertrinkt man beinahe in einer Flut aus einst geliebten Kleidungsstücken und Accessoires aus den bekanntesten Modehäusern von Paris bis Mailand, welche dort für faire Preise verkauft werden. Mit etwas Glück stößt man auf Branddeals, welche eine gute Wertanlage bieten und für schlechte Zeiten vorsorgen. Top Marken sind Chanel und Hèrmes. Gute Brand-Deals lassen sich zum Beispiel auf Vinted, Vestaire Collective, Rebelle oder Sellpy finden.

Einige Vintage-Pieces haben über die Jahre an Qualität verloren. Aus diesem Grund lohnt sich ein Blick auf die Kollektionen der letzten Jahrzehnte zu werfen, um ähnliche Modelle aber mit hochwertigeren Materialien zu finden.

Die Hardware der Chanel Flap ist nur bis zum Jahrgang 2008 mit 24K vergoldet.

Marken für die schmale Mark 4

Qualitätssache 5

Don’t know much about fashion history?

Mit dem Suchen nach neuer Kleidung auf dem Vintage Markt taucht man auch ganz unfreiwillig in eine Welt voller Modegeschichte und Liebe für Designer, Materialien und Handwerk ein. Man fängt an, sich mit Trends und ihren Hintergründen zu beschäftigen. Und während man eigentlich nur ein paar neue Schuhe gesucht hat, hat man auch eine Passion gefunden.

Klingt nerdy, ist aber total cool.

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Die Anderen und Ich

Nach wie vor herrscht in Deutschland eine drastische Bildungs- und Chancenungleichheit. Arbeiter*innenkind und Studentin? Eine eher seltene Kombination. Bahriye ist beides. Und noch so viel mehr.

Text & Bilder • Tosha Rana Hausmann
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Hannover, Calenberger Neustadt. Goetheplatz. Eine Station bis Steintor, nur zwei Minuten. Weit genug weg, um nicht mit Hannovers Brennpunktviertel in Verbindung gebracht zu werden? Brennpunktviertel. Eine Bezeichnung, welche oft für marginalisierte Viertel genutzt wird. Ihre Mutter öffnet die Tür. Ein langer Flur. Links. Durch das Badezimmer. Rechts. Das Zimmer von Bahriye. Eine Dreizimmerwohnung. Sie wohnt hier zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter. Ihr eigenes Zimmer, so erzählt sie, habe sie erst mit 14 Jahren bekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt teilten sie sich das Bett. Jetzt hat sie ihr eigenes. Ihr eigenes Bett, ihren eigenen Kleiderschrank, ihr eigenes Fenster zur Straße hin. Auf ihrem Plattenspieler läuft Sadevillian von MF DOOM und Sade. Räucherstäbchengeruch. Durch das offene Fenster fallen Sonnenstrahlen in Bahriyes Zimmer und reflektieren in ihrem Glastisch, auf welchem „an archive of love“ vom middle east archive, ihr neustes Fotografiebuch, liegt.

Seit September 2022 studiert die 21-Jährige Fotojournalismus an der Hochschule Hannover. Sie hat es geschafft, nach dem Einreichen einer Bewerbungsmappe eine Hausaufgabe und später die hochschulinterne Eignungsprüfung zu bestehen. Außerdem ist sie die erste Person in ihrer Familie, welche ein Studium beginnt. Gar nicht so wahrscheinlich. Laut des Hochschulbildungsreports von 2022 starten gerade mal 27 von 100 Kindern aus Arbeiter*innen-Haushalten in ein Studium. Im Vergleich: Bei Kindern aus Akademiker*innen-Haushalten sind es 83 von 100. Auch Bahriye ist ein sogenanntes Arbeiter*innenkind. Arbeiter*innenkinder sind Kinder von Arbeiter*innen. Also Menschen, welche nicht den akademischen Bildungsweg eingeschlagen haben und keine Erfahrungen im Bezug auf Hochschule und Universität teilen können.

In Bahriyes Bücheregal liegen Bücher von Kafka und Sartre. Ein weiteres trägt den Titel Women, Race & Class. Eine Sonderausgabe der Vogue. Daneben ihr selbst entworfenes Kopftuchmädchen Zine. Links, neben ihrem Fenster, ein auffallendes Regal aus Glas, gefüllt mit Kassetten. „Das Regal ist das Einzige, was ich von meinem Vater habe“, erwähnt Bahriye nahezu nebensächlich. Würde es ihr optisch nicht gefallen, hätte es auch keinen Platz in ihrem Zimmer gefunden. Ein freier Tag, kommt selten vor.

Bahriye ist mit ihrem Freund zum Skaten verabredet. Schwarzes T-Shirt, schwarze Strickjacke. Blaue Jeans, buntes Tuch. Darüber ihre rosa I Love Sweden Cap. Perlenkette. Sternenohrringe. Durch ihren Kleidungsstil drückt sie sich aus. To-Do-Liste schreiben. Wochenplan aktualisieren.

Die Anderen und Ich. Es geht zum Zweier. Ein Skatepark in Hannovers Stadtteil Linden. Ein erster Frühlingstag. Die Sonne scheint. Es riecht nach Sommer. T-Shirt-Temperaturen. Das gute Wetter nutzen viele, der Zweier ist voll. Man kennt sich untereinander. Begrüßt sich. Bahriyes Freund fängt direkt an zu skaten, sie selbst schaut erstmal zu. Skaten vereint. Es spielen viel wichtigere Dinge eine Rolle als Herkunft, die sogenannte soziale Klasse und Alter. Das erste Mal gemerkt, dass Bahriye etwas von Anderen unterscheidet und sie nichts dagegen tun kann, war in der fünften Klasse auf dem Gymnasium. Ganz diskret, so beschreibt sie es, ist die damals Zehnjährige mit dem Brief vom Jobcenter vorbei an ihren Klassenkamerad*innen nach vorne zum Lehrer gegangen, um die Klassenfahrt finanziert zu bekommen. „Ich habe mich als arm angesehen und wusste, ich

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„Das Regal ist das Einzige, was ich von meinem Vater habe“

bin immer ärmer als die Anderen“, so Bahriye. Den Weg auf eine hochschulberechtigende Schule schaffen von 100 Nichtakademiker*innenkinder lediglich 46. Das ist nicht einmal die Hälfte. Aus Akademiker*innen-Haushalten schaffen es dagegen 83 Kinder, zeigen Zahlen des aktuellen Hochschulbildungsreports. Obwohl Bahriye eine Realschulempfehlung ausgesprochen bekam, setzte sie ihren Weg auf dem Gymnasium fort. „Meine Mutter hat in mir das Potenzial fürs Gymnasium gesehen“ erzählt sie.

Ob sie auch ohne den Zuspruch ihrer Mutter auf dem Gymnasium gelandet wäre? Eine Studie aus dem Jahr 2007 der Mainzer Gutenberg-Universität fand heraus, dass Schüler*innen aus sozial weniger starken Schichten beim Wechsel auf eine höhere Schule benachteiligt werden. Eine Gymnasialempfehlung ist genau dann wahrscheinlich, wenn das Bildungsniveau der Eltern einem Höheren entspricht. So erhalten stolze 81 Prozent der Kinder aus der so-

genannten Oberschicht eine Gymnasialempfehlung. Bei Kindern aus den sogenannten Unterschichthaushalten sind es magere 14 Prozent. Viel wichtiger ist allerdings der Fakt, dass bei identischen Leistungen die Schulempfehlung auf sozialer Herkunft beruht. Die Studie macht dies an folgendem Beispiel deutlich: Schüler*innen mit einer Durchschnittsnote von 2,0, welche der niedrigsten Bildungs- und Einkommensgruppe angehören, bekamen mit einer Wahrscheinlichkeit von 76 Prozent eine Gymnasialempfehlung. Bei Schüler*innen aus der Oberschicht sind es 97 Prozent. Also fast alle.

Neben Bahriye gab es noch eine weitere Klassenkameradin, welche ebenfalls aus einem Hartz-IVHaushalt stammt. Eine Bezugsperson. Mit ihr schafft sie es in der Oberstufe eine Amsterdam-Reise zu initiieren. Sie wussten: Dies eine der einzigen Möglichkeiten, großartig verreisen zu können. Mittlerweile ist es ein wenig anders.

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Nächster Tag, 7:22 Uhr. IC2241 nach Berlin.Fotoshooting mit einer Modedesignerin. Eine Semesterabgabe unter dem Titel Held*innen. Die Tickets für die Zugfahrten zahlt sie selbst. Sie bekommt jetzt Bafög. Kaffee im Bordbistro, um dort die gesamte Fahrt einen Sitzplatz mit Tisch zu haben. Ungestört arbeiten am Laptop. Die Zeit nutzen. Sie muss morgen ein Referat halten. Kaum eine Minute, in welcher Bahriye nicht erreichbar oder irgendwas am machen ist. „Ich muss mich immer viel viel mehr beweisen und das auf so vielen Ebenen, ich muss immer mehr machen. Ich bin eine Frau und eine Hijabi. Ich präsentiere nicht den Status Quo“, so Bahriye. Den Rassismus und Klassizismus, welchen sie zusätzlich erfährt, würden dieses Gefühl nochmal steigern. Mehrheitsgesellschaft eben. Zwar gewinnt sie dadurch Selbstständigkeit, doch einfach mal loslassen zu können fällt ihr umso schwerer. Das Gefühl, immer mehr machen zu müssen, als die Anderen.

Bahriye ist kein Einzelfall. Viele Kinder aus nichtakademischen Haushalten setzten sich genau damit auseinander. Das beginnt schon mit Rechtfertigungen gegenüber den eigenen Eltern. Bestätigen kann dies Julia Munack, Pressesprecherin von arbeiterkind. de, der größten und ältesten Organisation im Bereich Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit. „Es ist schon auch so, dass wir auch in den Communitys immer wieder Geschichten hören, dass sich Kinder aus nicht-akademischen Haushalten, die sich für ein Studium entscheiden, oftmals rechtfertigen müssen vor ihren Eltern“, so Munack. Dazu kommt dann noch der Punkt mit dem Hilfe-Annehmen oder viel mehr das nach Hilfe fragen. Aussagen von Bahriye wie „Das ist für mich das Schwierigste der Welt“ gefolgt von „Nach Hilfe fragen fühlt sich für mich an wie Enttäuschung und Erniedrigung“ sprechen für die Allgemeinheit von Arbeiter*innenkindern.

Laut Julia Munack spielen dabei die Umstände eines Studiums eine große Rolle: „Sie kommen in ein Studium und sehen drumherum: Krass, alle können es. Alles verstehen das. Alle wissen was jetzt der nächste Schritt ist.“ Sie schämen sich, trauen sich nicht zu fragen, wollen sich nicht die Blöße geben. Kinder, aus nicht-akademischen Haushalten kennen es eben nicht. Woher auch? 9.57 Uhr, Berlin Hauptbahnhof, alles läuft nach Plan. M5 Richtung Hohenschönhausen. Wenig später Verwirrung. Keine Reaktion auf das Klingeln an der Tür von Bahriyes Shootingpartnerin. Schnell checkt sie den gemeinsamen Chatverlauf. Zwei Stunden früher da, als abgesprochen. Und jetzt? Zeit nutzen. M5 zurück Richtung Hauptbahnhof. Magazin-Laden besuchen. Punkt auf To-Do-Liste abhaken. Nach Fahrkartenkontrolierenden Ausschau halten. Aufatmen. Zwei einhalb Stunden später steht sie wieder vor besagter Tür und klingelt. Dieses mal wird geöffnet. Herzliche, lange Begrüßung. Beide haben kurdischen Background, direkt wird sich ausgetauscht. Im Laufe des Gespräches zeigen sich weitere Gemeinsamkeiten auf, beide sind ebenfalls Kinder aus nicht akademischen Haushalten.

Eine Verbindung. Equipment auspacken.

Ein Blitzlicht von der Hochschule und eine Sony Alpha 6000. Die Kamera hat Bahriye seit 2019. Gewünscht schon viel länger. Geld hat gefehlt. Ein Problem, welches häufiger aufgetreten ist und auch weiterhin auftreten wird. Die Hälfte des Betrags hat sie am Ende selbst gezahlt. Ersparnisse.

„Ich wurde wegen meiner Kamera schon ausgelacht“, erzählt Bahriye. Kommiliton*innen von ihr besitzen oft mehr als eine Kamera und ein Objektiv. Woher das Geld

„ Ich bin eine Frau und eine Hijabi. Ich präsentiere nicht den Status Quo“
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Immer höher, immer schneller, eben immer ein wenig besser, als die Anderen.

nehmen, wenn von Bafög schon Studiengebühr und Miete gezahlt wird. Wenn wegen Vollzeit Studium die Zeit für einen festen Nebenjob fehlt. Chancengleichheit? „Wir haben keine Chancengleichheit. Das ist was, was wir anstreben, aber man darf nicht die Illusion haben, dass das schon da ist“, so Christoph Bangert, Fotograf und Professor an der Hochschule Hannover. „Das ist ein Ziel, das ist aber noch nicht da und da muss man fleißig und konstant dran arbeiten.“

Ein Ansatz. Es blitzt. Kamera einstellen. Erste Testbilder. Bahriyes Konzept geht auf. Es harmoniert. Wie ein Treffen unter Freundinnen, mit Kamera begleitet. Es fallen kaum Anweisungen, viel eher baut sich ein Gespräch auf. Es fällt vor allem die gegenseitige Wertschätzung auf. Beide sind mit den Ergebnissen zufrieden.

Erneut die M5 Richtung Hauptbahnhof. Das Shooting ging kürzer als geplant. Freie Zeit. Mittag essen, Kaffee trinken, noch schnell durch Secondhandläden laufen. Zufriedenheit. Um 21 Uhr nimmt Bahriye den Zug zurück nach Hannover. Sie hofft, Berlin regelmäßiger besuchen zu können.

Ankommen und Zurecht kommen. Wieder spielt eine Platte. Guts – Straight From The Decks 2. Bahriye besucht ihren Visual-StorytellingKurs an der Hochschule Hannover. Ein großer Tisch in der Mitte eines eher kleineren Raums. Fotobücher in einem Regal, darauf der Plattenspieler. Bereits geöffnete Fruchtgummitüten und Kekspackungen. Acht weitere Fotojournalismusstudierende sind bereits anwesend und sitzen am Tisch. Wohnzimmer-Atmosphäre. Schuhe werden ausgezogen. Hochschuluntypisch. Der Kurs ist ein wenig anders. Zwischen dem Dozenten und den Studierenden herrscht ein fast freundschaftliches Verhältnis. Es wird geduzt. Handys kann man, wenn man mag, während des Kurses in eine Box legen. Voller Fokus auf das Miteinander. Auf dem gestrigen Rückweg nach Hannover und vor Beginnen des Kurses hat Bahriye noch an ihrer Präsentation über ein Fotobuch von Max Pinckers gearbeitet. Nebenbei. Jetzt stellt sie vor.

Wenige Minuten vor der Ankunft in Berlin.

Es lief gut. Bahriye ist zufrieden und setzt sich wieder auf ihren Platz. Das nächste Buch wird vorgestellt. Sie hört zu. Beginnt wenig später ihre ToDo-Liste und den Wochenplan zu aktualisieren. Zeit nutzen. Feedbackrunde zu aktuellen Projekten. Bahriye war in Schweden und präsentiert Bilder von einem Tanzstudio. Wenn sie könne, solle sie doch nochmal hinfahren und noch mehr fotografieren, das wäre schön. Die Aussage fällt mehrfach. Kann sie aber nicht. Das Geld fehlt. Chancenungleichheit.

Es ist der 12. Mai. Ramadan. Bahriye geht früher, um pünktlich für Iftār bei ihrer Mutter und Großmutter zu Hause zu sein. Zu Hause. Eigentlich ist Bahriye nur zum Schlafen hier. Eher selten verbringt sie bewusst Zeit mit ihrer Familie. Ihre Großmutter hat gesundheitliche Probleme, verlässt selten das Haus. Bahriyes Mutter kümmert sich um sie, geht auch deswegen nicht arbeiten. „Ich wurde schon so oft als Sekretärin benutzt, ich glaube, ich konnte nie Kind sein.“. Brie-

fe des Jobcenters übersetzen. Antworten. Eine Lösung finden. Hinterher telefonieren. Alles Aufgaben, welche Bahriye seit Jahren bewältigen muss. Früher neben der Schule. Heute neben der Uni. Schon immer neben der Arbeit, neben dem Treffen mit Freunden, neben eigenen persönlichen Problemen, welche schnell in den Hintergrund rücken müssen. Alles Aufgaben, welche nie thematisiert werden, da selten davon ausgegangen wird, dass diese auftreten. „Ich wünsche mir, mich nicht mehr erklären zu müssen.“ Bahriyes Arbeit soll für sie stehen. Das ständige Sichselbst-Erklären beenden. Sehnsucht nach einer Gesellschaft, welche Verständnis entgegenbringt.

Sehnsucht nach Ruhe. Zurück in der Bahn, welche sie in die Calenberger Neustadt bringt. Die anstrengenden letzten Tage Revue passieren lassen. Im Kopf ist Bahriye schon drei Tage weiter. Dann fährt sie nämlich nach Karlsruhe, eine weitere Künstlerin fotografieren. Ein freier Tag kommt selten vor.

„ Ich wünsche mir, mich nicht mehr erklären zu müssen.“
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Bahriyes Kamera-Sammlung. Funktionieren tun davon weniger als die Hälfte.

Zukunftsmodell Künstliche Kreativität

Schon jetzt sind die Einsatzmöglichkeiten künstlicher Intelligenz extrem vielseitig. Allein im Mai wurden in den USA 3900 Stellen abgebaut, weil künstliche Intelligenz menschliche Arbeit

überflüssig macht. Vielleicht muss man sich auf diese Entwicklung auch in der Kreativbranche gefasst machen.

Es ist 22:37 Uhr an einem schwülen Dienstag im Mai. Der Autor dieses Artikels sitzt vor seinem an einen Monitor angeschlossenen Macbook und durchforstet verschiedene Quellen, um sich über das Thema künstliche Intelligenz im Kontext der Kreativwirtschaft zu informieren. Wie schon erwähnt, es ist schwül. Und spät. Die Haut klebt an der ledernen Sitzfläche seines Bürostuhls. Dieser stellt sich immer wieder nur eine Frage: Warum lasse ich meinen Text nicht einfach von einer KI schreiben?

