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­ inem neuen Phänomen auf den Leim gee gangen, der sogenannten Löseritis. Heutzutage bauen Unternehmen Probleme auf Lösungen, die es gar nicht gibt, und wir kaufen diese sogar. Obgleich diese Dynamik bereits vor der Digitalisierung anzutreffen war, ist sie nun wahrhaftig explodiert – vor allem durch die Möglichkeit, sich das Gerät ganz schnell online zu bestellen. Getoastetes Brot, mehr nicht. Das Ganze läuft in drei Phasen ab. Zuerst wird ein bereits bestehendes Produkt digitalisiert, einfach weil man es kann – zum Beispiel ein Toaster. Den kann man mit dem Smartphone steuern, sehr beeindruckend und dementsprechend teuer. Dann merkt der Produzent aber langsam, dass das Produkt keinen inhärenten Mehrwert für Endkund(inn)en hat. Im Ende ist das Stück Brot eben getoastet, nicht mehr, nicht weniger. Also beginnt Phase zwei, das Marketing. Alles an Werbebudget wird hineingebuttert, mit der Aufgabe, Endkund(inn)en einzureden, wie dringend er doch besagtes Smart-Gerät braucht. Das funktio-

niert genau so lange, dass man die produzierte Ware noch verkauft kriegt. Folgt der letzte Schritt, indem man es still vom Markt zieht und sich über die Profite freut. Dann kann der Prozess wieder von vorne beginnen. Hoffentlich hat die coronabedingte Zeit zu Hause uns geholfen, auszusortieren, welche Gadgets wirklich Sinn machen und welche nur Abzocke sind. Am Ende landen 95 Prozent davon sowieso auf der Halde. Wenn wir nicht daraus lernen, wird die Löseritis zu einer chronischen Krankheit – noch eine brauchen wir wirklich nicht. Wertvoll, neu oder beides. Für die Technolution, den evolutionären Prozess, der bestimmt, welche neuen digitalen Produkte sich langzeitig durchsetzen, ist die Löseritis nicht unbedingt von Vorteil. Die großen Werbekampagnen verzögern das Absterben eines Produkts so lange, dass es gelegentlich eine parasitäre Rolle einnimmt. So sind Alexa & Co. für viele Menschen nicht mehr wegzudenken, aber eigentlich die ganze Nummer nicht wert. Klar, es ist nice, ihr zu sagen, sie solle „Despacito“ spielen.

Aber dass die Datensammlung, die durch das kleine, unscheinbare Gerät passiert, an eine Dystopie direkt aus Hollywood gemahnt, ist uns egal. Denn wir sind an Löseritis erkrankt. Die Selbstdiagnose ist zum Glück nicht schwer. Wenn Sie ein „cooles“ Gadget also dank der Internetalgorithmen empfohlen kriegen, sollten Sie sich die Frage stellen: Ist es wertvoll und neu oder nur eines von beiden? Die Schnittfläche ist das, was wahre Innovation ausmacht – der Rest ist Geld- und vor allem Zeitverschwendung. Man muss nicht bei jedem Hype mitmachen. Die ewig gesuchte Achtsamkeit besagt ja, die Kontrolle über die eigene Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. Zukunft entsteht nicht dann, wenn alles, was digitalisiert werden kann, endlich digitalisiert ist. Sie entsteht, wenn wir Zeit für mehr Menschliches schaffen. Die Zukunftsvision kann nicht sein, uns endlich von unserem haptischen Dasein zu befreien, sondern es zu verbessern. Das gilt für Gadgets sowie das Internet. Smart Tech kann auch Low Tech sein. Tristan Horx

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