Schmuck aus Haar

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Schmuck aus Haar Appenzeller Verlag Leseprobe Johannes Schläpfer

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Johannes Schläpfer

Schmuck aus

HAAR Lege zwei über drei, zwei über eins, drei über vier


© 2021 by Appenzeller Verlag, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Gestaltung Umschlag/Inhalt: Brigitte Knöpfel Gesetzt in Macklin und Univers Druckvorstufe: Verlagshaus Schwellbrunn Druck: Appenzeller Druckerei AG, Herisau ISBN 978-3-85882-847-7 www.appenzellerverlag.ch


ES IST KEIN HAAR SO KLEIN, DASS ES NICHT SEINEN SCHATTEN HAT.

Schottisches Sprichwort


Inhalt

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VORWORT

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DIE BEDEUTUNG MENSCHLICHEN HAUPTHAARS

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Das Haar in der Literatur

16

Das Haar als Schmuck

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Das Haar in der Religion

20

Das Haar als Signal persönlicher Ehre

22

Die Sprache der Haare

23

Das Haar in der Heilkunst

24

KUNST AUS HAAR – EIN TEILEUROPÄISCHES KULTURERBE

24

Zeitliche und geografische Verortung

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Kulturgeschichtlicher Hintergrund

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Wer stellte Haararbeiten her?

29

Anleitungsschriften

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Aussterbendes Kunsthandwerk

34

Blühender Haarhandel

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Ursprung der Haarflechtkunst

38

Haarbilder


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DAS KUNSTHANDWERK DES HAARFLECHTENS IM APPENZELLERLAND

50

Appenzeller Haarflechtkunstschaffende

50 Johann Anton Seraphin Broger 54 Christian Linherr 56 Maria Elisabetha Signer

58 Gallus Anton Forrer

59 Johann Jakob Rohner 65 Mina Inauen 67 Jakob Schiess 67

Appenzeller Haarbilderkunstschaffende

70

LEIDENSCHAFT UND SACHVERSTAND VEREINT – DER HAARFLECHTKÜNSTLER JAKOB SCHIESS

78

Flechtbrief zum runden Kordelgeflecht «Strickliesel»

80

Flechtbrief zum Kordelgeflecht «Kette mit Kreuzbogen»

82

Flechtbrief zum Hohlgeflecht «Enger Löcherschlag»

84

Flechtbrief zum Flachbandgeflecht «Flaches Muster»

86

Haarschmuck aus Jakob Schiess’ Kunstwerkstätte

DANK BIBLIOGRAFIE 131 AUDIO- UND VIDEOQUELLEN 132 ABBILDUNGSNACHWEISE 134 AUTOR 120

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Vorwort

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ie Anfrage des in Appenzell lebenden Ausserrhoders Jakob Schiess, mich als Autor für ein Buch über das von ihm gepflegte Kunsthandwerk des Haarflechtens zu gewinnen, freute mich aus zwei Gründen. Erstens hatten wir uns in

den vergangenen Jahren etwas aus den Augen verloren. Zweitens sah ich in einer Zusage die willkommene Gelegenheit, in meinen vor vierzig Jahren an der Universität abgeschlossenen Studienfächern «Neuere deutsche Literatur» und «Dialektologie und Volkskunde der Schweiz» zu forschen. Meine erste Begegnung mit Jakob Schiess war militärischer Art: Er leistete in der Infanterie-Rekrutenschule 1984 in meiner Kompanie Dienst als Korporal. Richtig kennengelernt habe ich ihn 1985 anlässlich folgender Begebenheit: Meine Kompanie stand in Buttes JU zur Entlassung in den Wochenendurlaub bereit. Da bekam ich von der vorgesetzten Stelle mitgeteilt, dass ich einen Unteroffizier zu stellen hätte, der Soldaten anderer militärischer Einheiten, die übers Wochenende in der Kaserne Kloten Bülach arrestiert werden mussten, dorthin begleiten und betreuen soll. Auf meinen Aufruf meldete sich Jakob Schiess spontan und ersparte mir die unangenehme Aufgabe, jemanden zu bestimmen. Danach begegneten wir uns in der Migros Teufen, wo er Abteilungsleiter war, später im Konsum Speicher, den er führte. Auf den 1. April 1990 übernahm er zusammen mit seiner Frau Rita einen Lebensmittelladen in Trogen. Sein kunsthandwerkliches Geschick offenbarte sich in seinen dekorativen Käseplatten. Bald einmal zeigte sich unsere gemeinsame Faszination fürs Silvesterklausen – er pflegte den Brauch aktiv, ich beobachtete ihn als Volkskundler.