Künstliche Intelligenz hat uns schon seit langer Zeit umgeben, oft in so simpler Form und schon so oft gesehen, dass sie uns gar nicht mehr aufgefallen ist. Siri zum Beispiel, oder der Spam-Filter im Mail-Postfach. Doch seit Ende 2022 ChatGPT für die breite Öffentlichkeit an den Start gegangen ist, scheint nichts mehr zu sein, wie es mal war. Künstliche Intelligenz ist nicht mehr der Krückstock und auch kein künstliches Kniegelenk – es ist ein athletisches Beinpaar, das viele Aufgaben schneller und fast genauso viele mindestens in derselben Qualität erledigt, wie der Mensch, der seinen Prompt* eintippt. Kurz gesagt: Es macht menschliche Arbeit zu enorm großen Teilen überflüssig. Und das seit Kurzem vor allem in der zwar seit jeher schlecht bezahlten, aber von der Jobsicherheit recht soliden Kreativ- und Kommunikationsbranche.

Moderne KI kann nicht nur stumpf Inhalte und Fakten wiedergeben – sie kann denken. Wobei, das stimmt nicht ganz. Es scheint nur so, wenn man nicht ganz genau hinschaut. Künstliche Intelligenz ist wie der eine Mitschüler, den wir alle hatten: Äußerst fleißig, äußerst brav, äußerst diszipliniert – aber von den geistigen Fähigkeiten her eigentlich nicht so stark, wie es die Noten sagen. Alles, was von einer künstlichen Intelligenz generiert wird, basiert auf bereits von Menschen Erschaffenem. Weiterdenken? Neues kreieren? Fehlanzeige. Wobei: Auch das stimmt wieder nicht so wirklich.

KI kreiert durchaus Neues, findet Zusammenhänge – aber nur in einem begrenzten Rahmen, der nicht auf eigenen Erkenntnisgewinnen und einem wirklichen Denken der Maschine basiert. Schließlich berechnet künstliche Intelligenz nur anhand von Wahrscheinlichkeiten, welches Wort zum anderen passt. Ein wenig wie der eben beschriebene Mitschüler: Kann das ganze Schulbuch Wort für Wort auswendig, aber verstanden hat er es nicht.

Doch, um die Metapher weiterzuführen, das wahre Leben ist ja schon ein wenig wie die Schule: Das Ergebnis zählt! Und die Ergebnisse von KI-gestützten Programmen sind verdammt stark und vor allem vielseitig. Bildgeneratoren wie Dall.E oder Midjourney können an-

Moderne KI kann
nicht nur stumpf Inhalte und Fakten wiedergeben – sie kann denken
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Text • Benedict Carli

hand von Textbeschreibungen innerhalb von Sekunden Kunstwerke generieren, für die Menschen (und es ist faszinierend, dass es sich hierbei um keine Hyperbel handelt) mindestens 100-mal so lange gebraucht hätten. Programme wie AIVA oder Soundraw können in kürzester Zeit Musikstücke nach den Vorstellungen der Benutzer generieren. Und für mich als Medienkommunikationsstudenten sind vor allem Programme wie Neuroflash und ChatGPT spannend – sogenannte Textgeneratoren.

Wie man sehen kann: Die Einsatzbereiche von künstlicher Intelligenz sind vielseitig, die Ergebnisse sind mehr als passabel. Und das, obwohl diese Anwendungen noch in den Kinderschuhen stecken. Was bedeutet das für die Arbeitswelt in der Kommunikations- und Kreativwirtschaft?

In einer Studie von OpenAI (das Unternehmen hinter ChatGPT) und der University Of Pennsylvania aus dem 2023 wurde ermittelt, in welchen Berufen zumindest einige Aufgabenbereiche durch ChatGPT übernommen werden können – ganz vorne mit dabei: Journalist und Schriftsteller. Zwar gibt es noch einige Schwachstellen, doch besonders im kreativen Schreiben können sich die Ergebnisse der KI wirklich sehen lassen. Die Ergebnisse der Künstlichen Intelligenz, die sich wohlgemerkt noch im Anfangsstadium befindet.

Führen wir uns also vor Augen, was künstliche Intelligenz gut kann: Große Datenmengen analysieren. Darin ist sie ein Meister und schon jetzt dem Menschen weit voraus. Zudem kann es eigene Songs erstellen. Texte schreiben. Bilder malen. So

gute Bilder, dass diese ausgezeichnet werden und sich gegen jegliche durch Menschen erschaffenene Werke durchsetzen – so geschehen bei den Sony World Photography Awards in diesem Jahr.

Es fehlen noch einige Feinheiten, damit es künstliche Intelligenz mit allen Aufgabenbereichen in der Kreativbranche aufnehmen kann. Viele Experten sind der Meinung, dass Künstliche Intelligenz eher ein Hilfswerk, als ein Ersatz für menschliche Kreativität sein wird. Doch wir stehen gerade einmal am Anfang einer Entwicklung, die, so sind sich alle Experten einig, den Einfluss des Internets bei Weitem überbieten wird. Wir stehen am Fuße einer neuen Zeitrechnung. Einer Zeitrechnung der Massenarbeitslosigkeit in unserer Branche?

Eine Antwort auf diese Frage zu formulieren, scheint zurzeit unmöglich, einerseits weil wir als Menschheit noch am Anfang dieser Entwicklung stehen und andererseits, weil die Datenlage noch äußerst unklar ist. Doch die Vorzeichen stehen zumindest auf extreme Veränderung, pessimistisch gelesen deuten sie eine beängstigende Entwicklung für jene an, die sich als Kreative identifizieren und damit ihr Geld verdienen. Wenn es eine Möglichkeit gibt, menschliche Arbeit durch maschinelle zu ersetzen, die Aufgaben mindestens in derselben Qualität erledigt und dabei weitaus kostengünstiger ist, wäre es rational gesehen fahrlässig, dies nicht zu tun. Diese Entwicklung ist in unserer Gesellschaft spätestens seit der Industrialisierung zu beobachten.

Vielleicht ist es an der Zeit, umzusatteln: Denn wer heute die Entwicklungen um sich herum ignoriert, hängt morgen hinterher. Kurz gesagt: Hoffentlich studieren wir nicht fürs Bürgergeld. Und hoffentlich stehen wir nicht vorm Ende menschlicher Kreativität.

*Der Input des Nutzers, der einen Output des Systems erzeugt – also die Anfrage oder die Aufgabenstellung des Nutzers für das System.

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Wir stehen am Beginn einer neuen Zeitrechnung. Einer Zeitrechnung der Massenarbeitslosigkeit in unserer Branche?

Das Kartenhaus droht

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Seit wann ist ein Beruf in der Pflege so unattraktiv geworden? Delir, Koma, Reanimationen, Unfälle — sie sind Alltag.

Die Belastung ist hoch, Pflegekräfte arbeiten gegen den Personalnotstand an. Von außen sieht es aus, als würde alles funktionieren. In der Regel tut es das nicht mehr.

Überall ertönt das Piepen von Maschinen aus den Zimmern der Patienten. Und zwar mehreren Maschinen. Wo greife ich zuerst ein, wo ist das Problem schlimmer? Ist die Ernährungspumpe einer Person leer, dann kann ich mich erst um jemanden anders kümmern. Ein Beispiel: Das Beatmungsgerät funktioniert plötzlich nicht mehr. Es ist schnell klar: Jetzt muss eingegriffen werden - keine Sekunde später.

Für die Menschen, die in der Pflege tätig sind, ist es mehr als problematisch. Mehr Leute entscheiden sich gegen diesen Beruf oder kündigen, nachdem sie sich dafür entschieden haben. Die Pflegekräfte übernehmen alleine mehr Aufgaben und damit oft auch mehr Verantwortung. Finanziell kommt ihnen niemand entgegen. Jedenfalls nicht genug.

Nicht nur für das Personal, auch für die Patient*innen ist es schwer. Auch wenn die Arbeitskräfte bestmöglich versuchen, alle Personen zu versorgen, so ist das mit wenig Personal auf Station schlecht umsetzbar. Das Medikament muss noch ausreichen, der Verband verbleibt länger, Aufgaben werden eingegrenzt. Manche würden es schätzen, wenn man sich zu ihnen setzt und ihnen für nur fünf Minuten einfach zuhört. Jetzt ist das kaum noch machbar, da keine Zeit mehr dafür bleibt.

Die Aufgaben, die nicht geschafft werden, müssen zusätzlich an die nächste Schicht weitergegeben werden. Ein Domino-Effekt. Von nun an ist jede Schicht mit mehr Arbeit belastet und muss weitere abgeben. Viele Geräte, kürzere Einarbeitungen. Für Neuankömmlinge ist der Einstieg nicht gerade leicht.

Die Räume Tag und Nacht im Blick behaltendas macht Carina Allerlei. Sie arbeitet auf der interdisziplinären Station eines Krankenhauses. Nebenbei

arbeitet sie zusätzlich in einem anderen Krankenhaus in Zeitarbeit. Seit 2015 ist Allerlei Fachkraft für Anästhesie und Intensivpflege. Als die Schulzeit beendet war, arbeitete sie als Arzthelferin. Nach drei Jahren Grundausbildung folgten zwei Jahre Fachweiterbildung und von da an arbeitete sie als Fachkrankenschwester. Die 42-Jährige arbeitet in Teilzeit. Vollzeit würden die wenigsten arbeiten, so sagt sie.

Unter ihre Aufgaben fällt das Prüfen von Alarmgrenzen der Maschinen in den Räumen der Patient*innen. Ihre Arbeit beginnt mit einer allgemeinen und dann einer speziellen Übergabe, bei der sie alles Wichtige über die Patient*innen erfährt. Die Intensivstation betreut kritisch kranke Menschen. Das betrifft beispielsweise diejenigen, die eine Herzoperation, einen Herzinfarkt hatten oder aus einem anderem Grund lebensbedrohlich verletzt sind.

Den Notstand an helfenden Händen spürt Allerlei jeden Tag. „Wir sind fast immer zu wenig“, sagt sie. Es sei schwierig, Ersatz zu organisieren, wenn eine Kraft ausfällt. Erst vor zwei Tagen musste sie spontan einen Spätdienst übernehmen.

Infusionen und Medikamente verabreichen, den Kreislauf der zu behandelnden Personen am Laufen halten, piepende Maschinen aufsuchen und sich um das Problem kümmern: tägliche Herausforderungen für das Pflegepersonal. Sie müssen an vieles zeitgleich denken und schnell handeln können. Die Stationen werden vergrößert und das Personal eingespart. So muss sich ein Team normaler Größe schlagartig um eine größere Station kümmern. „Es wird lauter und die Wege werden weiter“ sagt Carina Allerlei. „Bei einem überschaubaren Bereich kann es noch gut geh’n. Doch mit nur einem Team eine

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große Station zu überwachen, wird schnell stressig.“

Die hohe Fluktuation der Patienten macht es nicht einfacher.

Viele schätzen es, wenn man sich zu ihnen setzt und fünf Minuten einfach nur zuhört .

Mehr Aufgaben werden auf weniger Personen aufgeteilt. Nicht nur erweiterte Stationen; auch Notfälle sorgen dafür. Eine bestimmte Anzahl an Pflegekräften soll tagsüber sowie nachts einsatzbereit sein, das legt die Personalgrenze fest. Kommt allerdings ein hausinterner Notfall zustande und eine andere Station braucht bei einem der Patient*innen dringend Hilfe, gehen ein Arzt und eine Pflegekraft dorthin. Und schon fehlt eine*r. Eigentlich haben die Pflegenden im Tagdienst jeweils zwei bis drei Menschen, um die sie sich kümmern. Nun müssen die Patienten der fehlenden Einsatzkraft auf den Rest verteilt werden - das Prinzip der Personalgrenze geht nicht mehr auf. Krankmeldungen verursachen dasselbe Problem: Mit der Grenze wird es eng. Manche Patient*innen müssen mehrere Male am Tag gelagert werden. Sie dürfen sich keine Stellen am Körper wund liegen: Diese Stellen bezeichnet man als Dekubitus. Zunächst ist dieser Teil des Körpers gerötet, dann entstehen Blasen und wenn sie geplatzt sind, ist die jeweilige Stelle schwarz. Beim sogenannten Lagern, bei dem die Menschen auf die linke oder rechte Seite gelegt werden, müssen mehrere Krankenschwestern Hand anlegen. Nur so kann auf die Kabel geachtet werden. Es sind viele: Infusion, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Magensonde, Blasenkatheter, Tubus mit Beatmungsschlauch und Dialyse. Für das Lagern werden mindestens drei Personen gebraucht und das alle zwei bis drei Stunden. Bei der Bauchlagerung kommt noch ein Arzt oder eine Ärztin hinzu. Falten im Bett können ebenfalls Druckgeschwüre der Haut begünstigen. Stichwort Aufmerksamkeit: Es muss durchgängig genau hingeschaut werden.

Allerlei: „Auch nach 23 Uhr muss man noch bei der Sache sein.“ Die Nachtschicht ist eine Herausforderung. Nach Frühdienst, Spät- oder Nachtdienst ist man oft müde, müsste man meinen. Doch mittlerweile ist Müdigkeit der Dauerzustand geworden. Die

Zeitarbeit ist dabei zu einem entscheidenen Faktor geworden. Da kann man sich die Arbeitszeiten aussuchen, das können die fest Angestellten nicht. Feiertags-, Wochenend- und Nachtschichten bleiben an der Stammbelegschaft hängen. Mit der lang andauernden Erschöpfung wird es schwer, freie Zeit noch genießen zu können. Viele reduzieren aus diesem Grund ihre Stunden oder wechseln von Vollzeit in Teilzeit oder Zeitarbeit. Es passiert auch, dass manche kündigen.

Koma – das Wort geht einem nicht leicht von der Zunge. Für eine Krankenschwester ist das ebenfalls nicht einfach. Das künstliche Koma, das medikamentös verursacht wird, hilft den Patienten, ihre Kräfte zu schonen und ihnen Stress zu ersparen. Die Pflegekräfte erwarten zunächst vor allem eines: Der Patient soll aufwachen, wir er eingeschlafen ist. Bedeutet, der geistige Zustand des Menschen soll bestenfalls unbeschädigt sein. Bei einem schweren Schädelhirntrauma sieht es anders aus: Der Mensch befindet sich im Koma, nicht von den Pflegenden bewirkt. Keiner kann sagen, wie der Zustand sein wird, wenn die Person erwacht. Die Hoffnung ist, dass sie sehr bald wieder adäquat handeln kann. Erwacht ein Mensch aus dem Koma und beginnt, selbstständig zu atmen, arbeitet sein Körper gegen die Maschinen. Gerade dann muss schnell gehandelt werden. Es ist wichtig, auf diese Situation gefasst und schnell einsatzbereit zu sein.

Sie wissen nicht, was mit ihnen ist oder wo sie sind – geistig verwirrte Patienten. Die jeweilige Person hat einen kompletten Stimmungswechsel und wirkt auf einmal wie ausgewechselt. Unruhen um sie herum verstärken das. Das sogenannte Delir fordert die spezielle Aufmerksamkeit einer Arbeitskraft. Allerlei hat das auch schon erlebt. „Wir haben uns unterhalten, alles war in Ordnung“, sagt sie. „Ich war kurz weg und als ich wieder kam, war die Person ein völlig anderer Mensch.“ Schwierig wird es auch, wenn sich Menschen aggressiv verhalten. Das kann beispielsweise dann vorkommen, wenn sie alkoholisiert sind. Übergriffe müssen notfalls für Eigen- und Fremdschutz durch das Fixieren dieser Person verhindert werden.

Nicht glückende Reanimationen nach Verkehrsunfällen nimmt keine Pfleger*in auf die leichte Schulter. Sie sind zudem ein Stück weit Alltag geworden. „Man muss aufpassen, dass man nicht abstumpft“, sagt Allerlei. „Wenn man abstumpft, hilft man sich selbst nicht und auch nicht den Anderen.“ Wichtig sei nämlich weiterhin, den Patient*innen Empathie zu zeigen.

Die 42-Jährige Fachkraft erinnert sich noch an ein Erlebnis vor einiger Zeit. Eine junge Frau war er-

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krankt, man konnte ihr trotz vieler Bemühungen nicht mehr helfen. Sie hatte zwei Kinder. Nach einer Zeit kennt man die Frau und ihre Familie, dann schmerzt das Ableben einer Person bald noch mehr. „Das gehört zu den Dingen, die man nicht vergisst“, sagt Allerlei. Nimmt man diese Erlebnisse mit nach Hause, läuft man Gefahr, dass man ausbrennt.

Der Beruf Krankenpfleger*in sei laut Allerlei nicht schlecht, man sollte es sich wegen der Bedingungen allerdings gut überlegen. Arbeitgeber*innen reduzieren ihr Personal, um Geld zu sparen. Denn: die Fallpauschalen der Krankenkassen reichen lange nicht mehr aus. Ärztliche Leistungen und Sachkosten sollen sie erstatten, aber bei dem technischen Fortschritt und den steigenden Personalkosten genügt das einfach nicht mehr. „Von außen sieht es so aus, als wäre alles in Ordnung“, erklärt sie. „Der Laden läuft automatisch weiter, obwohl so wenige von uns da sind.“ Laut der Fachkrankenschwester müsse das System grundlegend überarbeitet werden – man brauche einfach mehr Pflegekräfte. Andernfalls droht das Kartenhaus zusammenzubrechen.

Eine Motivation, ihren Beruf auszuüben, sieht sie vor allem in der Genesung der Patient*innen. Wenn ihr Weg mit der Erkrankung oder Verletzung positiv verläuft oder sie die Gepflegten besuchen, um Danke zu sagen. Das sei etwas, dass einen wirklich glücklich mache.

Pflegeberufe sind nach wie vor wichtig. Hinter der Arbeit des Krankenpfleger*innen stecken Menschen, die täglich physisch sowie psychisch viel aushalten müssen. Für die Wartezeiten oder gar die noch nicht erledigten Aufgaben sind nicht immer die Pflegekräfte schuld. Vielmehr sind diese Menschen wenige, die die Arbeit eines großen Teams zu leisten und zu verantworten haben. Immer noch ist ihnen das Wohl der Menschen ein Bedürfnis, sie kämpfen jeden Tag für jeden einzelnen.

Das Pflegepersonal ist am Ende seiner Kräfte. Bild: iStock

„Von außen sieht es so aus, als wäre alles in Ordnung . Der Laden läuft weiter, obwohl so wenige von uns da sind.“

Im alten China hattest du deine Ursprünge. In Amerika wurdest du zu dem, was du heute bist: zehn Zentimeter breit, zylinderförmig und auf einer Papphülse aufgewickelt.

Für den sensibleren Allerwertesten gibt es dich in feuchter Variante, in öffentlichen Schulen als Schmirgelpapier.

