S TA N D P U N K T
n e f l ug h ö H Bernd Ritschel
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ir die Gipfel
in Schritt vor und ein halber zurück. Die Oberschenkel brennen, der Atem geht schwer. Nein, ich wurde nicht unfreiwillig aufs Tanzparkett gezogen. Traumtänzer bin ich trotzdem: Ich versuche gerade, in einer gut 35 Grad steilen Geröllflanke irgendwie an Höhe zu gewinnen. Weglos und einsam. Alles um mich herum scheint lose und locker zu sein, alles rutscht und wackelt. Erst als eine begrünte Rampe nach rechts hinauf zum Südgrat des Lochkogels zieht, geht es sich leichter. Wenig später trete ich aus dem Schatten ins Licht. Die Sonne blendet in glasklarer Luft. Ein Stück steige ich noch höher, um mich auf einem flachen Absatz ins trockene Gras zu setzen. Um mich herum nur Stille und Weite, Schönheit und Friede. 1.800 Meter tiefer verteilen sich die Häuser von Huben im flachen Grün, eine Talstufe höher glitzern die Dächer von Sölden in der tief stehenden Sonne. Beim Blick über die Gipfel bekomme ich eine Gänsehaut: Über 60 Dreitausender ragen in den tiefblauen Himmel. Auf die Atterkarspitze und die Wilde Leck im Süden folgen die vergletscherten Gipfel des Gurgler Kammes. Auf die wuchtigen Berge des Ramolkammes folgt das riesige Gletschermeer der Wildspitze (3.774 Meter). Im Westen all die Gipfel des Geigenkammes und des dahinterliegenden Kaunergrates.
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O E T Z TA L - M AG. C O M
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All diese Berge gaben und geben meinem Leben Sinn. Allerdings versuchte ich in den letzten Jahren, ein wenig „Druck“ aus meinem alpinen Tatendrang zu nehmen. Schwierigkeitsgrade und Gipfelhöhen traten in den Hintergrund. „Der Weg ist das Ziel“ wurde zu meiner fotografischen und entschleunigenden Maxime. Aber wenn ich ehrlich bin, ist es nach wie vor ein unbeschreiblich schönes, ein erhebendes, ja fast magisches Gefühl, den höchsten Punkt eines Berges zu betreten. Hinauszuschauen aufs Wogen des Gipfelmeers, hinabzublicken in die Täler. Der alpine Dauerseller des 79-jährigen Tiroler Spitzenbergsteigers Peter Habeler über sein aufregendes Leben mit und in den Bergen der Welt trägt den Titel „Das Ziel ist der Gipfel“. Recht hat er.
Sinn des Nutzlosen
Natürlich ist es nutzlos, auf die Gipfel der Alpen und anderer Gebirge zu steigen. Aber wenn der Nutzen all der Anstrengung, all der Quälerei, der Abenteuer und der Gefahren mir auch weiterhin so viel pures Glück schenkt, bin ich gerne bereit, weiter dem Nutzlosen zu frönen. Weise Worte des chinesischen Philosophen Tschuang-Tse: „Alle kennen den Nutzen des Nützlichen, aber niemand versteht den Nutzen des Nutzlosen.“