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Im ersten Kapitel versuche ich, mich dem Thema der Haarobjektkunst anzunähern. Dabei bietet sich eine literarhistorische Betrachtung an, um die Bedeutung von Haaren in der Menschheitsgeschichte schlaglichtartig darzustellen. Das zweite Kapitel ist der Anfertigung von Kunstobjekten aus Menschenhaaren als teileuropäischem Kulturerbe gewidmet. Im Vordergrund stehen die Ausgestaltung diverser Gegenstände sowie die Anfertigung von Schmuck und Zierrat seit dem Ende der Barockzeit. Es folgt eine Darstellung des Kunsthandwerks im Appenzellerland, die einen international tätig gewesenen, hierzulande bis anhin aber unbekannten Innerrhoder Haarflechter zutage fördert. Im letzten Kapitel geht es um den Künstler Jakob Schiess und dessen Wirken. Dabei werden auch die einzelnen Schritte vom Haar bis zum fertigen Schmuckstück in Wort und Bild dargestellt. Fotografien von fili­ gran gefertigten Haararbeiten aus Jakob Schiess’ Kunstwerkstätte schliessen das Buch ab. Orthografie und Interpunktion in Zitaten folgen der neuen Rechtschreibung. Eszett wurden durchgehend durch Doppel-s ersetzt, offenkundige Irrtümer stillschweigend korrigiert. Teufen, im September 2021 Johannes Schläpfer

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Die Bedeutung des menschlichen Haupthaars

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em menschlichen Haupthaar kommt von alters her eine besondere und mehrschichtige Bedeutung zu. Welche Kraft ihm innewohnt, davon zeugen Legenden um die biblischen Figuren Samson und Absalom.

Solange Samson sein Haupthaar ungeschoren liess, blieb er als Aus-

erwählter Gottes für die Philister unbesiegbar. Folglich triumphierte er über die Unterdrücker Israels. Nachdem er dieses Geheimnis seiner Frau Delila verraten hatte, liess sie sich von den Philistern bestechen und gab es an sie weiter. Samson wurde gefangen genommen, geblendet und geschoren. Als sein Haar wieder gewachsen war, erlangte er noch einmal seine Kraft und brachte den Philistertempel zum Einsturz, wodurch er 3000 Philister mit sich in den Tod riss.1  Abb. 1 Absalom, dritter Sohn König Davids, war gekennzeichnet von besonderer Schönheit und überreichem Haar. Nach dem Rachemord an seinem Halbbruder Amnon floh er vor seinem Vater. Obwohl ihm David fünf Jahre später vergab, plante Absalom eine Verschwörung gegen seinen Vater, um selbst die Herrschaft zu übernehmen. Es kam zur Schlacht im Wald von Efraim, und auf der Flucht vor den Soldaten seines Vaters blieb Absalom mit seinem langen Kopfhaar in der Krone eines Baums hängen. Daraufhin wurde er von Joab, dem Hauptmann Davids, getötet.2  Abb. 2 Letzteres lässt beim Autor Jugenderinnerungen hochsteigen. Immer wenn es zwischen seinem Vater und ihm zu Diskussionen über die Länge des Kopfhaars ging und er sich seiner Aufforderung, dieses schneiden zu lassen, zu widersetzen versuchte, konterte dieser mit dem Sprüchlein: «Absalom, der Königssohn, blieb am Bömmli hange, het er of sin Vater gloset, wär’s em nüd so gange.» Damit obsiegte er jedes Mal mit dem bis in die 1970er-Jahre geltenden Erziehungsprinzip «Solange die Kinder ihre Füsse unter ihres Vaters Tisch stellen, haben sie zu gehorchen.» 10


1  Samsons Rache und Tod

2  Der Tod des Absalom

Dem Haupthaar wird auch eine magische Bedeutung beigemessen, und zwar im Rahmen des Liebes- wie des Totenkults. Dafür sei auf mehrere literarische Beispiele und Objekte verwiesen.