Allein in Deutschland werden jährlich Milliarden Exemplare von dir gekauft. Zu Coronazeiten hat man dich teilweise trotzdem nirgendwo finden können.

Alternativlos bist du und das hat seine Gründe:

Du hältst ohne zu meckern hin, selbst wenn ich den Abend zuvor beim Mexikaner war oder die Linsensuppe von Oma gegessen habe.

Ohne dich würden Menschen täglich in Schlüppern voller Bremsspuren durch die Welt stolzieren.

Du bist ein Symbol der Brüderlichkeit, wenn ich auf dem Klo sitze und mein kleiner Bruder dich ins Bad bringt, weil du nicht mehr an der Seite hängst.

Deine Wichtigkeit zeigt sich erst richtig, wenn du nicht an Ort und Stelle bist und stattdessen Küchenrolle oder Taschentücher herhalten müssen.

Egal ob großes oder kleines Geschäft, drei- oder vierlagig, gefaltet oder geknüllt:

Du bist die größte Konstante in meinem Leben, Klopapier.

Ode 2/4 • An das Klopapier Maximilian Kühn 33

Im Zoo lernt man etwas über die Tiere, so heißt es.

Im Zoo wird die Artenvielfalt erhalten, so heißt es. Doch was ist es, was man wirklich in einem Zoo lernt?

Wie man nicht mit den Tieren umgehen sollte…

Der erste Grund müsste einem klar sein: In einem Zoo gibt es KEINE artgerechte Haltung. Die Tiere werden in viel zu kleinen Käfigen gehalten. Auch sind die Käfige meist sehr kahl und erinnern nicht mal annährend an den natürlichen Lebensraum. Dazu kommt auch noch der Mangel an Beschäftigung. Sie langweilen sich und das führt direkt zu dem zweiten Grund.

Es ist kein Geheimnis, dass manche Zoos, gerade bei Elefanten, nicht zimperlich sind. Die PETA hat 2017 Videoaufnahmen von dem Zoo Hannover veröffentlicht, worin ein Tierpfleger zu sehen ist, der den Elefantenhaken mutwillig einsetzt. Als Elefantenhaken wird eine Stange mit einer Metallspitze bezeichnet. Mit dieser Stange werden Elefanten gefügig gemacht. Durch Stiche in die Haut sollen die Tiere beispielsweise einen neuen Trick für die Shows lernen. Der Zoo Hannover weist die Anschuldigung von Tierquälerei allerdings zurück. Nach Sichtung des gesamten Videomaterials stellt die Staatsanwaltschaft Hannover das Verfahren gegen den Zoo ein. Wie das sein kann, ist nach den Ausschnitten jedoch unerklärlich.

Tiere, die in einem Zoo geboren werden, haben meistens keine Überlebenschancen mehr in der Wildnis. Zu diesem Schluss ist auch eine internationale Studie der University of Exeter im Wissenschaftsmagazin National Geographic gekommen. Die Überlebensrate von Zootieren in der Wildnis beträgt nur etwa ein Drittel. Generell verlieren die Tiere ihren eigentlichen Jagdinstinkt völlig. Andersherum verlieren Tiere auch ihren Fluchtinstinkt. Dadurch flüchten sie bei möglicher Gefahr nicht und haben auch nicht den nötigen Respekt vor Menschen. Dies alles führt dazu, dass eine spätere Auswilderung unmöglich ist, da die Tiere so in der freien Wildbahn nicht überlebensfähig sind.

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Text • Lucy Bense

Zoos vermitteln den Besuchern laut PETA ein völlig falsches Bild von den Tieren. Die Besucher lernen nichts über eine artgerechte Haltung, weil es diese in einem Zoo einfach nicht gibt. Dadurch wird dem Besucher aber suggeriert, dass diese Haltung völlig normal sei. Auch über die Tiere vermittelt ein Zoo ein falsches Bild. Die Tiere verhalten sich weder natürlich noch können die Besucher etwas über den natürlichen Lebensraum der Tiere lernen. Besonders bei Kindern kann das zu einer verzerrten Wahrnehmung führen, da die Haltung in Käfigen normalisiert wird.

Um die Zahl der Tiere hochzuhalten, ist eine Vermehrung unumgänglich. Viele Tierarten können sich aber unter den schlechten Bedingungen im Zoo nicht mehr fortpflanzen. Daher wird in Zoos teilweise Inzucht betrieben. Dies führt wiederum bei den Tieren zu Missbildungen der einzelnen Gliedmaßen. So auch bei einem Löwenbaby aus dem Frankfurter Zoo. 2019 musste der Löwe kurz nach der Geburt eingeschläfert werden, da er eine Schädelmissbildung hatte. Oft werden einzelne Tiere für die Paarung auch kilometerweit in einen anderen Zoo transportiert. Das wird von den Zoos in Kauf genommen, damit die Tiere Nachwuchs bekommen. Tierbabys sind ein Besucher-Magnet und der Zoo macht damit Profit.

Durch die mangelnde Beschäftigung der Tiere, entwickeln diese Verhaltensstörrungen. Die größte Tierschutzorganisation PETA hat das mit den Besuchen mehrerer deutscher Zoos belegt. Dort hat sie unter anderem festgestellt, dass von 34 Eisbären mehr als die Hälfte verhaltensauffällig ist. Auch bei Elefanten treten Auffälligkeiten wie das Weben auf. Dabei schaukeln die Elefanten von einem Bein auf das andere, was nicht gut für ihre Gelenke ist.

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Es gibt viele gute Gründe, Zoos zu meiden. Aber jedem ist am Ende selbst überlassen, ob man den Zoo mit einem Besuch unterstützen möchte. Wir alle müssen für uns selbst entscheiden, was moralisch vertretbar ist.

Nein, danke!

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Sag jetzt bloß nichts!

Unsere Mimik kann unsere Gedanken oft besser ausdrücken, als unsere eigenen Worte. Im letzten Jahr haben wir das legendäre pantomimische Interview des SZ-Magazins, Sag jetzt bloß nichts, in unserem Magazin aufleben lassen. Eine Rubrik, die bei unseren Leser*innen gut ankam und frischen Wind ins Magazin brachte. Dieses Jahr, möchten wir diese aufregende Interview-Reihe fortführen und haben diesmal unsere Medienstudierenden der Ostfalia gefragt: „Wie fühlt es sich an?“

Konzept • Jason Antonio

Bilder • Helge Krückeberg

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Wie fühlt es sich an, wenn Du auf Grund von Klimaprotesten zu spät zur Arbeit oder Uni kommst?

Wie fühlt es sich an, wenn dein Kumpel im Urlaub zum fünften Mal

das Essen auf dem Tisch filmt?

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Wie fühlt es sich an, für Lebensmittel jetzt fast das Doppelte zu bezahlen?

Faszination TRASH-TV

Are You the One, Das Sommerhaus der Stars oder Der Bachelor sind Trash-TV-Formate, von denen sicherlich die meisten bereits gehört haben. Regelmäßig kommen neue Sendungen auf allen möglichen Streaming-Plattformen dazu. Dabei gilt das alte Trash-TV-Konzept: Hauptsache kontrovers, hauptsache polarisierend.

Red Flags, Warnzeichen für bedenkliche Beziehungen, sind in der Trash-TV-Welt oft vorzufinden. Bild: Unsplash

TRASH-TV

Die Meinungen darüber unterscheiden sich oft stark. Einige sagen: Diese Formate tragen zur Verblödung der Jugend bei. Andere sagen: Sie sind hellauf begeistert von dieser Art der Unterhaltung. Und ist es nicht auch mal okay, nach einem langen Tag diese Sendungen einzuschalten?

Den Ursprung in Deutschland hatte Trash-TV in den 1980ern mit dem Aufkommen privater Fernsehsender wie RTL oder Sat.1. Damals waren es noch nachgespielte Polizei- und Rettungsaktionen. Inspirieren lassen sich die Sender vor allem von bewährten Konzepten aus den USA. Die meisten Formate sind günstig produzierbar und folgen meist dem gleichen klischeehaften Muster. Wichtig dabei ist natürlich die Auswahl der richtigen Kandidat*innen, ohne die kein Format gut laufen könnte.

Oftmals werden in diesen Sendungen jedoch Verhaltensweisen vorgelebt, die es zu hinterfragen gilt. Von Misstrauen, starker Eifersucht oder einer ungesunden Streitkultur ist alles dabei.

Eine Frage die sich hier stellt: Kann der Konsum von Trash-TV uns negativ beeinflussen? Verschiebt er die Grenzen des für uns Akzeptablen oder wird uns vielmehr der Spiegel vorgehalten?

Die Kandidat*innen

Wie bereits erwähnt, sind die Kandidat*innen ausschlaggebend für den Erfolg der Formate. Diese strotzen meist vor Selbstbewusstsein und haben einen Drang zur Selbstinszenierung oder Narzissmus. Vielen geht es zudem gar nicht um den möglichen Sieg einer Show, sondern um den höheren Bekanntheitsgrad. Die Sendungen sind nur ein Mittel für die größere mediale Aufmerksamkeit. Aus diesem Grund wirken manche Handlungen und Reaktionen im Trash-TV überzogen und unauthentisch. Dafür aber kann Promiflash den nächsten Artikel über diese

schreiben. Es geht stetig darum, im Gespräch zu bleiben. Talent steht dabei an zweiter Stelle oder wird gar nicht erst benötigt. Den größten Erfolg haben diejenigen, die in der Show am meisten polarisieren, Zickenkrieg anzetteln oder ein persönliches Schicksal teilen. Der Schnitt verstärkt das Ganze meist noch. Durch ihn werden die Kandidat*innen in stereotype Rollenbildern gezeigt. Nicht selten wird die Frage nach der Echtheit der ausgestrahlten Situationen gestellt.

Darüber hinaus befinden sich die Teilnehmer in einer Wiederverwertungskette. Oftmals ist ihr erstes Format nur der Anfang. Im Idealfall werden sie regelmäßig für neue Shows gebucht. Schließlich bestreiten viele dadurch ihren Lebensunterhalt. Was tut man nicht alles, um ein echter Star zu sein!?

An Trash-TV-Shows wird ebenfalls kritisiert, dass dort so ziemlich alle Kandidat*innen den Schönheitsidealen entsprechen und somit wenig Vielfalt präsentiert wird. Menschen mit Beeinträchtigungen sind in den typischen Datingshows beispielsweise gar nicht vertreten.

Eigentlich sieht man ausschließlich super durchtrainierte, top gestylte Teilnehmer*innen, welche

Von Misstrauen, starker Eifersucht oder einer ungesunden Streitkultur ist alles dabei .
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einen seinen eigenen Körper hinterfragen lassen können. Ebenso zeigt sich nicht selten, dass einige Kandidat*innen bereits mehrere schönheitsmedizinische Eingriffe vollzogen haben. Gerade das Glorifizieren und vor allem Normalisieren dieser Eingriffe ist dabei bedenklich. Laut der Mental Health Foundation sind fast 24% der 18-bis-24-Jährigen durch den Konsum von Trash-TV besorgt um ihr eigenes Körperbild.

Formate ohne Grenzen

Körperliche Ausschreitungen sind in der Trash-TVWelt leider keine Seltenheit. Einige Kandidaten wurden dafür bereits aus den Sendungen geschmissen. Doch muss es erst handgreiflich werden, bis die Produktion eingreift? Sind nicht auch verbale Übergriffe zu ahnden? Sascha Nolden war letztes Jahr Kandidat bei Ex on the Beach und traf in dem Format auf seine einstige Liebschaft Jill Lange. Ihm brannten die Leitungen durch. Er drohte ihr Gewalt an und trat gegen Blumentöpfe. Aber nicht nur er leistete sich so einen Fehltritt. Auch Kandidatin Leyla Lahouar ließ an dem Abend ihrer Wut freien Lauf und schlug auf ihren Ex Teezy ein. Sie musste ebenfalls ihre Koffer packen und die Show verlassen. Das alles innerhalb weniger Folgen.

Oft wird vieles darauf ausgerichtet, ein möglichst hohes Streitpotenzial hervorzurufen: Viel Alkohol, kein Zeitgefühl, keine Privatsphäre und Nominierungen, welche Kandidat*innen als nächstes gehen sollen, bilden den idealen Nährboden für Konflikte. Diese Ausschreitungen werden von den Sendern unkommentiert veröffentlicht. Die richtige Einordnung und Bewertung wird also dem Zuschauer*innen überlassen.

Dating und Beziehung

Beliebte Trash-TV-Formate sind vor allem Datingshows oder Couple Challenges, bei denen mehrere Paare gegeneinander antreten. Die dabei gezeigten Verhältnisse haben oftmals allerdings keinen Vorbildcharakter.

In vielen dieser Beziehungen sind sogenannte Red-Flags, also Warnzeichen, erkennbar. Diese deuten häufig auf toxische Beziehungen hin. Ein Begriff, der momentan zum Modewort geworden ist und den viele wahrscheinlich schon zu Hauf gehört haben.

Größere Diskussionen über das Zur-Schau-Stellen von bedenklichen Partnerschaften kamen durch Mike Cees auf. Er war 2021 zusammen mit seiner Freundin Michelle Teilnehmer beim Sommerhaus der Stars. Für die tägliche Kritik an seiner Partnerin sowie Vorgaben bei der Kleiderauswahl und dem Verhalten, erntete Mike reichlich Kritik. Viele Zuschauer*innen konnten nicht nachvollziehen, wie Michelle es

in dieser Beziehung aushält.

Patrick Romer zeichnete im Sommerhaus der Stars ebenfalls ein Bild bedenklichen Verhaltens. Dauerhafte Erniedrigungen und Beleidigungen konnte er auch nicht sein lassen, wenn seine Partnerin Antonia bereits am Weinen war. Entschuldigungen seinerseits gab es dabei nur sehr selten. Die Schuld sah er in Antonia. Liebevolle Worte oder Nachfragen, wie es ihr geht: Fehlanzeige.

Der Rat von Freunden oder der Familie wird dabei ignoriert oder nicht ernst genommen. Oftmals möchte man seine Situation auch nicht anerkennen und rechtfertigt oder verteidigt seine Beziehung. Denn es gab ja auch gute Zeiten.

Speziell im Fernsehen erleben wir Dating und Beziehungsanbahnungen im Zeitraffer. Dort steht den Kandidat*innen nur ein sehr kurzer Zeitraum zum Kennen- und Liebenlernen zur Verfügung. Umso extremer sind dabei die Aufs und Abs. Eine „toxische“ Beziehung ist allerdings, laut Prof. Dr. Christian Roesler, kein wissenschaftlicher Begriff. Und in manchen Fällen muss man sich auch die Frage stellen, ob wirklich nur eine Person dieses Gift mit in die Beziehung bringt. Oft ist es auch das Zusammenspiel von Charaktereigenschaften, die letztlich zu einer dysfunktionalen Beziehung führen.

Leben in der Öffentlichkeit

Beziehungen oder auch nur bloße Annäherungen im Fernsehen werden einer breiten Öffentlichkeit präsentiert, weswegen das allgemeine Interesse auch nach Drehschluss einer Sendung weiterhin bestehen bleibt. Die Kandidaten laden letztlich dazu ein, ihr Verhältnis zu beurteilen. Sie werden dazu aufgefordert, Statements und Updates zu ihrem aktuellen

Antonia Hemmer kommen die Tränen nach erneuter Demütigung durch ihren damaligen Freund Patrick Romer. Bild: RTL
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Dauerhafte Erniedrigungen und Beleidigungen konnte er nicht sein lassen, auch wenn seine Partnerin bereits am Weinen war.

Beziehungsstatus zu geben und dazu, wie die Entwicklung nach der Show war.

Bei einigen Trash-TV-Formaten gibt es sogar bereits Reunions, bei denen alle Teilnehmer*innen einige Wochen später nochmal zusammenkommen und über die Geschehnisse diskutieren. Meist jedoch auf eine eher unsachliche Art.

Diese große mediale Aufmerksamkeit erzeugt natürlich zusätzlichen Druck. Die Pärchen wollen sich im Anschluss entweder so gut und harmonisch auf Social Media darstellen, wie es nur geht, und belügen sich dabei letztendlich selbst. Oder wenige Monate nach Drehschluss folgt die Trennung mit anschließendem Rosenkrieg, um weiterhin im Gespräch zu bleiben.

Was ist das Faszinierende an Trash-TV?

Beim Großteil der Zuschauenden sind die Einschaltgründe von Trash-Sendungen Unterhaltung und Langeweile. Diese Formate haben keinerlei Bezüge zu aktuellen politischen Themen oder Krisen. Sie sind daher quasi die perfekte Ablenkung vom Alltag – eine Art Flucht aus der Realität.

Ständige Streitigkeiten und Lästereien sind jedoch nicht für jeden akzeptabel. Haben demnach die treuen Zuschauenden eine Art Dramasucht?

Auch wenn das eigene Verhalten umso reflektierter sein kann, ist es dennoch interessant, diese sozialen Dynamiken zu beobachten. Man hat einen gewissen Abstand dazu und oftmals sind es Situationen, die man so auch aus seinem Umfeld kennt. Man kann hautnah dabei sein und baut eine ironische Distanz zu den Kandidat*innen auf. Vermehrt spielt auch eine gewisse Schadenfreude oder das Bedürfnis, sich über andere zu erheben, eine Rolle.

Als Zuschauer*in denkt man ebenfalls, dass man selbst Situationen viel besser verstanden hätte als die Kandidaten und besser damit umgegangen wäre. In ein toxisches Verhältnis zu kommen, wäre einem selbst daher nie passiert?!

Sowas ist natürlich einfach zu behaupten. Für unser eigenes Verhalten haben wir oft Rechtfertigungen. Bei anderen sind wir viel strenger in der Beurteilung. Trash-TV-Zuschauer*innen werden häufig in den Zusammenhang mit fehlender Bildung gebracht. Nicht selten bekommt man leicht abwertende Blicke, wenn man das Thema anspricht.

Die Frage, ob und wie stark der Konsum unsere Wahrnehmung beeinflusst, hängt sicherlich auch davon ab, wie reflektiert man selber ist. Die Formate können einem schließlich auch die Distanz zum eigenen Verhalten widerspiegeln. Unterbewusst findet höchstwahrscheinlich bei den Meisten zumindest eine kleine Beeinflussung statt. Diese kann sowohl nützlich sein, wenn man die Verhaltensweisen als Negativbeispiele ansieht, aber allen voran sind sie schädlich. Die Zuschauenden sind vermehrt noch sehr jung. Die Sendungen tragen demnach auch einen Teil zu ihrer Identitätsbildung bei.

