alpenblick, Ausgabe 1/2022

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Fotos: Ingrid & Björn Klaassen

Gastkommentar

Hike & Fly Ein paar Quadratmeter Nylonstoff, geschickt und gut durchdacht zusammengenäht, ergeben einen Gleitschirm. Es ist der minimalistische Flügel aus dem Rucksack und eine wirklich fantastische Erfindung. Du trägst ihn zu Fuß auf den Berg und oben verwandelst du dich in einen Vogel. Als ich das erste Mal abhob, konnte ich es kaum fassen. Mit ein paar Schritten gegen den Wind füllte sich das Segel, ich wurde immer leichter und irgendwann flog ich – ohne Motor. Das Fliegen ist überwältigend, die Erde von oben zu betrachten ein unglaubliches Geschenk. Die Vogelperspektive ist aufregend und neben dem Bergsteigen meine große Leidenschaft. Selbst nach vielen Jahren und ein paar tausend Flügen habe ich immer noch das gleiche großartige Gefühl der Freiheit. Es hat einfach nicht nachgelassen. Am liebsten würde ich es dabei belassen: Aber jeder Alpinist und Pilot weiß, dass das mit der Leichtigkeit nicht die ganze Wahrheit ist. Fliegen ist nicht so simpel. Das Handwerk muss sorgfältig in einer Flugschule gelernt werden. Fliegen, erst recht im hochalpinen Gelände, stellt deinen Charakter auf die Probe: Denn oben am Berg weht der Wind manchmal zu stark oder er kommt wieder mal aus der falschen Richtung. Wo ist der

gesuchte Aufwind und wo lauern unangenehme Turbulenzen? Der Gedanke ist verlockend, ohne mühevollen Abstieg ins Tal zu fliegen. Die Situation richtig zu interpretieren ist herausfordernd. Erst mal in der Luft, musst Du den Flug bis zur Landung zu Ende bringen. Aber genau das macht es auch aus. Du selbst musst Wetter, Startplatz und dein eigenes Können ehrlich und passend einschätzen. Mir hat immer geholfen, dass ich vom Bergsport gekommen bin, denn die richtige Einschätzung des Risikos ist das A & O beim Klettern und beim Fliegen. Steinschlag, Lawinen, ausbrechende Tritte oder rutschige Eisplatten sind genauso problematisch wie Leewirbel, Einklapper oder zu starker Talwind. Das Gleitschirmfliegen und die Flügel haben sich ständig weiterentwickelt. Vieles haben wir uns von den Vögeln abgeschaut; zum Beispiel wie wir den Aufwind und die Thermik nutzen können. Inzwischen fliegen wir stundenlang und weit. Ein 100 km Flug ist an thermischen Tagen nichts Besonderes mehr. Nicht minder schön sind die „Abgleiter“ in ruhiger Luft. Zu Fuß oder kletternd auf den Berg und dann einfach ins Tal fliegen. Und da gibt es noch etwas: Die Ausrüstung ist immer leichter geworden. Eine leichte Hike & Fly

Ausrüstung wiegt nur noch zwischen 5–8 kg. Und wo darf ich starten? Das ist nicht ganz so einfach: Das Gleitschirmfliegen ist komplett ins Luftverkehrsgesetz integriert. In Deutschland darf daher nur von zugelassenen Fluggeländen gestartet werden, im Ausland ist es etwas einfacher. Grundeigentümer und Naturschutzaspekte sind natürlich zu respektieren. Mein schönstes Hike & Fly Erlebnis hatte ich im vergangenen Jahr bei einem 2-wöchigen Biwakflug. Die Flugausrüstung ist inzwischen so leicht geworden, dass Zelt, Kocher, Isomatte, Trockennahrung und eben der Gleitschirm in meinen Rucksack passen. Tagelang bin ich gelaufen, geklettert, habe wilde Flüsse überquert und bin von unglaublichen Bergen geflogen. Es hat viel geregnet auf dieser Tour. Aber am Ende, nachdem das Wetter besser wurde, flog ich vor der Wand des Ulamertorsuaq, einer der beeindruckendsten Big Walls in Grönland und konnte mein Glück kaum fassen. Alle Anstrengungen waren vergessen. Federleicht hob ich ab. Der Aufwind trug mich bis unter die Wolken.

Björn Klaassen steigt auf Berge seit seinem 12. und fliegt seit seinem 23. Lebensjahr. Forstingenieur und Fluglehrer, leitet das Referat Flugbetrieb/Naturschutz beim Deutschen Gleitschirm und Drachenflugverband (DHV). alpenblick 1 | 2022

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