DAS HAAR IN DER LITERATUR Anfangs des 17. Jahrhunderts schrieb der deutsche Dichter und Theoretiker des Barocks und Spätmittelalters, Martin Opitz (1597 – 1639), das Gedicht:3 An das Armband O Band, o schönes Band, geflochten von den Haaren, Die auf der Liebsten Haupt hiervor gestanden waren, An Gold und Perlen reich, umbunden meiner Hand; Ein Zeichen ihrer Treu und ihrer Liebe Pfand; Du hast mir nicht allein die schwache Faust umgeben; Durch dich ist auch bestrickt mein Sinn, mein Herz und Leben. O wertes edles Pfand, o Bürgin ihrer Hold, An dir ist um und um geringers nichts als Gold. 11


Kunst aus Haar – ein teileuropäisches Kulturerbe

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ie Verwendung von menschlichem Haar zur künstlerischen Ausgestaltung diverser Gegenstände sowie zur Anfertigung von Schmuck und Zierrat ist seit dem Ende der Barockzeit nachweisbar. Die Blütezeit dieser Art von Schmuck

und Haarbildern vorwiegend mit Andenken-Charakter sowie das goldene Zeitalter der Haararbeit lagen im 19. Jahrhundert. Eingezwängt zwischen zwei blutigen Perioden der Geschichte, der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg, war diese Mode sehr beliebt. Das bis in die 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts gepflegte Handwerk erfährt aktuell dank weniger Kunsthandwerkerinnen und -handwerker in verschiedenen europäischen Ländern, selbst in der Schweiz und in Appenzell Innerrhoden, eine erfreuliche Renaissance. Dass zur Anfertigung von Schmuck Menschenhaare verarbeitet werden, löst bei einzelnen eine gewisse Abneigung aus. Das ist verständlich: Empfindet man das Haar eines geliebten Menschen meist als etwas Angenehmes und Schönes, verspürt man gegenüber fremdem Haar oft ein Unbehagen.

ZEITLICHE UND GEOGRAFISCHE VERORTUNG Die Zeit, in der man begann, Menschenhaar als Grundlagenmaterial für kunsthandwerkliche Gegenstände zu verwenden, stand im Spannungsfeld zwischen der Aufklärung, die die Vernunft in den Vordergrund stellte, und einer Strömung, der Emotionen weit wichtiger waren als das rein Rationale. Überschwängliche Gefühle waren für jene, die sie hatten, kein Makel, sondern zeichneten sie als sittliche Menschen aus. Diese Philosophie wendet sich gegen eine strikt vernunftorientierte Lebensweise und stellt dieser auch eine Betonung der Privatsphäre entgegen. Die deutsche Kulturwissenschaftlerin Nicole Tiedemann1 hat aufge24


zeigt, dass Haarschmuck seit dem Mittelalter beinahe für jedes Jahrhundert nachweisbar ist, die Quellen und Belege für Haarobjekte sich am Ende des 18. Jahrhunderts häufen und das Tragen von Haarobjekten im 19. Jahrhundert zu einem Massenphänomen wurde. Flechtarbeiten mit Menschenhaaren scheinen im ganzen nördlichen und mittleren Europa verbreitet gewesen zu sein. Dabei finden sich Kunstgegenstände aus plastischen Haarblüten vorwiegend in Deutschland, Österreich, der Schweiz sowie den skandinavischen Ländern, derweil in England und Holland, aber auch in den skandinavischen Ländern Haarklebebilder angefertigt wurden. Dass die Haararbeit in Skandinavien tiefe Wurzeln hat, mag an schlechten Ernten im 19. Jahrhundert gelegen haben. Sie begünstigten den Aufschwung für von Landfrauen gefertigte Haarkunst und Schmuck. In Schweden als hårkullor oder Haardamen bekannt, reisten diese traditionell gekleideten und daher sofort erkennbaren Frauen oft nach Mitteleuropa, um Kunsthandwerk auf Haarbasis herzustellen und den Erlös nach Hause zu schicken. So konnten ihre Dörfer am Leben erhalten werden. Sie schufen alle Arten von Schmuck aus Haaren, die üblicherweise vom Kunden zur Verfügung gestellt wurden.  Abb. 11

11 Brosche aus Menschenhaar, Schweden, 20. Jahrhundert

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Das Kunsthandwerk des Haarflechtens im Appenzellerland

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afür, dass im Appenzellerland das Kunsthandwerk des Flechtens von Menschenhaaren nicht nur bekannt, sondern auch gepflegt wurde, sprechen mehrere Zeugnisse. Die älteste gefundene Quelle stammt aus einem Brief, den die vierzehnjäh-

rige Anna Wibertha in Trogen ihrem Vater, Landammann Jacob Zellweger-Zuberbühler, schrieb: «Ma Tante vous aura sans doute dit que j’ai reçu le paquet avec tant de jolies choses qui m’ont fait un extrême plaisir, et pour lesquelles je vous remercie beaucoup, bientôt je me ferai faire des bracelets de ces cheveux cheris, et tant que cela me tente d’employer les petites tresses de mon cher frère Jean Jaques qui est mort, je pense que cela ferait aussi plaisir à ma bonne Maman de sorte que je lui fais faire un collier comme elle me l’a dit.»1 Anna Wibertha beabsichtigte also, aus den Haaren ihres verstorbenen Bruders Armbänder und eine Halskette anzufertigen. Dem Text ist allerdings nicht zu entnehmen, an welche Herstellungsart sie dabei dachte, an eine klassische Flechtarbeit oder an eine jugendliche Bastelarbeit. Gewiss ist, dass es ein Trauerschmuckstück werden sollte.