Viele Trash-Formate laufen unter dem Deckmantel, die große Liebe zu finden oder Geld zu gewinnen. Häufig geht es aber darum, Menschen bloßzustellen und Fremdscham beim Zuschauenden auszulösen; denn das bringt gute Einschaltquoten. Empathielosigkeit als Geschäftsmodell – dafür sind heutige Produktionsfirmen bekannt.

Letzten Endes liegt es im Ermessen jedes Einzelnen, welche Sendungen eingeschaltet werden. Aber man kann es auch niemandem verübeln, moralische Bedenken zu äußern. Regelmäßig kommt es zu Ausnutzung und Demütigungen von Kandidat*innen.

Fest steht: Trash-TV ist sicherlich kein Bildungsfernsehen und viele Verhaltensweisen haben definitiv keinen Vorbildcharakter. Dabei gilt es auch, zu fragen, was die eigentliche Aufgabe der Medien ist.

Ob und wie lange die Erfolgsformel des TrashTVs anhält, lässt sich nicht sagen. Sicherlich wird es immer ein gewisses Interesse an skandalisierten Alltagen geben, aber vielleicht reicht einigen auch das Maß an Trashpotenzial im eigenen Leben.

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Catcalling – Pfeifen, penetrantes Hinterherlaufen und sexuell aufdringliche Sprüche: 90 Prozent der Frauen kennen dieses alltägliche Phänomen der verbalen sexuellen Belästigung auf der Straße aus eigener Erfahrung. Doch was von Belästigern belächelt und als Kompliment abgetan wird, hat oft schwerwiegende Folgen für die Betroffenen.

Die 22-jährige Anastasia ist auf dem Weg nach Hause. Plötzlich spürt sie, wie jemand sie antippt. Sie nimmt ihre Kopfhörer ab, und dreht sich um. Da steht ein Mann. Fragend hebt sie die Brauen. „Ich wollte nur sagen, dass ich dich sehr hübsch finde. Wie heißt du denn?“, fragt er. „Danke für das Kompliment. Ich heiße Anastasia, habe aber einen Freund“ sagt sie ausweichend. „Ach so, okay. Aber dir einen schönen Abend noch.“ Er wendet sich ab. „Danke. Dir auch.“ Ein bisschen erleichtert setzt sie die Kopfhörer wieder auf. Aus Erfahrung weiß sie, dass sich nicht alle Männer so leicht abwimmeln lassen. Aber das war ja mal ein gutes Gespräch.

Anastasia setzt ihren Weg nach Hause fort. Nach etwa 20 Minuten hört sie jemanden hinter sich rufen. Zunächst ignoriert sie den Mann, der immer schneller auf sie zugelaufen kommt, bis sie ihn aus

geht weiter. Will endlich weg von ihm. Doch er läuft weiter neben ihr her. „Ich bin nicht einsam“ sagt sie „Ich habe einen Freund und ich muss dir das auch nicht beweisen.“ Sie merkt wie die Anspannung in ihr wächst. „Jetzt komm schon“ sagt er und legt ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckt reflexartig zusammen. Er grinst und schaut ihr in die Augen, „Wir beide hätten doch bestimmt ‘ne Menge Spaß.“ Bevor Anastasia etwas erwidern kann, kommen zwei junge Männer an ihre Seite und sagen dem Mann, er solle sie jetzt endlich in Ruhe lassen. Daraufhin spuckt er auf den Boden und ist weg.

Man möchte es kaum glauben, aber solche und schlimmere Situationen, wie sie Anastasia erlebt hat, passieren hier in Deutschland täglich auf der Straße. Diese Form von verbaler sexueller Belästigung, für die der englische Begriff Catcalling verwendet wird,

CHILL MAL, PUPPE!

dem Augenwinkel wieder erkennt. Es ist derselbe Mann wie vorhin. „Hey warte! Ich laufe dir schon voll lange hinterher, aber du hast mich nicht gehört. Was machst du denn jetzt noch?“ fragt er. „Ich fahre zu meinem Freund“ sagt sie. „Ach. Komm doch lieber mit mir ‚ne Shisha rauchen.“ Fordernd schaut er sie an. Ein bisschen genervt sagt sie: „Ich gehe jetzt bestimmt nicht mit einem fremden Mann eine Shisha rauchen.“ Doch er ignoriert ihre Worte. „Irgendwie glaube ich dir nicht, dass du vergeben bist. Zeig mal deinen Freund. Mein Kollege sagt immer, die schönen Frauen werden nie angesprochen, weil sich niemand traut und deshalb sind sie alle einsam.“ Anastasia

ist in unserer Gesellschaft fest verankert und besonders für viele junge Frauen längst Bestandteil des Alltags. Aber natürlich sind auch Männer, unter ihnen besonders Vertreter der LGBTQ-Community, und diverse Personen nicht von Catcalling ausgeschlossen. Unter dem Begriff werden unter anderem herabwertende, sexuelle Sprüche, aufdringliche Blicke, penetrantes Hinterherlaufen oder Kussgeräusche zusammengefasst. 2021 führte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen eine Studie zum Thema Catcalling durch. Das Ergebnis: 90 % der befragten Frauen hatten schon Erfahrung mit Catcalling gemacht. Und obwohl Catcalling die häufigste

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Form von sexueller Belästigung ist, wird sie von vielen belächelt. Denn was soll ein Kommentar über die äußere Erscheinung schon in einem auslösen? Vielleicht freut sich die ein oder andere ja sogar über den Kommentar oder nimmt diesen als Kompliment hin. Und sowieso: Kann man als Mann heute überhaupt noch irgendetwas sagen, ohne dass es direkt als sexuelle Belästigung wahrgenommen wird?

So oder ähnlich wird Catcalling wohl von den Belästigern verharmlost. Dass ihre Kommentare alles andere als ein Kompliment sind und ihre unbedachten Sprüche ernste Folgen nach sich ziehen – daran denken wohl die Wenigsten. Muskelverspannungen, Schwindel und Atembeschwerden sind nur einige der vermehrt auftretenden physischen Beschwerden. Doch besonders leidet die Psyche unter der ständigen Sexualisierung. Viele Betroffene geben an, aus Angst vor einer Belästigung ihren Weg nach Hause ändern zu müssen, oder einfach nicht

mehr rausgehen wollen, sobald es dunkel wird. Opfer von Catcalling sind auch anfälliger für chronische Angstzustände, Essstörungen und Depressionen. Die Erfahrungen mit den Belästigern sitzen nämlich tief. Und das auch oft noch Jahre später.

So auch bei der 22-jährigen Linda aus Braunschweig. An ihre erste Erfahrung mit Catcalling denkt die Studentin nämlich bis heute noch oft zurück. Sie war damals erst neun Jahre alt und auf dem Weg nachhause durch den Prinzenpark gelaufen. Dort kam sie an einer Gruppe Männer vorbei, die sie sexuell anguckten und ihr aufdringlich hinterherpfiffen. Mittlerweile kann die 22-jährige, genau wie viele andere Frauen in ihrem Alter, von vielen solchen Momenten erzählen. Momente, einer ekliger als der andere.

„Es ist einfach krass, wie absolut normalisiert es ist, dass man ständig auf der Straße objektifiziert und sexualisiert wird“, erzählt sie „Es ist schließlich psychische Gewalt und es sollte niemals normal sein, dass fast jede Frau auch schon als Kind damit in Berührung kommt. Ich wurde mittlerweile schon so oft gecatcallt und weiß, dass es bei all meinen Freundinnen nicht anders ist. Wir müssen uns täglich in schreckliche, unangenehme und ekelhafte Situationen begeben und es wird nichts dagegen getan. Als wäre es kein Problem. Es wird einfach erwartet, dass wir alleine damit fertigwerden oder uns daran gewöhnen. Es sollte doch nicht normal sein, dass ich immer Angst habe, an einem Mann vorbei zu gehen, sobald es dunkel wird.“

Besonders erschreckend findet sie es, wie die Täter ihr Verhalten verharmlosen. „Es ist einfach so krass, wie Typen dann so sagen: ‚Man kann heutzutage gar keine Komplimente mehr geben ohne, dass das dann direkt als sexuelle Belästigung wahrgenommen wird‘, wo ich mir so denke: ‚Geiler Arsch, Puppe‘, ist kein Kompliment.“ Tauscht man sich mit den Betroffenen über die vielen, ekelhaften Catcalling-Geschichten aus, fällt es schwer zu glauben, dass dieses Thema in der Gesellschaft so untergeht. Darf verbale sexuelle Belästigung in dem Maße wie es Anastasia, Linda und zahlreiche andere jeden Tag erfahren, normal sein? Gibt es überhaupt jemals eine Situation, in der verbale sexuelle Belästigung gerechtfertigt sein kann und nicht als strafbar eingestuft werden sollte? Natürlich nicht.

Aber so ist es eben bei Catcalling. Viele schauen weg, oder sehen das Problem gar nicht. Von den Betroffenen wird erwartet, dass sie es so hinnehmen. Oder warum nicht einfach ein Pfefferspray einpacken? Die Männer meinen es ja nicht böse. Was ziehen die Frauen im Sommer bei über 30 Grad aber auch wenig an. Da sind sie ja eigentlich selbst schuld, oder? Nein, natürlich nicht. Eigentlich sollte man annehmen, dass die Täter selbst merken, wie absolut schwachsinnig ihre Begründungen klingen. Ein Kleidungsstück darf nicht zur Rechtfertigung sexueller Belästigung werden. Da kann Deutschland in Sachen Catcalling noch einiges lernen. Denn wenn die Täter nicht von selbst mit der ständigen Sexualisierung aufhören, muss eben der Staat eingreifen. So wie in Frankreich, Portugal und Belgien. Dort wird Catcalling bereits mit Geldbußen bestraft. Aber warum nicht in Deutschland?

Vor drei Jahren startete die Studentin Antonia Quell in Deutschland eine Petition unter dem Namen: Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein. Und trotz fast 70.000 Unterschriften ist nichts daraus geworden. Drei Jahre später bleibt Deutschland dabei:

Sexuelle Belästigung fängt mit einer physischen Berührung an, alles davor kann höchstens als Beleidigung eingestuft werden. Beleidigungen können sich natürlich auch tief setzen, aber die Art wie Catcalling die Psyche angreift und der Fakt, dass es ein so omnipräsentes Problem in der Gesellschaft ist, sollte eigentlich Grund genug sein, härter dagegen vorzugehen. Für die Menschen, die noch nie Erfahrungen mit dieser Art der ständigen Sexualisierung gemacht haben, ist es oft nicht nachvollziehbar, wie sich die Betroffenen in so einer Situation fühlen. Aber ständig abwertende oder aufdringliche Kommentare von Menschen, die es sich einfach herausnehmen über Geschlecht, Kleidung oder sexuelle Orientierung zu urteilen, ohne dass sie im Geringsten ein Recht darauf haben, müssen bestraft werden.

Daher ist es wichtig, weiter über Catcalling und seine Folgen aufzuklären. Gerade viele Männer sehen oft nicht, wie sehr diese Form von sexueller Gewalt in unserer Gesellschaft verankert ist und, dass selbst ein nach außen harmlos erscheinender Kommentar, schwerwiegende Folgen mit sich trägt. Dabei sollten sich gerade die Menschen, die noch keine solche Erfahrungen machen mussten, bewusst sein, dass auch sie eine wichtige Rolle in der Bekämpfung einnehmen können. Sie können einen Dialog mit Belästigern aus der Freundesgruppe starten, aber auch den Opfern beistehen, sollte eine Tat beobachtet werden, wie bei Anastasia.

Der erste Schritt zur Bekämpfung bleibt die Aufklärung und leider wissen immer noch viel zu wenig Menschen Bescheid, was sich jeden Tag auf den Straßen abspielt.

„Es ist krass, wie absolut normalisiert es ist, dass man ständig auf der Straße objektifiziert und sexualisiert wird.“
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Mama, wo bist du?

Ungefähr 25 Jahre hat ein Kalb vor sich. Ein Leben, das auf unterschiedliche Weisen verlaufen kann. Vielleicht wird das Kalb an der Seite der Mutterkuh im Familienverband groß werden. Vielleicht wird es dem Tier auch ganz anders ergehen.

Sobald das Kalb das Licht der Welt erblickt hat, entwickelt sich zwischen Mutter und Kind eine tiefgreifende Bindung. Die Mutter sucht ihr Kalb in den ersten Tagen am Geburtsort für das Säugen am Euter auf und leckt es ab. Oft reiben sie liebevoll ihre Köpfe aneinander. Rindern ist es möglich, einen Geruch in zehn Kilometern Entfernung wahrzunehmen und darüber hinaus sehen sie in der Ferne noch scharf. Durch Laute, Körperhaltungen und Pheromone verständigen sie sich. Zufriedenheit, Interesse und auch andere Emotionen, wie Wut, Leid und Angst können sie zum Ausdruck bringen.

Sozialbeziehungen sind wichtig für Rinder: Der Verlust von besten Freunden und Familienmitgliedern geht ihnen nahe. Ein Anführer kennzeichnet das komplexe Herdensystem, indem sich jedes Rind über seinen Status bewusst ist. Er wird nach Führungsqualitäten, wie Intelligenz und Erfahrenheit, ausgesucht. Die Tiere freuen sich über intellektuelle Herausforderungen und leben auf eine sozial vielschichtige Weise. Unter anderem können sie den Hebel einer Tränke für Wasser oder den Knopf an einer Maschine für Weizen betätigen.

Das Leben des Kalbs wird anders verlaufen, wird es von einer Milchkuh in der Intensivtierhaltung geboren. Das Leben startet schon von Anfang an anders, denn unmittelbar nach der Geburt wird das Kalb der Mutterkuh genommen. Die Nahrungsaufnahme erfolgt nun aus Eimern oder Getränkeautomaten. Mit einem heißen Brennstab werden dem Kalb dann die mit Nerven durchzogenen Hörner abgetrennt, welche eigentlich für Körperpflege und Wärmeregulierung nötig sind.

Liegeboxen, Fressgitter, Melkbereiche und Laufgänge: Sie definieren fortan das Zuhause des Kalbs. Fremde Kühe leben mit dem Tier in einer Halle, auf-

grund der Enge reagieren manche aggressiv. Der Boden besteht aus Beton oder aus Spaltenböden. Außerdem gibt es automatische Entmistungsanlagen, welche junge und geschwächte Rinder in den Gülleabfluss schieben.

Im Gegensatz zu dieser Haltungsform, also der Laufstallhaltung, könnte das Kalb fortan auch in der Anbindehaltung leben. Um den Hals wird ein Gurt, Ketten oder ein Halsrahmen gelegt. Nun wird es im Anbindestand stehen und zwar fixiert. Dieser Ort vereint den Ess- und Liegeplatz. Sollte die Kuh es in der Enge schaffen, sich hinzulegen, liegt ihr Euter in ihren eigenen Exkrementen. Das durchgängige Stehen führt zu Muskelüberdehnungen, einer Fehlstellung der Vordergliedmaßen und Druckstellen sowie Geschwüren an den Klauen. Nach fünf bis sechs Jahren endet das Leben der Kuh.

In der konventionellen Weidehaltung wird das Kalb ebenfalls ohne Mutter groß. Es darf durchschnittlich 25 Wochen jährlich auf der Weide leben, den Rest des Jahres verbringt das Tier in eine der anderen beiden Haltungsformen. In diesen können natürliche Grundbedürfnisse nicht ausgelebt werden. Dazu gehören normalerweise Erkunden, Gehen, Grasen, Ruhen oder Galoppieren. Auch das Sozialverhalten kann nicht entfaltet werden.

2019 lebten in Deutschland von ungefähr 11,6 Millionen Rindern etwa vier Millionen Kühe in der Intensivtierhaltung. Allein für die Produktion von Milch. Wie das Leben des Kalbs aussehen wird, kann es selbst nicht beeinflussen. Angebot und Nachfrage bestimmen unseren Markt – sinkt die Nachfrage nach Produkten von Kühen aus der Intensivtierhaltung, sinkt auch das Angebot. Das Schicksal eines Individuums liegt in den Händen der Konsument*innen.

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Text • Lara-Malin Blazek

Du bist kein Gewinner

Verlockendes Angebot trotz unkontrollierbarem Risiko: Die Sportwetten-Branche boomt. Doch hinter den glitzernden Fassaden der Wettanbieter lauert die dunkle Realität, welche eine Menge Gefahren mit sich bringt und dringend unter die Lupe genommen werden muss.

Text • Lennard Burghardt

Illustration • Marie Juchems

Der erste Kontakt

Wochenende. Wohnzimmer. Gemütliches Sofa. Fernseher an. Sky. Bundesligakonferenz. Noch ein Werbeblock. Und Bum! Auf einmal hörst du epische Musik. Junge, stylische Männer fahren in teuren Autos durch das rot-verregnete Bild. Eine tiefe Stimme motiviert dich und sagt dir, dass auch du dabei sein kannst. Mach dich zum Original. Sei Teil des Spiels und werde wie sie, ein Gewinner. Die Tipico-Werbung ist nur ein Beispiel, der zahlreichen Unternehmen, um die man bei Sport-Übertragungen nicht herumkommt. Lothar Matthäus will dich zu Inter-Wetten locken, Laura Wontorra sagt dir, wie professionell NEObet sei und Frederik Lau konfiguriere seine Wette bei bet365. Sie sind überall. Doch wann hat das übermäßig aggressive bewerben der Sportwetten-Industrie angefangen und wer sind ihre Kunden*innen? Wie gefährlich ist die Branche für unsere Gesellschaft?

Der Elefant im Raum

Acht Millionen Nutzer*innen und ein Gesamtumsatz des Sportwettenmarktes im Jahr 2021 von 9,4 Milliarden Euro. Innerhalb eines Jahres stieg dieser, laut Statista, durch den neuen Glücksspielstaatsvertrag um 20,7 Prozent. Die Branche boomt. Der Staat macht sich ebenfalls die Taschen voll. Aber zu welchem Preis?

Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2020 haben etwa 326.000 Menschen der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland ein problematisches Spielverhalten. Und mit der aktuellen Werbetrommel wird das nicht weniger werden. Der emotionale Kick, die

Unvorhersehbarkeit, die durchgängige Verfügbarkeit oder auch die Flucht aus dem Alltag sind Gründe für das Platzieren einer Wette.

