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Vom Eis befreit
from Ötztal Magazin
by Griassdi.com
Bernd Ritschel Wo die Gletscher geschmolzen sind, entsteht in kurzer Zeit ein neuer Lebensraum für Tiere und Pflanzen: das Gletschervorfeld. Unser Autor hat die neuen Naturwunder am Rand des Rotmoosferners in Gurgl beobachtet.
Eine Herde Haflinger galoppiert voller Leichtigkeit und mit wehenden Mähnen über die Wiesen bei der Schönwieshütte. Ein grüner Hügel, dahinter ein weites Tal. Bin ich hier wirklich in den Alpen? Ja, und wie. Auch wenn das Rotmoostal vom Landschaftsbild wunderbar in das schottische Hochland oder gar nach Island passen würde, so ist es doch ein Teil der Ötztaler Alpen. Alles hier erinnert an eine archaische, seit Ewigkeiten unveränderte Urlandschaft. Über vier Kilometer zieht das Hochtal als grüner Trog Richtung Südosten. Erst an seinem Ende steilen sich die Geröll- und Felsflanken auf, bevor die Eisfelder des Rotmoos- und Wasserfallferners zu den schroffen Gipfeln hinaufziehen. Beide Gletscher haben sich in den letzten Jahren stark zurückgezogen. Und genau dort, wo das Eis zuletzt abgeschmolzen ist, entsteht ein neuer Lebensraum der Natur. Aber was tritt unter dem Eis zutage? Wie lange dauert es, bis sich erstes Leben, erstes Grün und damit wieder eine Pflanzen- und Tierwelt dort ansiedelt?

Maximaler Wandel
Heute weiß man, dass vor allem die Gletscherzungen in den Tieflagen, die nicht von Schutt bedeckt sind, sehr schnell abschmelzen. Die Flächen, die das Eis freigibt, nennt man Gletschervorfeld. Dort entwickelt sich binnen weniger Jahre neues Leben. An den Rändern wachsen erste Büsche und Bäume, im Vorfeld selbst blühen Dutzende verschiedener Blumen. Die Wurzeln dieser jungen Vegetation stabilisieren den Boden und verhindern damit das Wegspülen von Erdreich, Kies und Sand bei Starkregen und Hochwasser. Der Botaniker Roland Mayer vom „Naturpark Ötztal“ ist begeistert: „Es gibt nur wenige Orte auf der Erde, wo sich die Natur – das heißt die Pflanzen- und Tierwelt – so frei und in so einer Fülle und Vielfalt entwickeln kann wie in einem neu entstanden Gletschervorfeld. Hier passiert maximale Veränderung auf engstem Raum und in kürzester Zeit.“
Als der gut markierte Wanderweg hinauf zum Rücken der Hohen Mut nach links abzweigt, gehe ich einfach geradeaus weiter. Nur mehr selten entdecke ich ein paar Trittspuren im Sand. Eis und Wasser haben hier kleine Moränenrücken und windgeschützte Mulden entstehen lassen. Vorsichtig setze ich meine Schritte auf den Fels. Überall dort, wo Sand und Kies überwiegen, schmücken bunte Farbkleckse den graubraunen Boden. Es sind abertausende kleiner Blumen, die Licht und Wärme des kurzen Sommers nutzen. Mal überwiegt das Violett des Alpen-Leinkrauts, dann wieder das leuchtende Gelb des Fetthennen-Steinbrechs. Wenige Meter weiter entdecke ich einen Alpentragant und einen komplett mit Stängellosem Leimkraut bewachsenen kleinen Buckel. Niemals hätte ich in diesem kargen Gelände so eine Blumenvielfalt erwartet. Welche Kraft steckt nur in all den winzigen Blumen, um den von Regen und Wind verdichteten Sand zu durchdringen? In diesem kleinen Gletschervorfeld auf fast 2.500 Meter kann man jeden Sommer wieder Evolution pur erleben. Weit verzweigt hat sich der Gletscherbach vom Rotmoosferner seinen Lauf durchs Tal gesucht und die Landschaft gestaltet. Mal mäandert er um Kiesbänke herum, wenig später sind es fast ein Dutzend einzelner Wasserläufe, die parallel talaus fließen. Selbst auf den Inseln dazwischen, die ja nur aus Geröll und Sand bestehen, blüht es im Juni und Juli. Links und rechts der Bachläufe stehen die sattgrünen Wiesen und die feuchten Moos- und Moorflächen, für die das Rotmoostal so bekannt ist. Weißes Wollgras weht im lauen Wind des Nachmittags.
Rotmoostal Alpen-Leinkraut