Auch Timo (31), Familienvater aus Hannover, kennt das. „Es ist einfach ein cooler Nervenkitzel, wenn du mit deinen Jungs samstags Bundesliga schaust.“ Er selbst spielt seit elf Jahren bei Tipico. Momentan setzt er 200 Euro im Monat. Jeder aus seinem Freundeskreis wettet hin und wieder. Abends nach dem Fußballtraining wird mit seiner Truppe philosophiert. „Was sind die besten Quoten, wer setzt wie viel? Das ist schon spannend.“ Das Wetten ist in weiten Kreisen der Gesellschaft völlig akzeptiert und hat ein viel besseres Image, als sich beispielweise an einen Spielautomaten zu setzen. So wird aus dem sensiblen Themen Sucht und Sportwetten Normalität.

Woher kommt der Hype?

Die Gründe für den Hype um Sportwetten sind zunächst recht simpel. Die Kombination aus der Chance, Geld zu gewinnen und der Faszination für Sportereignisse, führt zu einer attraktiven Beschäftigung

Wir werden von der Chance auf den schnellen Gewinn
nahezu überschüttet.
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für viele Menschen in Deutschland. Trügerisch ist dabei vor allem die Annahme, man hätte mit dem eigenen Wissen einen Vorteil, wodurch ein Gewinn als wahrscheinlicher empfunden wird, als er eigentlich ist. Ein weiterer Grund für die Beliebtheit ist die zunehmende Verfügbarkeit von Online-Wettplattformen in den letzten Jahren. Entspannt vor dem Fernseher sitzend, ist die nächste Wette nicht weit entfernt. Für ein bisschen mehr Spannung werden auch mal ein paar Euros investiert.

In Deutschland haben laut des Marktforschungsinstituts Forsa im Jahr 2020 etwa acht Millionen Menschen in Deutschland an Sportwetten teilgenommen. Die genaue Anzahl ist allerdings schwer zu bestimmen und wahrscheinlich höher, da viele Wetten online oder im Ausland platziert werden, wo sie nicht erfasst werden. Hier können wir das erste Problem der Branche bestimmen: Die Intransparenz.

Um zu verstehen, wieso wir mit so viel Werbung für die Branche konfrontiert werden, lohnt es sich, einen Blick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen zu werfen. Bis Mitte 2021 galt in Deutschland der Glücksspielstaatsvertrag von 2012, der private Anbieter weitgehend verbot. Als unbeteiligte Person,

Für ein bisschen

mehr Spannung werden auch mal ein paar Euros investiert.

denkt man sich jetzt wahrscheinlich folgendes: Es gab doch auch schon vor 2021 etliche Anbieter von Sportwetten. Ja! Und hier beginnt die Verschachtelung einer intransparenten Industrie. Private Anbieter nutzten Konflikte des Glücksspielstaatsvertrages mit dem EU-Recht aus, um ihre Unternehmungen ohne jegliche Strafen durchzuführen. Laut dem Glücksspielvertrag von 2012 war das Anbieten von Sportwetten jedoch schlichtweg illegal. Seit Juli 2021 ist es privaten Anbietern mit einer Lizenz in Deutschland nun erlaubt unter angeblich strengen Voraussetzungen Sportwetten legal anzubieten. Der Grund, warum die Politik die Richtlinien gelockert hat? Klar, kann man hier Argumente wie Bekämpfung des Schwarzmarktes oder die Anpassung an die europäische Rechtsprechung nennen. Aber ich würde sagen,

dass das Hauptargument, wie so oft, Geld ist. Auf Anfrage hat mir das Land Niedersachsen sowie die Glücksspielbehörde leider keine Auskunft geben wollen. Der Staat jedenfalls erhält von jeder getätigten Wette bei einem lizensierten Anbieter 5 Prozent des Wetteinsatzes.

Somit hat die Industrie ab Juli 2021 Vollgas gegeben! Werbung über Werbung über Werbung. Wo soll ich mich zuerst anmelden? bwin, Tipico, betat-home, bet365, bet3000, NEObet, Betano? Diese Auflistung könnte man über viele Zeilen weiterführen. Wir werden von der Chance auf den schnellen Gewinn nahezu überschüttet.

Spielerschutz

Und der Spieler*innenschutz? Der ist mehr Schein als Sein. Effektive Mechanismen sind eher Fehlanzeige. Für Maßnahmen wie Einzahlungslimits, Verlustlimits oder Selbstsperren gibt es keine effektive Überwachung, ob sie tatsächlich genutzt werden oder ob sich Spieler einfach bei anderen Anbietern anmelden. Da es keine zentrale Datenbank gibt, ist dies nämlich problemlos möglich. Wie soll hier also ein vollständiges Bild des Spielverhaltens entstehen?

Ebenso gibt es kein Verbot für Boni und Angebote. So werden Spieler auf manipulative Art und Weise immer wieder in den Wettzyklus gelockt. Für Menschen mit Suchtpotential eine Foltermethode. „Hey, du hast drei Monate nicht gewettet?! Na komm, wir schenken dir eine 10 Euro Gratis-Wette. Vielleicht räumst du diesmal den großen Gewinn ab.“ Wie nett von unseren freundlichen Wettanbietern. Und wenn die Spieler wieder in der Welt der Wetten gefangen sind, gibt es keine effektive Unterstützung, um sie wieder herauszuholen. Der Weg zu einer Therapie ist meist steinig und schwer. Zu wenig Unterstützung gab es ebenfalls bei meiner Recherche seitens der Wettanbieter. Die meisten meldeten sich gar nicht zurück. Wenn man jedoch mal so gnädig war und antwortete, wurde es noch unbefriedigender. Tipico hat meine Nachricht angeblich an die zuständige Person weitergeleitet. Die Person muss wohl ziemlich viel zu tun haben. Antwort: Fehlanzeige. Bet365 musste mich leider enttäuschen: „Leider haben wir keine Kontaktperson oder eine Abteilung, welche ihnen helfen kann.“ Da muss Bet365 wohl Kosten sparen, wenn es dafür noch nicht reicht. Trotz 2,7 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2018 scheinen sie wohl bisher noch kein Geld für eine Presseabteilung ausgeben zu wollen. Keine Pointe.

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tipico 3 Mio. Kunden 570 Mio. Umsatz bwin 20 Mio. Kunden 611,9 Mio. Umsatz bet365 35 Mio. Kunden 2,7 Mrd. Umsatz bet-at-home 4 Mio. Kunden 470 Mio. Umsatz Verschiedene Wettanbieter im Vergleich 52

Der Abgrund Die etlichen anderen Anbieter, die ich versucht habe zu kontaktieren, haben überhaupt nicht reagiert. Aber auch das hat seine ganz eigene Aussagekraft und passt für mich genau in das Bild einer moralisch fragwürdigen Industrie.

Die Gegenbewegung

Das Thema ist mittlerweile so groß, dass es immer mehr Bewegungen gegen die Sportwettenbranche gibt. „Kaum eine andere Sucht treibt so oft in den Suizid. Die Werbung auf Trikots, vor der Sportschau oder im Internet verführt gerade junge oder spielaffine Menschen zum Zocken.“, so der Sucht- und Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Burkhard Blienert, in einem Interview zum Thema Werbebeschränkungen.

Wie oft kommt es zu Wettmanipulationen? Betreiben kleine, unbekannte Wettlokale lediglich Geldwäsche? Die Sportwettenbranche hat so einiges an rechtlich und moralisch fragwürdigen Abläufen zu bieten. Alles zu durchblicken: Nur schwer möglich. Zu groß die Industrie. Immer wieder gibt es Schlagzeilen über Wettmanipulationen in der Welt des Sports. Letztes Jahr gab es Gerüchte um Schiebungen von Spielen im Tennis. Laut Eurosport sollen zwei Top50 Spieler beteiligt gewesen sein. Noch frischer ein Gerücht aus dem brasilianischen Fußball. Hier sollen über 20 Spieler Spiele für Geld manipuliert haben, so die FAZ. Und auch innerhalb des europäischen who is who des Sports wird es immer wieder Fälle geben, die oft genug nicht auffallen. Wer das nicht wahrhaben will, ist meiner Ansicht nach ziemlich naiv.

Eine weitere Bewegung ist Unsere Kurve, das größte Fanprojekt in Deutschland. Ein Verein, dem eine sechsstellige Anzahl von aktiven Fans anhängen und er machte immer wieder auf das Problem aufmerksam. Der Verein möchte Fußball als Kulturgut auch in der Zukunft sichern und fordert von der fußballpolitischen Welt, dass alle Fußballverbände ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden und DFB und DFL keine Kooperationen mehr mit Sportwettenanbietern eingehen sollen. Ebenso fordert der Verein auf der eigenen Website einen massiven Ausbau von Präventionsmaßnahmen und Anlaufstellen in den Bereichen Sucht und Glücksspiel.

Der Berg an Fragen ist für mich aber noch lange nicht abgearbeitet. Sitzt Tipico auf Malta aufgrund von maximalen Steuerersparnissen?

Endlose Werbungen. Menschen, die sich in den Ruin stürzen, Manipulationsversuche oder Gefährdung der Jugend. Es gibt etliche Gründe, warum das Bewerben von Sportwetten eingeschränkt werden sollte. Und wenn es nach mir ginge, würden wir es wie mit Zigaretten handhaben. Striktes Werbeverbot. Also liebe Politik, tauscht eure tollen Einnahmen bitte gegen das Wohl der Allgemeinheit aus und hört mit dem Mist auf. Letztendlich ist das Wetten für viele eine einzige Qual und Sucht zugleich. Nur brennt dir diese Sucht nicht deine Lunge weg, nein. Sie reißt deine Psyche mit ihren gierigen Händen so sehr an sich, bis sie dich und dein Leben ausgenommen hat und dich verkümmert im Regen liegen lässt. Denn die Werbung, die du siehst, das rot-verregnete Licht, die teuren Outfits und schicken Autos: Das bist nicht du. Du bist kein Original. Du bist kein*e Gewinner*in. Die in den Werbungen dargestellte Gewinnerin, ist die Industrie. Und du? Du bist höchstens derjenige, den sie ausgenommen haben und derjenige, den sie nicht mal eines Blickes würdigen, wenn du nicht mehr zahlen kannst. Du bist einer von 326.000!

„Kaum eine andere Sucht treibt so oft in den Suizid . Die Werbung verführt gerade junge oder spielaffine Menschen zum Zocken.“
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Tut etwas!

Gesichtsgitter und Hörsaal

Viele Athleten belegen neben ihrem Sport Module an den Universitäten und Hochschulen des Landes. Hendrik Scharnbacher studiert an der Technischen Universität in Braunschweig und spielt American Football bei den New Yorker Lions.

110 Dezibel. So laut wie ein vorbeifahrender Personenzug. Wenn die Helme der schweren Jungs aneinander rasseln, scheppert es mit teils ohrenbetäubender Lautstärke. Hendriks Augen erblicken die volle Breite des Spielfelds. 21 Männer, jeder davon hat eine eigene Aufgabe. Auf „Set, Hut“ geht ́s los, bei jedem Spielzug geht der Ball erst durch die Hände von Hendrik. Der Spielmacher hat die Aufgabe, seine Mitspieler mit Pässen zu bedienen, während große und schwere Jungs, die ihm alle nichts Gutes wollen, versuchen, ihn umzutacklen. Hendriks Augen bewegen sich zunächst Richtung Seitenlinie, keiner seiner Passempfänger ist heute flinker als die Verteidigung. Als Hendrik seinen Blick Sekundenbruchteile später der Mitte des Feldes widmet, ist bereits ein 1,96 großer, 100 Kilo schwerer Gegner Zentimeter vor seinem Gesichtsgitter.

Vor jedem Spielzug muss Hendrik seinen Mitspielern mitteilen, was sie zu tun haben. Zirka 200 dieser Spielzüge muss er sich in der Saison merken. Heute ist zum Glück nur Training, die Saisonvorbereitung der New Yorker Lions ist im vollem Gange und Hendrik Scharnbacher ist ein junger Quarterback. Neben den körperlichen und geistigen Herausforderungen, die der Sport American Football seinen rund 70.000 Verbandsmitgliedern deutschlandweit abverlangt, studiert Hendrik noch Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität in Braunschweig –und das im Vollzeitstudium.

Um viertel vor sieben startet ein typischer Tag des jungen Quarterbacks. Während andere Studentinnen und Studenten noch zwei Stunden in den Federn liegen, liefert Hendrik bereits Höchstleistungen ab. Noch vor der Uni begibt er sich auf den Weg ins Fitnessstudio, essenziell für den Sport – denn wer keine Power hat und unflexibel ist, wird es schwer haben. Nach schwerem Eisen ruft der Hörsaal. Von seinem Workout ausruhen kann er sich dort lediglich physisch. Insgesamt vier Module möchte Hendrik in diesem Jahr bestehen, dazu noch ein Praktikum absolvieren. Die Uni schleifen lassen, um sich voll auf die anstehenden Aufgaben bei den New Yorker Lions und der Nationalmannschaft zu konzentrieren, ist

folglich keine Option. Zirka 20 Stunden pro Woche investiert er in sein Studium. In den Klausurenphasen deutlich mehr. Am Nachmittag, wenn die Vorlesungen vorbei sind, geht es für Hendrik endlich nach Hause. Netflix und Instagram müssen dann allerdings noch warten, es steht Tasche packen auf dem Programm. Mit Helm und Schutzausrüstung geht es für Hendrik nur kurze Zeit später in Richtung Trainingsgelände der New Yorker Lions.

An der Roten Wiese in Braunschweig stehen neben dem körperlich intensiven Mannschafttraining zunächst verschiedene Meetings an. American Football ist ein überaus taktischer Sport. Ohne akribische Planung der verschiedenen Spielzüge wird es unmöglich sein, in der Saison Erfolg zu haben. „Ein Spielzugbuch zu lernen kann man für Außenstehende vergleichen wie eine Sprache zu lernen, jedes Wort hat eine Bedeutung und muss verstanden werden, um auf dem Platz kommunizieren zu können“, erklärt Hendrik. Zunächst trifft er sich auf dem Trainingsgelände mit den anderen Quarterbacks der Mannschaft, danach mit dem offensiven Mannschaftsteil, bevor es auf dem Rasen darum geht, technische Feinheiten zu verbessern, Team Building voranzutreiben und die in den Meetings geplanten Abläufe bis zur Perfektion zu verinnerlichen.

Der mentale Stress so einer Football-Saison ist nicht zu vernachlässigen. Es geht nicht nur darum, die physischen Voraussetzungen und technischen Veranlagungen mitzubringen, sondern auch darum, sich alle eigenen Spielzüge zu merken und die Dutzende gegnerischen Aufstellungen zu kennen. Dieses Wissen erhalten die Spieler durch Praxis und Lernaufwand. „American Football ist so eine komplexe Sportart, da kann man nie auslernen und man wird jedes Jahr etwas Neues lernen“, erläutert Hendrik.

Wenn das Training vorbei ist, schaut Hendrik sich Aufnahmen des Trainings an, um diese ausgiebig zu analysieren, Fehler zu erkennen und den Sport weiter zu verstehen. „Hendrik ordnet alles dem Football unter, weil er den Football lebt und seine Ziele erreichen will. Seine Position erfordert nicht nur körperliche Fitness und Können, er muss auch die

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Hendrik Scharnbacher ist sichtlich zufrieden nach dem Sieg gegen die Paderborn Dolphins.

entsprechenden Spielzugbücher auswendig lernen. Weil dies so zeitintensiv ist, sieht man ihn dann in der Saison noch seltener als sonst“, erklärt Hendriks Vater.

American Football ist in Deutschland weitestgehend Amateursport. Das große Geld, welches im Fußball oder anderen US-Sportarten wie Eishockey oder Basketball winkt, wird Hendrik in seiner aktiven Footballkarriere wohl nie verdienen. Die Motivation ist eine andere. Um sein sportliches Ziel macht Hendrik folglich kein Geheimnis. „Wir wollen den German Bowl gewinnen“. Das Finale der German Football League findet im Oktober im Stadion an der Hafenstraße in Essen statt.

Zuletzt gelang dem Team aus Braunschweig der Titelgewinn vor der Pandemie – eine lange Zeit ohne Erfolg für Cheftrainer Troy Tomlin und die Fans des deutschen Rekordmeisters. Hendrik möchte seinen Teil zu diesem Ziel beitragen und persönlich an den Aufgaben der komplexen Sportart wachsen. Egal, wen man fragt: Man hört nur Gutes über Hendrik. Cheftrainer Troy Tomlin, der selbst bereits acht Mal die German Bowl Trophäe in die Höhe strecken konnte, ist zufrieden mit seinem jungen Schützling. „Hendrik ist ein guter Junge, der immer dazulernen und besser werden möchte.“ Auch sein Quarterbackkollege Kare Lyles, der bereits viele Erfahrungen an großen US-Colleges sammeln konnte, hält viel von Scharnbacher. „Ich liebe Hendrik [...] er ist hungrig.“ Eine bessere Eigenschaft kann man einem New Yorker Lion wohl nicht zusprechen.

Unter Leistungssportlerinnen und Leistungssportlern ist ein Studium keine Seltenheit. Bei den New Yorker Lions tun dies laut Hendrik zirka 15 aktive Spieler. Dieser Anteil macht immerhin fast ein Drittel der gesamten Mannschaft aus. Im deutschen Olympiateam von 2022, welches in Peking an den Start ging, machte der Anteil der Studentinnen und Studenten laut Zahlen des Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverbandes mit 26,7 Prozent immerhin etwas mehr als ein Viertel aus. Wer denkt, nicht genug Zeit zu haben, um sein Studium und seine Freizeit in Einklang zu bringen, kann sich also ein Beispiel an Hendrik und vielen weiteren Athletinnen und Athleten nehmen. Ohne dabei jedoch den Kopf hängen zu lassen, wenn Bemühungen nicht sofort den gewünschten Ertrag bringen, denn jeder Weg ist anders. Hendrik erklärt, wie er dazu in der Lage, ist seine Doppelbelastung zu managen und was Studierende mitnehmen können, um selber bessere Leistungen im Hörsaal zu liefern.

Für die rund 2,9 Millionen Studierenden deutschlandweit ist es oft wichtig, die richtigen Prioritäten

zu setzen. „Im Sommersemester liegt der Fokus immer ein bisschen auf der Saison“, sagt der Quarterback. Im Wintersemester belegt Hendrik dann ein Modul mehr und legt den Fokus mehr auf die Uni. Er beschreibt dieses Dilemma als Trade off eines Leistungssportlers. Der Stress einer Klausurenphase ist für Studierende nicht zu unterschätzen. Auch bei Hendrik ist die Motivation, für sein Studium zu lernen, laut seiner Freundin nicht immer bedingungslos gegeben. Wenn er sich mit Football befasst, sei das anders. Man merke, wie er darin aufgeht.

Es ist vollkommen menschlich, in den Dingen, für die man sich begeistern kann, mehr Motivation aufbringen zu können. Motivation allein wird jedoch meist nicht ausreichen, um seine Ziele zu erreichen. Der Zustand, der erreicht werden muss, wenn die Motivation nachlässt, heißt Disziplin. Denn während es sich bei Motivation um eine Art inneren Antrieb handelt, die Menschen dazu bewegt, bestimmte Ziele zu verfolgen oder Handlungen zu vollführen, handelt es sich bei Disziplin um die Fähigkeit, sich selbst zu kontrollieren, auch wenn die Motivation schwindet. Es beinhaltet Konzentration und die Fähigkeit, Versuchungen und Ablenkungen zu widerstehen. Disziplin erfordert Anstrengung, um Routinen umzusetzen, Verpflichtungen einzuhalten und schwierige Aufgaben zu lösen. Während Motivation also sozusagen den Funken entzündet, ist die Disziplin der Brennstoff, welcher das Feuer am Lodern behält. Nach dem im Football oft zitierten Sprichwort ,Show up or show out, also an einen Ort gehen und einen Eindruck hinterlassen, teilt Hendrik die Fähigkeit, Disziplin an den Tag zu legen, mit wohl allen Studentinnen und Studenten, die einmal ein erfolgreiches Studium abschließen werden. Hendrik wurde in der letzten Saison ins kalte Wasser geschmissen. Als sich der Star-Quarterback der New Yorker Lions kurz vor ihrem alles entschiedenen KO-Spiel gegen den Außenseiter aus dem Allgäu verletzt, muss Hendrik ohne ausreichende Vorbereitung aushelfen. Zu allem Überfluss befand sich Hendrik gerade mitten in seiner Klausurenphase. „Der Stress in diesen zwei Wochen vor dem großen KO-Spiel war enorm“, sagt Hendrik. Das Wichtigste, um zwischen Klausurenstress und Spielvorbereitung zu navigieren, sei Zeitmanagement. Hendrik bereut, wie er seine Prioritäten damals gesetzt hat. Das alles ist ein Teil des Lernprozesses eines jungen Mannes, der sowohl auf den 91,4 Metern Footballfeld als auch in den zahlreichen Hörsälen der Technischen Universität in Braunschweig Bestleistungen abliefern möchte.

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Das innere Schweinehündchen

Der Umgang mit ihm ist oft mühselig. Es kann sogar zum Kampf kommen. Eine Anleitung, wie man den Schweinehund an die Leine legt. Ich habe mir vorgenommen zum Sport zu gehen, lasse es aber, habe gerade keine Energie oder nicht wirklich Lust. Dann schaffe ich es doch irgendwann mich zu überwinden – wird ja auch etwas peinlich irgendwann – und fahre ins Gym. Bin ich erstmal da, bin ich sogar motiviert. Es fühlt sich gut an, währenddessen und besonders danach. Und ich denke: WIE konnte ich darauf keine Lust haben, was war das Problem? Das machen wir jetzt öfter. Bald schon denke ich das jedoch nicht mehr, nämlich ein paar Tage später: Da liege ich nun und muss entscheiden, zwischen einer Serie bequem im Bett oder Sport. Sowas kennen wir wohl alle. Wenn nicht mit Sport, dann mit Sachen für die Uni, irgendwo muss angerufen werden, wegen einem Termin und aufräu-

Manchmal sehr wirksam und so etwas, wie unsere Leine, mit der wir den inneren Schweinehund etwas im Zaum halten können, sind unbequeme Konsequenzen: Was passiert, wenn ich das jetzt nicht mache? Unbequeme Konsequenzen sind dem inneren Schweinehund ein wunder Punkt, denn er möchte es ja bequem haben. Doch ist er auch sehr gut darin, alles zu ignorieren, was nicht sehr drängt. Und dass ich der bin, der die Leine in der Hand hat, heißt noch nicht, dass ich auch den Weg vorgebe. Allzu oft werden wir vom inneren Schweinehund durch die Gegend gezerrt, bis wir unter großen Schmerzen an eine Deadline klatschen. Das will man nicht. Wir sollten ihn deswegen möglichst nicht einfach machen lassen, genau beobachten, was er da versucht und mit unseren Vorhaben anfangen. Angriff! Aber wie?

Ob wir etwas nun machen müssen oder ob es für uns selbst ist: Aller Anfang ist schwer. Und das bleibt er auch. Aber ein Anfängchen geht am Schweinehund besser vorbei als ein ANFANG. Am besten also kleine Schritte. Erstmal nur die Sporttasche packen oder nur schon mal einen Artikel zur Recherche lesen. Dann nur zum Fitnessstudio hinfahren oder nur die ersten paar Notizen aufschreiben. Wenn wir erstmal dabei sind, wird dem inneren Schweinehund schnell langweilig und der Rest fällt leichter. Es kann dann sogar Spaß machen! Je kleiner die Schritte sind, desto kleiner wird auch der innere Schweinehund.

So ein großes Tier, um zu verhindern, dass ein Laptop aufgeklappt wird? Er würde sich ja lächerlich machen. Deswegen steht uns hier nur das Schweinehündchen gegenüber. Das hört meistens gut und an der Leine macht es auch keine Probleme. Mit dem werden wir schon fertig!

Text • Lasse Büttner Illustration • Dilara Selle
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Verbrecher in Rente

Drei Jahre lang bricht ein Hildesheimer in etliche Häuser ein und verliert sich im Sog dieser Sucht. Bis er verraten wird und dafür büßen muss. Das Porträt eines geläuterten Kriminellen.

Landgericht Hildesheim, neunte große Strafkammer. Nach 19 Tagen Gerichtsverhandlung steht das Urteil fest. Um acht Uhr wird es vor Publikum verkündet. Fünf Jahre und neun Monate soll der 20-Jährige in der geschlossenen Justizvollzugsanstalt in Vechta absitzen. Verurteilt für 59 nachweisliche Einbruchsdelikte.

Dieser 20-Jährige ist Christian*, heute 53 Jahre alt. Er wohnt im Landkreis Hildesheim. Mit seiner Familie lebt er heute am Rande eines Dorfes auf einem ehemaligen Bauernhof. Nach der Arbeit als Dachdecker verbringt er seinen Feierabend gerne in Gesellschaft und unterhält sich beim Dartspielen. Sein Auftreten ist unscheinbar. Sein langjähriger Nachbar und Freund erfuhr erst vor wenigen Jahren von seiner Vergangenheit. Glauben konnte er es jedoch nicht, vermuten schon gar nicht.

Drei Jahre lang, im Alter von 17 bis 19, begingen er und zwei Freunde etliche Einbrüche. Die Einbrüche geschahen wahllos und spontan. Nötig habe er es zu keinem Zeitpunkt gehabt, da er gearbeitet und sein eigenes Geld verdient habe. Nach den ersten Einbrüchen war die Hemmschwelle überwunden und es entwickelte sich eine Sucht. Die Einbrüche wurden zur Normalität. Davon gewusst haben nur er und seine Freunde. „Für andere war ich ein Musterknabe gewesen“, sagt er.

Christian wuchs als Drittältester in einer Familie von sechs Kindern, davon vier Mädchen und zwei Jungen, in Stadtfeld Hildesheim auf. Seine Kindheit sei unglaublich schön gewesen, es habe keine Sorgen zu Hause und auch keine Gewalt gegeben. Die meiste Zeit verbrachte er im Freien. Neben harmlo-

sen Revierkämpfen unter Gleichaltrigen spielte er mit einer großen Gruppe von Nachbarskindern Verstecken oder unternahm den ein oder anderen Streich. Wenn er sich nicht benahm, schrieb seine Mutter ihn in der Schule krank und schickte ihn mit seinem Vater, der Fernfahrer gewesen war, arbeiten. Später schwänzten er und seine Freunde mehr und mehr die Schule und verbrachten ihre gewonnene Freizeit am See. Die blauen Briefe fing er noch morgens ab, bevor seine Eltern überhaupt einen zu Gesicht bekommen konnten.

Nach den ersten Brüchen gab es kein Halten mehr.

Als er zwölf Jahre alt ist, steht dann das Jugendamt bei ihnen zu Hause. Zu unregelmäßig besuchte er die Schule und bereitete gleichzeitig immer mehr Ärger. Mit dem Einverständnis seiner Eltern wird er über den Stephanstift in Hannover in einer Pflegefamilie in Diepholz untergebracht. Die Familie lebte auf einem Bauernhof mit zwei eigenen Kindern. In dieser Zeit eignet er sich viel handwerkliches Wissen an, baut Trecker auseinander, übt sich in der Landwirtschaft und bringt Kühe mit zur Welt. Während-

Es entwickelte sich eine Sucht .
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dessen besuchte er in Sulingen die Schule und hatte um spätestens 22 Uhr wieder auf dem Hof zu sein.

„Offener Vollzug“, witzelt er.

Mit 15 Jahren stand Christian das erste Mal vor Gericht. Das Heimweh verleitete ihn dazu, das Auto des Nachbarn zu stehlen und zu fliehen. Nach kurzer Fahrt landet das Auto in einem Graben. Die Scherben der zerbrochenen Fensterscheibe werden in seiner Jacke gefunden. Dieses Mal sind es nur Arbeitsstunden. Nach vier Jahren bei der Pflegefamilie kehrt Christian im Alter von 17 Jahren wieder zurück nach Hildesheim, beendet die Berufsschule und arbeitet in einer Metallgießerei. Mit der Heimkehr war auch das Wiedertreffen mit seinen alten Freunden verbunden. Die Einbrüche nahmen ihren Lauf.

„Was du brauchtest , hast du geholt“

Bei den Einbrüchen habe es weder eine Strategie noch einen Plan gegeben. Sie brachen in beliebige Häuser, Tankstellen oder in das Zuhause von Restaurantbesitzern ein. Mal stand Christian nur Schmiere, mal durchsuchte er die Räume nach Wertvollem. Hauptsächlich öffnete er Fenster und Türen und machte sich dabei seine handwerklichen Fertigkeiten zu Nutzen. In den vier Wänden eingebrochen, fokussierten sie sich vor allem auf das Schlaf- und Wohnzimmer. Für die Einbrüche fuhren sie mit dem Zug in andere Städte, suchten sich ein Objekt nach Lust und Laune aus und fuhren mit den Jacken vollgestopft wieder nach Hause. Die Beute bestand hauptsächlich aus Schmuck, den sie anschließend gesammelt auf der Straße weiterverkauften und das Bargeld untereinander aufteilten. Lange blieb sich das umgesetzte Geld nicht in seinen Händen. „Was du brauchtest, hast du geholt.“ Spielhalle, Rauchen, Disco, Einkaufen.

Laut der polizeilichen Kriminalstatistik vom Bundeskriminalamt ist gerade bei Einbrüchen die Spanne zwischen den erfassten und den aufgeklärten Fällen groß. 1988 liegt die Anzahl der erfassten Fälle von Diebstahl unter erschwerenden Umständen, das heißt unter anderem Diebstahl in/aus Wohnungen, bei 1.612.447, lediglich 266.792 Fälle davon konnten aufgeklärt werden. 2022 liegt die Zahl des Wohnungseinbruchdiebstahls bei 65.908 erfassten und nur 10.621 aufgeklärten Fällen.

Eines Tages steht er mit dem Auto in Bochum

an einer geschlossenen Bahnschranke. Sein bester Freund ist dabei. Während sie Minuten an der Schranke warten, schaut Christian ein Haus an. Er beschließt, dass er da rein will. Sie brechen ein Fenster auf und steigen in das Haus ein. Im Schlafzimmer hinter einer Gardine findet Christian einen Würfeltresor. Mit 32.000 Mark Bargeld ist das der Einbruch mit der höchsten Beute gewesen. Die, in den drei Jahren erbeutete Summe schätzt er auf eine sechsstellige Zahl. „Zwei Häuser hättest du dir bauen können“, sagt er.

Bei einem der Einbrüche ist die Polizei schnell vor Ort. „Das war so ziemlich zum Ende, da haben sie uns quer durch Hildesheim gejagt“. Einer von ihnen, Konstantin, wird geschnappt und zwei Tage lang vernommen. Aus Mitleid wurde er damals Teil ihrer Einbrüche und stand hauptsächlich Schmiere. Als die Polizei ihn mitnahm, packte er aus und bekam drei Monate auf Bewährung.

Während Christian an einem Freitagmorgen in Borsum ein Auto repariert, sieht ihn ein bekannter Kripobeamter zufällig. Seit zwei Monaten läuft da bereits ein Haftbefehl gegen Christian. Zwei weitere Beamte holen ihn ab. Das war der letzte Tag draußen. Die Gerichtsverhandlung läuft 19 Tage. „Ich bin gefragt worden, ob ich jemanden umgebracht habe, weil es so lange war“. Während des Indizienprozesses macht er weder eine Aussage noch legt er ein Geständnis ab. Das letztendliche Urteil lautet fünf Jahre und neun Monate Haftstrafe mit sofortigem Haftantritt. „Das ist ein Schlag in die Fresse gewesen.“

Mit 20 Jahren sitzt er in der JVA in Vechta, ein Sternenbau mit vier Flügeln auf drei Ebenen. Die bevorstehende Zeit konnte er nicht realisieren und lebte mental in zwei Welten. „Du hast dir vor Augen gehalten, was für ein geiles Leben du hattest.“ Zelle A3.10 ist seine Bleibe für die nächsten fünf Jahre, AFlügel, Ebene drei, Raum 10. Sie besteht aus einem Bett, einem Schrank und einer Toilette hinter einer Wand. Jahrelang verbachte er allein in der Zelle. Er weigerte sich die Zelle zu teilen, auch als Platzmangel herrschte.

„Die Tür geht auf und du siehst nur Gitter. Jetzt ist’s vorbei.“ Sechs Monate lang ist er in einer Art Trance, verdrängt die Tatsache, dass er ein halbes Jahrzehnt festsitzen wird. Nach dem halben Jahr akzeptiert er sein Schicksal und entscheidet sich für eine Tischlerlehre, lernt und arbeitet ambitioniert. Schulisch und arbeitstechnisch sei der Alltag kaum anders gewesen als draußen. „Aber kein Feierabendbier“, scherzt er. Täglich um 6 Uhr morgens wurde die Lebendkontrolle gemacht, wo jeder Insas se ein Zeichen von sich geben musste. Anschließend

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wurde allen die Zelle geöffnet. Frühstück konnte sich jeder vom Tablettwagen nehmen. Wer nur Liegevollzug machte, wurde danach wieder eingeschlossen. Mittagspause gab es von zwölf bis halb zwei. Die rund 170 Mark verdientes Geld im Monat wurden auf drei Konten verteilt: Eigengeld, Hausgeld und Entlassungsgeld. Mit dem Hausgeld konnte er im Gefängnis einkaufen. Dafür wurde ein Mal im Monat ein Einkaufsmarkt in einem Raum aufgebaut. Was man brauchte, kreuzte man auf einem Zettel an. Zahnpasta, Kaffee, Jogginganzug. Untereinander machte man Tauschgeschäfte und feilschte um Kaffee oder Zigaretten. Von außerhalb gelangen immer wieder Drogen ins Gefängnis. Zu sechst rauchten sie mit Hilfe eines Kugelschreibers das im Gefängnis teuer gehandelte Zeug.

Besuche konnten nur ein Mal im Monat für eine Stunde stattfinden oder alle zwei Wochen für eine halbe Stunde. Während der fünf Jahre kam seine Scheinehefrau Tatjana jeden Monat vorbei, um den Anschein einer Ehe aufrechtzuerhalten. Tatjana und Christian heirateten im Gefängnis. Nach 15 Jahren in Deutschland sollte sie nach Polen abgeschoben werden. Sie war die Freundin eines guten Freundes, also willigte er ein. Die Trauung fand in der JVA in Vechta statt. Im Beisein von zwei Trauzeugen und unter Aufsicht eines Beamten durften sie sich von einem Standesbeamten trauen lassen.

In dem A-Flügel in dem er untergeberacht war, befindet sich ganz unten die U-Haft, darüber Handwerker. Der B-Flügel war dem Liegevollzug vorbehalten. Wer Liegevollzug machte, bekam vom Amt monatlich 50 Mark Taschengeld. „Die haben Unterlegene unterdrückt, ähnlich wie in der Schule.“ Im C-Flügel waren die Schulgänger und die neu aufgenommenen Gefangenen untergebracht, die je nachdem, ob sie sich für Schule, Arbeit oder Liegevollzug entschieden, einem Flügel zugeteilt wurden. „Orientierungsstufe“ nennt er den Flügel. Eine Hackordnung, sagt Christian, gebe es in jedem Gefängnis. Er selbst sei weder Täter noch Opfer gewesen. Stattdessen wurde er von seinem Flügel zum GMV-Sprecher gewählt, Gefangenenmitverantwortung. Mit dieser Verantwortung konnte er, unter dem Vorwand sich mit einem anderen GMV-Sprecher besprechen zu müssen, von Flügel zu Flügel gehen und sich in deren Zelle miteinschließen lassen. Auch mit Wärtern habe es nie Probleme gegeben, „die waren auch freundlich, haben teilweise nach Ratschlägen für private Probleme gefragt“. Dass die Wärter bestechlich gewesen sein könnten, habe er nicht mitbekommen.

In seinem vierten Jahr liegt dann plötzlich ein Sägeblatt im Gefängnis. Zu viert planen sie den Aus-

bruch. Christian sägt von Freitag bis Samstagabend eine Stange in seiner Zelle durch, langsam, da es sonst im ganzen Gebäude hörbar wäre. Einen Plan für draußen haben sie nicht.

Im Hof ist ein Malergerüst, da die Mauer erneuert wurde. Sie zählen die Minuten, die die Wärterin für eine Runde braucht, fliehen mit einem aus Bettbezügen zusammen geflochtenem Seil aus seinem Fenster aus dem zweiten Stock und wollten das Gerüst an die Mauer schieben. Die Beamtin in der Ecke sehen sie nicht. Der Hausalarm wird ausgelöst, die Flucht ist gescheitert. Christian bekam zehn Monate wegen Meuterei und Sachbeschädigung, einer der anderen ein halbes Jahr Bewährung wegen Diebstahl von Staatseigentum – er trug Socken aus dem Gefängnis.

In Deutschland wird der natürliche Drang des Menschen nach Freiheit berücksichtigt. In Artikel zwei des Grundgesetzes heißt es: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“. Demnach ist die gewaltlose Gefangenenselbstbefreiung grundsätzlich nicht strafbar. Jedoch gehen mit einem Gefängnisausbruch meist Begleittaten einher, wie beispielsweise Bestechung, Sachbeschädigung oder Diebstahl, die wiederum strafbar sind.