Es gibt nur wenige Orte auf der Erde, wo sich die Natur so frei entwickeln kann. Hier passiert maximale Veränderung auf engstem Raum und in kürzester Zeit. “
„Es war einmal...“
Mit diesen Worten werde ich wohl in ein paar Jahren ein „modernes“ Märchen für meine Enkel beginnen. Es wird
Alpentragant im Rotmoostal
ein Märchen voll eisiger Abenteuer und leidenschaftlicher Emotionen. Eine Frage stellt sich aber jetzt schon: Wird es den Rotmoosferner dann überhaupt noch geben? An manchen Tagen sind es eher traurige Erinnerungen, die ich mit dem Rückgang der Gletscher in den Alpen verbinde. So manche Eistouren, die wir in unserer Jugend, das heißt vor mittlerweile 40 Jahren, noch durchwegs mit Steigeisen an den Bergschuhen gehen konnten, sind heute im Hochsommer eisfreie Bergtouren. Die Gletscher ziehen sich unaufhaltsam in die Hochlagen der Alpen zurück.
Nichts bleibt, wie es ist
Landschaftlich hat sich die Schöpfung mit dem Rotmoostal und der Hohen Mut in epischer Schönheit entfaltet. 15 Dreitausender umrahmen den Kamm der Hohen Mut. Alles überragend steht im Talschluss der 3.489 Meter hohe Hintere Seelenkogel. Links davon das tausendfach fotografierte und auf Postkarten verewigte Dreigestirn von Scheiber-, Trinker- und Heuflerkogel. Im Osten ragen steil und abweisend Gipfel wie Granatenkogel, Hochfirst und Liebenerspitze auf. Alles scheint wie immer – und doch hat sich die Landschaft massiv verändert. Im Frühsommer bedecken noch große, strahlend weiße Schneeflächen das Eis der Gletscher und vor allem auch die neu entstandenen, weitläufigen Geröllhänge. Im Spätsommer, wenn nur noch die schneefreien Gletscherflächen im Talschluss zu sehen sind, wird das volle Ausmaß des Gletscherrückganges sichtbar. Schon seit vielen Jahren sind der Rotmoos- und der Wasserfallferner nicht mehr miteinander verbunden. Noch in den 1980er Jahren verschmolzen ihre Eisströme zu einer breiten, mächtigen Zunge. Mittlerweile hat sich der Wasserfallferner bis weit hinauf Richtung Seelenkogel zurückgezogen. Vom Rotmoosferner existieren nur noch ein paar einzelne, nicht mehr miteinander verbundene Gletscherreste unter dem Rotmoosjoch. Schlimm? Ja und nein. Seit es die Erde gibt, verändert sie ihr Antlitz. Aber wir Menschen brauchen sie zum Leben und ohne Natur gibt es für uns langfristig kein Überleben.



Vom Rotmoosferner existieren nur noch ein paar einzelne Gletscherreste unter dem Rotmoosjoch. Schlimm? Ja und nein.
„Happy End?“
Nur noch ein paar hundert Meter trennen mich von der sonnigen Terrasse der Schönwieshütte. Hunger und Durst haben meinen Schritt zuletzt beschleunigt. Selbstverständlich suche ich mir einen Tisch mit ungetrübtem Blick ins Rotmoostal. Die Traurigkeit beim Gedanken an die zurückweichenden Gletscher weicht jetzt Freude und Zuver-
SÖLDEN
HOCHGURGL
Die Schönwieshütte 2.270 Meter


sicht. Zuversicht deswegen, weil ich dort hinten niemals in so kurzer Zeit so viel frisches Leben erwartet hätte und Freude, weil das Rotmoostal auch mit kleineren Gletschern einfach wunderschön ist. Kein anderes Gletschervorfeld im Ötztal ist so vielfältig und dank der Seilbahn auf die Hohe Mut auch so angenehm zu erreichen. Seit es die Erde gibt, gibt es den Wandel. Altes geht, Neues entsteht. Natürlich müssen wir alle Anstrengung auf den Schutz dieser so wertvollen Natur richten. Deren Kraft und Ressourcen sind begrenzt. Doch letztendlich erzählt jedes einzelne neue Gletschervorfeld, das gerade in den Alpen entsteht, von einem kleinen Wunder. Und – zumindest lokal betrachtet – von einem kleinen ökologischen „Happy End“. Das sollte uns Menschen Ansporn sein.

Rotmoostal BERND RITSCHEL
Das Ötztal ist seit Jahrzehnten eines der bevorzugten Touren- und Fotomotivreviere des international renommierten bayerischen Autors und Fotografen.
Weitere Informationen unter www.oetztal.com www.naturpark-oetztal.at