Für manche, bestätigt Christian, seien Gefängnisse Schulen des Verbrechens gewesen. Jedoch eher für Leute, die wegen weniger schlimmen Delikten ins Gefängnis gekommen sind. Danach wandten diese ihr neues Wissen draußen an. Eine grundlegende und nachhaltige Resozialisierung durch eine Haftstrafe zweifelt er an. „Was Vater und Mutter versäumt haben, schaffen die nicht nachzuholen“. Freiwillige Programme wurden angeboten, sollen jedoch kaum in Anspruch genommen worden sein. Ausschlaggebend sei nur der Freiheitsentzug. „Das will niemand ein zweites Mal erleben“.

Die Zeit von 19 bis 21 Uhr, in der man sich innerhalb von 15 Minuten in eine andere Zelle, maximal zu dritt, umschließen lassen konnte, waren seine liebsten. Oft waren sie mehr Leute in einer Zelle, saßen zusammen und redeten. Ab und zu kochten sie gemeinsam. „Langweilig war es keinen Tag.“ Die

„Die Tür geht auf und du siehst nur
Gitter . Jetzt ist’s vorbei“
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letzten drei Monate vor der Entlassung wurde er wieder an die Freiheit gewöhnt und war Beifahrer vom Hausmeister. Sie brachten Kübel ins Frauengefängnis, Möbel nach Oldenburg oder fuhren zu Gerichten. „Das waren die besten Zeiten in den ganzen Jahren.“

Fünf Jahre und 13 Knast-Tattoos später wird er schließlich mit neun Monaten auf Bewährung entlassen. Er ist 27, ohne Kontakte zu seinen alten Freunden. Dass er entlassen wurde, wusste niemand. Er fährt direkt nach Hildesheim zu seinem Schwager, darf dort wohnen und auf dem Bau arbeiten. Nebenbei die wöchentlichen Treffen mit dem Bewährungshelfer. Seit der Haftstrafe habe er keinerlei Straftaten mehr begangen. „Der Gedanke war da, aber ich hab’s nie durchgeführt“.

In den ersten Tagen nach der Entlassung begegnet er Marion, einer Kindheitsfreundin. Seitdem sind sie zusammen und haben heute einen gemeinsamen Sohn. Jan, Marions Sohn, war damals gerade sechs Jahre alt, als Christian 1996 aus dem Gefängnis kam. Dass seine Mutter mit ihm zusammenkam, wollte er nicht akzeptieren. Heute schätzt er ihn mehr denn je und ist stolz, ihn als Vater zu haben. „Wenn du ihn kennenlernst und mit ihm redest, würdest du niemals im Leben denken, dass er überhaupt mal im Gefängnis gesessen hat“, sagt er.

Mit seiner Vergangenheit geht Christian nicht hausieren, macht aber auch kein Geheimnis daraus. Als schlechter Mensch würde Christian sein früheres Ich nicht bezeichnen. „Ich habe viel Scheiße gebaut, aber es hat sich trotz allem im Rahmen gehalten, da gibt es Schlimmeres.“ Für seine Taten schämt er sich nicht, es ist ein Teil seiner Vergangenheit. Ob er es bereut, kann er nicht sicher sagen, aber er habe zurecht dafür büßen müssen. Er ist stolz darauf, was nach der Haftzeit aus ihm geworden ist. „Daran kann man sehen, ein Mensch kann sich auch mal ändern.“

*Namen wurden geändert

„Daran kann man sehen, ein Mensch kann sich auch mal ändern “.
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Kalter Entzug?

Ich bin süchtig. Nicht nach irgendwelchen Substanzen, sondern nach Social Media. Mein leicht obsessives Verhalten geriet außer Kontrolle, deshalb wage ich einen Selbstversuch: ein zehntägiger Social Media Detox.

Etwa 20 Prozent meiner Zeit im Alltag verbringe ich auf Instagram und Co. 20! Prozent! Verlorene Zeit, die man produktiver nutzen könnte. Aufgaben für die Uni erledigen, putzen oder qualitativ Zeit mit meinen Freunden verbringen, wobei sogar da oft auf dem Handy rumgedaddelt wird. Aber nicht nur mir geht es so: laut dem Statista Research Department beträgt die durchschnittliche tägliche Bildschirmzeit junger Erwachsene etwa 204 Minuten, also etwas über drei Stunden.

Ich scrolle auf Instagram wenn mir langweilig ist oder wenn ich auf dem Klo sitze und ich weiß, dass ihr euch ebenso angesprochen fühlt. Prokrastination, das Selbstwertgefühl hochtreiben oder Ablenkung suchen. Ich brauche diese Reizüberflutung und dennoch überfordert sie mich. Ich bin gespannt, ob mir dieser Detox helfen wird.

Höchst… ungewohnt. Greife unbewusst ständig zum Handy, obwohl ich keine neuen Benachrichtigungen bekomme – eingebrannter Automatismus. Meine Hände finden sogar bei dem Versuch ein Buch zu lesen den Weg zum Handy. Außerdem: jede Menge FOMO (fear of missing out). Verpasse ich die ganze Zeit was? Was treiben meine Freunde? Erneutes Drama um Selena Gomez und Hailey Bieber?! Meine Gedanken spielen völlig verrückt. Immerhin kann ich dadurch früher ins Bett gehen und mir nicht noch um Mitternacht stundenlang Reels anschauen, um meine Freunde damit zu nerven.

Der automatische Griff zum Handy morgens bleibt. Zu behaupten, dass ich nicht kurz davor bin, alles über den Haufen zu werfen, wäre gelogen. Ein Grund mehr diese Herausforderung durchzuziehen.

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Ich bin schockiert: Tatsächlich greife ich mittlerweile seltener zum Handy. Doch leider lässt FOMO immer noch grüßen. Nicht zu wissen, was alle anderen machen, versetzt mich in Panik. Aber nichtsdestotrotz bin ich neben den panischen Gedanken so produktiv, wie ich es schon immer sein wollte – lesen, putzen, auch mal etwas für die Uni machen und Freunde treffen (die ich leider öfter darauf hinweisen muss, dass sie gerade mit mir und nicht mit ihrem Handy verabredet sind).

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Text • Andrea Hanke

Gestern war zwar ein erfolgreicher Tag, aber jetzt? Laaangweilig.

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To-Do-Punkte sind schnell abgehakt. Wieder produktiv gewesen! Schade, dass gerade keine Klausurenphase ist, da hätte ich meine freie Zeit echt gut fürs Lernen nutzen können.

Ich habe endlich das Buch zu Ende gelesen, welches ich vor Monaten angefangen habe. Davor war es ungefähr so: zehn Seiten gelesen, danach Twitter geöffnet und stundenlang Tweets zu Taylor Swifts Tour gelesen.

Gehe nur noch ans Handy, wenn es nötig ist. (Nachrichten beantworten, mich übers Wetter informieren). Wenn man viel zu tun hat oder unterwegs ist, fällt es einem gar nicht so schwer. Aber an Tagen, wo nicht viel geplant ist, fällt es mir deutlich schwerer die Hände davon zu lassen.

Es juckt mich wortwörtlich in den Fingern. Obwohl ich die letzten Tage viel weniger an verpasste Instagram-Posts gedacht habe, kann ich es wirklich kaum abwarten, all meine Apps wieder runterzuladen. Gewohnheiten holen einen manchmal doch früher ein, als man es sich wünscht.

Hat mir diese Pause von den sozialen Medien was gebracht? Ja, auf jeden Fall. Hat es meine komplette Weltanschauung verändert, wie es die meisten Influencer in einem Video über Social Media Detox auf YouTube sagen würden? Nicht wirklich. Mir ging es darum, einen bewussteren Umgang zu entwickeln und meine kostbare Zeit nicht ständig am Handy zu verschwenden. Vor allem die Tatsache, dass ich statt sinnlosem Scrollen auf Instagram Dinge erledigt habe, die ich seit Jahren vor mir hergeschoben habe. Irgendwann war es mir dann auch egal, ob ich etwas verpassen würde, was an sich auch fragwürdig ist: Was soll man denn genau verpassen?

Komplett verzichten möchte ich dennoch nicht, weil Social Media auch unterhaltsamen und informativen Content bietet. Momentan ist es schon einen Monat her, seitdem ich den Detox gemacht habe und mal gibt es Tage, wo ich länger als geplant auf Instagram und Co. verbleibe und mal Tage, wo ich nicht mal eine Erinnerung meiner Bildschirmzeit bekomme, um die App zu schließen. Solche Detox-Tage werde ich dennoch öfter in meine Routine integrieren und lege es jedem ans Herz, dies ebenfalls zu tun.

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LEINWAND HAUT

Der Körper seiner Kundschaft ist seine Leinwand und er der Künstler. Nick Colin Corbett ist Tätowierer. Ein Besuch im Tattoostudio At First Sight in Braunschweig.

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Text & Bilder • Felix Warsawa

Es ist ein kühler und bedeckter Samstagmorgen Anfang April. Von außen ist der Laden ziemlich unscheinbar. Im Vorbeigehen übersieht man ihn leicht. Im Untergeschoss der Celler Straße 122 in Braunschweig befindet sich das Tattoostudio At First Sight von Nick Colin Corbett und seiner Frau Carlotta. Drinnen bereitet sich Nick gerade auf die erste Kundin vor und erzählt, wie es zu einem

ne Gäste nicht wie ein Arzttermin wirken, findet Nick. Heute kommt keine weitere Kund*in dazu. Schon der Schritt durch die alte Holztür in den Vorraum lässt ahnen, was folgt.

Ein altes Sofa mit dicken Polstern lädt zum Verweilen ein. Warme Beleuchtung und Zimmerpflanzen erzeugen eine nahezu wohnzimmerartige Atmosphäre. Alles ist irgendwie ein bisschen

eigenen Studio kam. Von Plänen, die er hat, und denen, die er wieder verworfen hat. Im Winter 2010 kam er nach Deutschland. Heute ist er 35. „I had a friend living in Hamburg and I was bored in New Zealand so I decided to risk coming over and having a bit of an adventure“, berichtet er. Kurz nachdem er in Hamburg ankommt, beginnt er mit dem Tätowieren. Das war 2011. Kurz davor habe er die Kunstschule in Neuseeland verlassen und an einem Portfolio mit Tattoos gearbeitet. „I spent everything I had on a ticket to Germany and knew I had to become good at Tattooing fast or go back home.“ Während er berichtet, wie alles begann, schaut er konzentriert, aber dennoch auf gewisse Art gelassen auf seinen Arbeitsplatz. Gewissenhaft reinigt er die Oberflächen von Liege und Sitzgelegenheit, überzieht sie mit einer schwarzen Folie und bedeckt sie anschließend mit einem entsprechend großen Papiertuch. In der Luft liegt der Geruch von Desinfektionsmittel. All das ist notwendig, um die Hygiene für alle Kund*innen zu bewahren. Trotzdem soll die Zeit im Studio für sei-

retro. Von den Bildern, die Vorurteile von Tätowierenden und Tätowierten zeichnen, keine Spur. Keine zwielichtige Spelunke. Ganz im Gegenteil. Bevor die beiden ihr Studio einrichten konnten, sei hier ein Nagelstudio gewesen, das mehr oder weniger plötzlich leer stand. Die Pläne seien ganz andere gewesen, erzählen sie. Nick war vorher Resident bei Sorry Mom, einem anderen Tattoostudio in Braunschweig. Seine Frau Carlotta, die aus Hamburg stammt, war dort seine Auszubildende.

. Vielleicht
zurück nach Neuseeland .
Vielleicht in ein anderes Land
auch
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Nach jedem Motiv ein Foto fürs Portfolio.

Die Pläne, ein eigenes Studio zu eröffnen, hatten sie schon vor Corona. Eigentlich wollten die zwei zurück nach Hamburg, um dort einen Laden zu eröffnen. Die Ausrüstung und Einrichtung dafür ist schon vollständig vorhanden gewesen, lediglich die passende Räumlichkeit fehlte ihnen. Die Pandemie hat das Vorhaben bedeutend erschwert. Die hohen Mieten und die Situation als Freelancer ohne festes Einkommen haben die beiden letztendlich in Braunschweig gehalten, zumindest vorerst.

Gegen 12 Uhr betritt die Kundin den Laden. Sie kennt sich aus, trägt bereits eines von Nicks Motiven auf ihrer Haut. Eine Matrjoschka Puppe. Bevor aber das eigentliche Stechen beginnt, zeigt er ihr den Entwurf auf seinem iPad. So kann man noch Details verändern. Denn auch wenn alle im Studio ihr Wunschmotiv bekommen, möchte Nick dennoch seine Kreativität ausleben. Er sticht Traditionals: ein Stil, dessen Ursprung sich in der Seefahrt wiederfinden lässt und bis heute beliebt ist. Dicke schwarze Outlines, starke Kontraste und kräftige Farben. Die charakteristischen Merkmale fallen sofort ins Auge.

Die heutige Kundin hat sich eine Rose auf dem Knie ausgesucht. Nicht gerade die angenehmste Stelle, um tätowiert zu werden. Wo sich über dem Knochen nur wenig Gewebe befindet, soll das Stechen besonders unangenehm sein. Damit alles an die richtige Position kommt, gibt es sogenannte Stencils. Das sind Schablonen, mit denen sich der Umriss des Tattoos auf die desinfizierte und rasierte Haut übertragen lässt. Mit einem speziellen Drucker wird das Motiv auf ein Trägerpapier gedruckt, welches anschließend auf die vorbehandelte Körperstelle gedrückt wird. So bleiben die Konturen ähnlich wie bei einem Abziehbild auf der Haut haften. Nachdem sie sich das Stencil im Spiegel angesehen hat,

beginnt Nick die ersten Outlines zu stechen. Neben ihm auf einem kleinen Tisch steht ein winziger Topf mit schwarzer Farbe, in den er hin und wieder die Nadel taucht. Während er das tut, wirkt er sehr konzentriert, aber keinesfalls gestresst. Die Leidenschaft für seine Arbeit ist ihm anzusehen. Im Hintergrund ein ruhiger Mix aus Folk, Funk, Soul und Rock, der irgendwie nach Sommer klingt, auf gewisse Weise entspannt und den Wohnzimmervibe unterstützt. „I believe music is such an important part of Tattooing and creating a vibe in the studio to accompany the Tattoo experience“, meint er. „It also creates a rhythm and a tempo for you to tattoo to.“ Das konstante Summen der Tätowiermaschine, die ein wenig wie ein Rasierer klingt, legt eine zweite Tonspur darüber. Zwischendurch lässt sich eine Sprachmischung aus Englisch und Deutsch vernehmen, da Nick selbst hauptsächlich Englisch spricht, seine Frau hingegen beides. Nachdem er Outlines und Schattierungen gestochen hat, beginnt er mit den Farben. Neben ihm auf dem kleinen Tisch stehen jetzt mehrere der winzigen Töpfe mit roter, gelber und grüner Farbe. Fläche für Fläche vervollständigt er nun das Gesamtmotiv. Danach liegt wieder der Geruch des Desinfektionsmittels in der Luft. Zum Abschluss wischt Nick das frische Tattoo noch einmal ab und verbindet es anschließend mit einer Wundkompresse. Von diesen gibt er seiner Kundin noch ein paar für die nächsten Tage mit nach Hause.

„I believe music is such an important part of tattooing and creating a vibe in the studio to accompany the tattoo experience.“
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Ein Blick durch die Fensterscheibe des Vorraums in die Räumlichkeiten des Studios.

Das Tätowieren und das Betreiben eines Studios nehmen viel Zeit in Anspruch. „I’m usually always doing something that relates to work, drawing, answering emails, cleaning, paperwork, all that boring stuff that comes along with it.“ Abseits davon lieben seine Frau und er es auch zu reisen und unterwegs zu sein. Gerade seien sie aus dem Baltikum zurückgekommen und bald würden sie wieder nach Dänemark aufbrechen. Hier zu bleiben war nie ihr Plan. Doch was sie hier in Braunschweig mit einem privaten Studio und der Wohnung im selben Gebäude erschaffen konnten, würden sie wirklich lieben. „We’ve created

a really unique and special experience of getting Tattooed here in town“, sagt er, „and it will be bitter sweet to leave.“ At First Sight sei aber ein temporärer Ort und war immer als solcher gedacht. „Now the Hamburg thing has passed and we’re looking at a bigger move.“

Braunschweig sei jetzt der Ausgangspunkt, um einen Ort zu finden, der ihnen mehr bietet als das, was sie eben haben. Wohin genau wüssten sie aber noch nicht. Vielleicht in ein anderes Land. Vielleicht auch zurück nach Neuseeland. Dieses Mal mit größerem Gepäck und immer noch mit großen Träumen.

„We’ve created a really unique and special experience of getting tattooed here in town.“
Konzentration und Leidenschaft vereint. Nick Colin Corbett bei der Arbeit.
71
Auf einem kleinen Beistelltisch stehen die Farben in winzigen Töpfen.

Irgendwie habe ich das Gefühl, es wird zu viel. Auf den Straßen rasen die Autos schneller als erlaubt.

Im Ohr hallt der Schall des Martinshorns, lange, nachdem die Feuerwehr vorbei ist.

Die Fenster sind zu und trotzdem lässt mich der Lärm einfach nicht in Ruhe.

Ich hole die Sportmatte raus und konzentriere mich auf die sanfte Stimme der Frau aus dem YouTube-Tutorial. Yoga soll ja helfen.

Aber nichts. Keine Spur von Ruhe in mir.

Ich ziehe meine Sneaker an, eile das Treppenhaus hinunter - zu meinem Rad. Ich springe in den Sattel und trete so fest in die Pedale wie ich kann. Zweimal rechts, dann geradeaus.

Ich nehme den Klang der Oker wahr, die mit mir weiter weg vom Stadtlärm fließt. Vogelgezwitscher. Es wird grüner.

Ich komme an.

Ich steige vom Rad und lege es auf die Wiese.

Ich atme ein, so tief ich kann.

Die Sonne blitzt hinter einer Wolke hervor und streichelt über mein Gesicht.

Ich atme langsam aus. Endlich breitet sich in meinem Körper ein Gefühl von Ruhe aus.

Ode 3/4 • An die Ruhe
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Dahlia Dziggel

Die verlorene Zeit

Wir sind müde, wir sind überfordert, wir sind gefangen in der Dauererreichbarkeit. Endlose Geschichten und Universen, in die wir abtauchen könnten, aber wir entscheiden uns für TikTok. Doch wie finden wir den Eingang zurück in die friedliche Welt der Bücher, weit weg von der Gleichzeitigkeit unserer heutigen Realität?

Wann hattest du das letzte mal ein Buch in der Hand? Und nicht nur, um das Cover anzugucken oder geistesabwesend für einige Minuten zur Gruppe der Intellektuellen zu gehören? Du stehst im Buchladen und blätterst und blätterst, schaust aber eigentlich eher durch das Meer aus Worten hindurch. Müde fragst du dich, wo die Welten, in denen du dich als Kind verlaufen konntest, verschwunden sind. Warum kannst du nicht einer dieser wachen, schlauen, glücklichen Buchladenbesucher sein? Verzweifelt suchst du nach dem Eingang in die endlosen Universen und merkst gar nicht, wie dich deine Augen in andere Richtungen zerren. Du gibst auf. Und dann stehst du da. Draußen im Regen. Dein Atem zeichnet weiße Kreise in die Luft und du denkst dir, dass du ja auch morgen mit dem Lesen anfangen kannst. Oder nächste Woche. Nächsten Monat. Nächstes Jahr. Irgendwann halt. Wenn du Zeit hast. Denn Zeit haben wir schließlich nie. Und dann leuchtet deine Hand auf einmal einladend blau und du findest deine Zeit wieder. Zwei bis fünf Stunden sogar. Jeden Tag aufs Neue.

Dass Generation Z immer weniger liest, dürfte kein Geheimnis sein. Das Interesse an linearen Medien verblasst zunehmend in dieser schnelllebigen Welt. Wir wollen immer überall sein. Alles sehen. Gleichzeitigkeit ist unsere Priorität, der Griff zum Handy einfach entspannter. Das Leben schleicht an uns vorbei und wir merken gar nicht, wie wir es verpassen. Natürlich fühlt man sich dann schlecht. Eigentlich ist uns ja tief im Inneren bewusst, dass der ständige Überkonsum an TikTok’s und Reels und Storys und BeReals und Twitter nicht ganz so gesund sein kann. Nach ein paar Stun den fühlt man sich dann leer. Der kurze Dopaminschub ist vorbei. Die Zeit verschwindet. Auf einmal ist es vier Uhr morgens und in zwei Stunden klingelt der Wecker. Der Kopf fühlt sich seltsam an. Wie eine schwere, lila Wolke.

Hattest du in letzter Zeit vielleicht auch mit deinem Kurzzeitgedächtnis zu kämpfen? Du bist nicht allein. Denn man glaubt es kaum, aber der ständige Konsum von sieben Sekunden Videos schadet tatsächlich unserer Aufnahmefähigkeit und es ist kein Zufall, dass wir im Moment irgendwie alle nichts mehr auf die Reihe bekommen. Es ist schon beunruhigend, wie schnell das Gehirn aufgrund unserer Mediennutzung nicht mal mehr in der Lage ist eine halbe Seite Text zu verarbeiten. Und waren wir nicht früher viel kreativer? Positiver? Entspannter? Du wünschst dir nichts sehnlicher als endlich aus dem ewigen Kreis des Dauerscrollens auszubrechen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum du zurück in die Welt der endlosen Geschichten abtauchen willst. Die gute Nachricht ist, dass du dein Gehirn in Sachen Aufnahmefähigkeit auch trainieren kannst, zum Beispiel beim Lesen. Bücher können aber auch bei ganz anderen Dingen helfen und sogar dem ständigen Negativstrom in deinem Kopf entgegenwirken. Stell dir vor, du liegst in deinem Bett, ohne Handy und dafür mit Buch. Im Gegensatz zu TikTok, kannst du aus dem Gelesenen oft für dich selbst einen Mehrwert ziehen und deshalb fühlst du dich nach dem Lesen auch, als hättest du dir gerade etwas Gutes getan. Ganz egal ob Wissen, Entspannung, Empathie oder Kreativität. Du nimmst dir bewusst Zeit für dich. Damit brichst du für einen Moment aus dem Gefängnis der Dauererreichbarkeit aus und schenkst dir ein bisschen Freiheit. Ganz nebenbei stärkst du dein Gedächtnis und deine Konzentration. Oft vergessen wir, dass Erreichbarkeit und Dauerscrollen eine Entscheidung sind. Erschreckend, wie viel Zeit wir am Handy kleben, obwohl wir keine Zeit haben. Stell dir vor, du würdest nur ein Drittel deiner Bildschirmzeit mit Lesen ersetzen. Der Eingang in die Welten, die du suchst und vermisst liegt in deiner Entscheidung. Wirst du schwach? Oder schenkst du dir die Zeit, sie zu sehen?

Text • Liza Illustration • Dilara Selle
73

Von Seite ist viel mehr, als nur ein gemeinnütziger Verein, der PartyEvents veranstaltet. Musik, Kunst und Kultur – damit eröffnet das junge Kollektiv einen neuen Raum in Braunschweig, in welchem sich jede*r willkommen fühlt.

Schnelle Rhythmen bringen meine Beine zum Tanzen. Satte Bässe verbreiten in mir ein wohlig warmes Gefühl. Überall, wo ich hinsehe, entdecke ich bunte Lichter und lachende Münder. Ein Gefühl von unstillbarer Tanzlust macht sich in mir breit und ich wünschte mir, dieser Abend würde niemals enden. So viele neue Gesichter, unfassbar anregende Gespräche mit (noch) unbekannten Leuten. Die Energie, die sich an diesem Abend ausbreitete, hat die unterschiedlichsten Menschen, aus unterschiedlichsten Kreisen, zusammenkommen lassen.

WOHNZIMMER VIBE

Der Funke von Neugierde und Wohlfühlen, der an diesem Abend auf mich übergesprungen ist, hat in mir das Verlangen geweckt: „Bei der nächsten Veranstaltung muss ich unbedingt wieder dabei sein!“

Text & Bild • Dahlia Dziggel Illustration • Marie Juchems
74

Als ich vor drei Jahren nach Braunschweig gezogen bin, habe ich lange nach einer Partykultur gesucht, in der ich mich zu 100 Prozent wohlfühle. An der Meile wird dir als Frau oft anzüglich hinterhergerufen oder man wird im Club ungefragt betatscht. Die Techno-Klubs bieten zwar ein angenehmes und friedvolleres Klima, allerdings habe ich nicht immer Lust, zu scheppernden Techno-Beats die ganze Nacht durchzustampfen.

Wo kann ich in Braunschweig also feiern gehen und auch mal meinen Booty shaken (also den Popo wackeln), ohne blöd angequatscht zu werden und trotzdem neue Leute kennenlernen und anregende Gespräche führen?

Angefangen bei einer Gartenverein-Hausparty, über den BRAIN-Klub bis hin zum KUFA-Haus oder das Organic Beats Festival in Braunschweig. Das Kollektiv Von Seite hat bereits so einige Veranstaltungen hinter sich und ist langsam dabei, sich in der Braunschweiger Musik- und Kulturszene einen Namen zu machen.

Seit mittlerweile über einem Jahr gibt es das junge Künstler-Kollektiv, welches Künstler*innen aus Braunschweig und seiner Umgebung eine Bühne bietet und dabei gleichzeitig Kunst- und Musikbegeisterten die Möglichkeit geben möchte, sich untereinander zu connecten.

Durch einen kleinen Zufall bin ich letztes Jahr auf einer der ersten Von Seite-Partys gelandet und begleite das Kollektiv seitdem so oft ich kann. Ihre Veranstaltungen markiere ich mir dick und fett im Kalender. Denn die Veranstaltungen des Kollektivs werden nicht nur zu der Musik der Kollektiv-eigenen Rapper Minh und Mancoon gefeiert, sondern es wird auch zu House-Musik, Dancehall oder Amapiano Beats getanzt, bis die Sonne aufgeht. Je später der Abend, desto schneller und aufregender kann die Musik werden. Für jeden Musikgeschmack ist hier etwas dabei, da Von Seite nicht nur die großen Mainstream-Genres abdeckt, sondern auch musikalisch für Diversität steht. Die Mitglieder geben alles, um mit ihrer Leidenschaft nach Spaß und Beisammensein die Braunschweiger Kultur-und Partyszene aufblühen zu lassen.

Egal welches Alter, welche Hautfarbe oder welches Geschlecht – Von Seite nimmt jeden mit ihrer Vision von gegenseitigem Support und Verlässlichkeit mit. Damit jede Form der Kreativität den Raum erhält, den sie verdient. Mit diesem geschaffenen Raum sollen sich vor allem Menschen, die das Gefühl haben, sich verändern zu müssen, um akzeptiert und wahrgenommen zu werden, wohlfühlen.

Die Message des 12-köpfigen gemeinnützigen Vereins ist somit klar: „Bei uns ist jeder willkommen und dafür stehen wir auch mit unserem Namen Von Seite – We Connect, das ist unser Hauptmerkmal.“ Dies verrät mir die 30-jährige Shushu, die im Vereinfür den Posten der Innen- und Außenkommunikation zuständig ist und sich selbst als Mama für alles beschreibt.

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Als gemeinnütziger Verein verfolgt die Crew, im Vergleich zum regulären Klubbetrieb in Braunschweig, nicht das Ziel des Profits. Keiner von ihnen verdient sich über die Veranstaltungen was dazu –ganz im Gegenteil. Es kostet sie oft sehr viel Zeit und Energie, neben ihrem Studi- oder Arbeitsleben, so eine Party auf die Beine zu stellen. „Was wir verdienen, sind am Ende des Tages lächelnde Menschen, die Spaß haben und die Musik und den Vibe, den wir ausstrahlen, aufnehmen und weiterverbreiten“, erzählt Shushu, während sich ihre Mundwinkel selbst zu einem warmen Lächeln hochziehen. Und trotzdem sieht sich das Von Seite-Team nicht als Konkurrenz zum Nachtleben der Braunschweiger Klub-Kultur. Zwar habe Von Seite auch anfangs Erfahrungen in Klubs wie dem Lindbergh Palace oder dem Brain gesammelt, jedoch dann beschlossen, dass sie lieber ihrem Wohnzimmer-Vibe treu bleiben möchten, statt Klubs zu füllen. Sie möchten zum Chillen und Connecten verführen, wo man parallel auch eine Tanzpause einlegen kann.

„Wir sehen uns weder als Konkurrenz noch als Subkultur der Braunschweiger Partyszene – wir möchten einfach eine Nische bilden, die unabhängig von allem ist. Ein Space, in dem sich jede*r willkommen fühlt.“ Das ist ein starkes Statement der jungen und dynamischen Veranstaltungs-Gruppe, welches so langsam auch seine Runde unter den Braunschweiger Locals dreht. Mittlerweile werden auch lokale Künstler*innen aus Braunschweig und der Näheren Umgebung eingeladen und geben LivePerformances zu ihrem Besten. Den Performenden dabei das Gefühl zu geben: „das, was du machst, ist geil, mach weiter so“, ist Shushu und ihren Fellows besonders wichtig. Hierbei wird nicht nur ein Platz für Musik kreiert – jegliche Form von Kreativität, sei es im Bereich Film, Design oder Kunst, kann sich bei Von Seite ausprobieren, wachsen und feiern lassen. Und das wird am Ende mit gegenseitigem Vertrauen bestärkt. Mit dem Wunsch nach mehr Offenheit und mehr Diversität in Kunst und Kultur, ist Von Seite dabei, ihren Events immer mehr Gehör zu verschaffen und stetig neue Menschen zu erreichen.

Hast du erst einmal dieses Familiengefühl erfahren, fällt es sehr schwer sich von ihren Veranstaltungen fernzuhalten. Halte deine Augen und Ohren diesen Sommer besonders weit offen. Die Jungs und Mädels haben noch so einige Asse im Ärmel und werden dich garantiert mitreißen, wenn du ihnen die Chance dafür gibst. Vertrau mir – es wird sich lohnen!

„Ein Space , in dem sich jede*r willkommen fühlt.“
Die Crowd auf der ersten Von Seite Veranstaltung im Kleingarten e.V.
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Hinter den Kulissen

Eins ist sicher: Das Entwerfen eines Magazins ist kein Selbstläufer. Das haben auch wir gemerkt. Was unsere Kräfte erforderte, zeigen wir mit einem Blick behind the scenes.

Genaue Recherche, spontane Meetings, ein kontinuierlicher Ideenfluss aller Beteiligten in der Redaktion, gefolgt von Fotosessions, Brainstormings zur Titelgestaltung, nächtlichen Layout-Sitzungen der Artdirektion und unzähligen Abstimmungen mit der Redaktionsrunde. Man sieht: Das alles steckt - neben viel Lesenswertem - in der diesjährigen Ausgabe von Campus38.

Die ersten Layout-Sitzungen der Artdirektorinnen Dilara Selle & Marie Juchems im C-Gebäude der Ostfalia. Bild: Dilara Selle
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Bild: Marie Juchems

Der Kühlschrank aus dem AStA-Gebäude wurde für das Cover-Shooting in das Fotostudio verfrachtet.

Als Fotografin war Bahriye Tatli dabei.

Bilder: Felix Warsawa

Die Beteiligten-Fotos wurden ebenfalls im Fotostudio geschossen. Gemeinsam mit dem Fotografen Helge Krückeberg.

Bild: Helge Krückeberg

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Impressum

Campus 38

Ein studentisches Projekt der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften.

Die sechste Ausgabe des Campus38Magazins wurde in einem interdisziplinären Projekt von Studierenden der Fachrichtungen Medienkommunikation (B.A.) und Mediendesign (B.A.) produziert.

Adresse:

Karl-Scharfenberg-Str. 55/56

38229 Salzgitter

Redaktion Campus38: Redaktion Studiengang Medienkommunikation B.A.

V.i.S.d.P: Prof. Dr. Marc-Christian Ollrog

Mitarbeit: Megan Hanisch, Marcel Franze und Jens Martens

Kontakt:

Telefon: 05341 87552170

E-Mail: m.ollrog@ostfalia.de

Chefredaktion:

Antonia Slupa

Benedict Carli

Marcel Richter

Dahlia Dziggel

Felix Warsawa

Maximilian Kühn

Melanie Walther

Tosha Rana Hausmann

CvD:

Lucy Bense

Jan Ollmann

Melanie Walther

Rohila Ziai-Nouri

Lennard Burghardt

Art-Direktion:

Dilara Selle

Marie Juchems

Layout-Beratung: Prof. Klaus Neuburg

Fotografische Beratung:

Helge Krückeberg

Redaktionelle Beratung: Dr. Jochen Schlevoigt

Endredaktion:

Lara-Malin Blazek

Leonie Winger

Leonie Gutsche

Pia Kellner

Ilayda Kirişçi

Michelle Langlotz

Luba Boger

Larissa Schuldt

Druck: Druck & Verlag Kettler GmbH, Bönen

Papier:

Lessebo Design natural (FSC Mix)

Typografie:

Bunch von Cristi Bordeianu & Andrei Robu (typeverything), Muli von Vernon Adams (Adobe Fonts), Garvis Pro von James Todd (Adobe Fonts)

Fotos:

Alle Fotorechte sind in den Artikeln angegeben.

Titelfoto:

Bahriye Tatli

Vervielfältigungs- und Nutzungsrechte sowie Anzeigengestaltung: Vervielfältigungs- und Nutzungsrechte sowie Insertionen können über die Ostfalia angefragt werden.

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Blauer Himmel, keine Wolken und ein Ziel vor Augen.

Langsam, aber entschlossen.

55 Stufen.

Eine nach der nächsten.

Zweifel.

Zweifel?

Nein.

Nicht lange nachdenken.

Zwei, drei, vier große Schritte.

Fünf.

Ins Nichts.

Fallen und Fliegen.

Zehn ganze Meter.

Eintauchen, ins kühle Nass.

Auftauchen.

Augen aufreißen.

Umschauen.

Geschafft.

Tosha Rana Hausmann
Ode 4/4 • An das Gefühl 82
Informier dich unter: www.ostfalia.de/k/studium
Dein Medienstudium an der Ostfalia

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Articles inside

Hinter den Kulissen

1min
pages 78-79

WOHNZIMMER VIBE

3min
pages 74-77

Die verlorene Zeit

3min
pages 73-74

LEINWAND HAUT

5min
pages 64-72

5

1min
page 63

Kalter Entzug?

1min
page 62

„Was du brauchtest , hast du geholt“

6min
pages 59-61

Verbrecher in Rente

2min
pages 58-59

Das innere Schweinehündchen

1min
page 57

Gesichtsgitter und Hörsaal

5min
pages 54-56

Für ein bisschen mehr Spannung werden auch mal ein paar Euros investiert.

4min
pages 51-53

Du bist kein Gewinner

2min
pages 50-51

Mama, wo bist du?

2min
page 49

CHILL MAL, PUPPE!

4min
pages 46-48

Dauerhafte Erniedrigungen und Beleidigungen konnte er nicht sein lassen, auch wenn seine Partnerin bereits am Weinen war.

3min
pages 45-46

TRASH-TV

3min
pages 43-44

Sag jetzt bloß nichts!

1min
pages 36-41

Viele schätzen es, wenn man sich zu ihnen setzt und fünf Minuten einfach nur zuhört .

6min
pages 31-35

Das Kartenhaus droht zu zu brech sammen en

2min
pages 30-31

Zukunftsmodell Künstliche Kreativität

3min
pages 28-29

Die Anderen und Ich

7min
pages 21-27

VintageRevival

1min
pages 18-20

Einmal Hauptschule, immer Hauptschule?

6min
pages 14-17

Princess Culture

1min
page 12

Kalte Suppe auf dem Balkon

7min
pages 8-11

WOHNZIMMER VIBE

3min
pages 38-39

Die verlorene Zeit

3min
pages 37-38

LEINWAND HAUT

5min
pages 33-37

&

1min
page 32

Kalter Entzug?

1min
page 32

Verbrecher in Rente

8min
pages 30-31

Das innere Schweinehündchen

1min
page 29

Gesichtsgitter und Hörsaal

5min
pages 28-29

Du bist kein Gewinner

6min
pages 26-27

Mama, wo bist du?

2min
page 25

CHILL MAL, PUPPE!

4min
pages 24-25

Faszination TRASH-TV

7min
pages 22-24

Sag jetzt bloß nichts!

1min
pages 19-21

Das Kartenhaus droht zu zu brech sammen en

9min
pages 16-18

Die Anderen und Ich

11min
pages 11-15

VintageRevival

1min
page 10

Einmal Hauptschule, immer Hauptschule?

6min
pages 8-9

Princess Culture

1min
page 7

Kalte Suppe auf dem Balkon

7min
pages 5-6
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Campus38 Magazin - Das junge Magazin aus der Ostfalia | no. 6 by Campus38 - Issuu