APPENZELLER HAARFLECHTKUNSTSCHAFFENDE Die folgende Aufzählung orientiert sich am Geburtsjahr der Haarflechtkunstschaffenden. Und so startet die Reihe mit einem Unbekannten.

Johann Anton Seraphin Broger Der Sohn von Zeugherr Johann Jakob Broger, genannt «Kellersjokeli», war mit Elisabeth Forrer, der älteren Schwester des später erwähnten Gallus Anton Forrer, verheiratet. 1835 wanderte der 24-jährige Künstler nach Schwaben aus.2 Das angegebene Alter kann nicht stimmen, denn das Taufbuch 1792 – 1824 nennt den 26. August 1807 als dessen Geburtsdatum.3  Abb. 28 50


28 Eintrag von Johann Anton Seraphin Brogers Geburt im Taufbuch von Appenzell

Ausserhalb Appenzells war er vorerst nachweislich in Bregenz tätig, denn in der dortigen Presse erschien die von ihm unterzeichnete Anzeige: «Der Unterzeichnete gibt sich die Ehre, anzuzeigen, dass er die niedlichsten und geschmackvollsten Arbeiten aus Haaren, als: Korallenketten, Ohrbehänge, Brasseletten, Uhrbänder und Uhrenketten, Vorstecknadeln, Haarblumen und viele andere dergleichen Gegenstände, die aus seinem Musterbuche beliebig ausgewählt werden können, um die billigsten Preise verfertiget. Zugleich wünscht derselbe während seines kurzen Aufenthaltes dahier in obigen Arbeiten Frauenzimmern gegen ein billiges Honorar Unterricht zu erteilen, und versichert, in ganz kurzer Zeit grosse Fersichert (Versiertheit?) beizubringen, deswegen er sich mit der Hoffnung eines zahlreichen Zuspruches schmeicheln zu dürfen glaubt. Er logiert bei Herrn Kanzlisten Fessler Nro. 36, im zweiten Stock.»4 Er zog dann weiter nach Augsburg, wo er seine Dienste mit einem leicht modifizierten und ergänzten Inserat anpries.  Abb. 29 Offensichtlich erfuhr er entsprechenden Zuspruch, denn gegen Ende des Jahres veröffentlichte er einen weiteren Aufruf: «Indem der Unter51


33 Teeservice aus dem Hause Linherr, New York

34 Maria Elisabetha Signer (1824–1908)

Maria Elisabetha Signer Sie kam am 8. Februar 1824 in Appenzell zur Welt und reiste in jungen Jahren nach London, um bei Gallus Forrer, der mit Magdalena Franziska Weishaupt aus Appenzell vermählt war, die Haarflechtkunst zu erlernen. Durch die zweite Heirat ihres Vaters mit Maria Magdalena Linherr 1829 wurde der zuvor erwähnte Christian Linherr ihr Stiefbruder. In London erreichte sie 1840 ein Brief ihres Vaters, in dem er ihr offenbar auch Haare zusandte, denn er schloss sein Schreiben mit den Worten: «Diese schwarzen Haare wirst du wohl kennen.»16 Gemäss Heimatscheinkontrolle respektive Passkontrolle reiste Maria Elisabetha Signer 1849 – vermutlich zusammen mit ihrer Schwester Magdalena – zu ihrem Stiefbruder nach New York, um in dessen Geschäft zu arbeiten.  Abb. 34 Spätestens 1861 kehrte sie nach Appenzell zurück und übte das Haarflechthandwerk an der Poststrasse 8 bis zu ihrem Tod am 17. Januar 1908 aus. Sie stellte ihre Produkte an der ersten Schweizer Landesausstellung aus, die vom 1. Mai bis zum 31. Oktober 1883 auf dem Züricher Platzspitz stattgefunden hatte17, und erhielt dafür einen Preis zugesprochen.  Abb. 35 56


35 Dank-Urkunde an Elisa Signer, Haarbijouterie, Appenzell

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Leidenschaft und Sachverstand vereint – Der Haarflechtkünstler Jakob Schiess

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as letzte Kapitel ist Jakob Schiess und seiner Arbeit gewidmet. Als gebürtiger Ausserrhoder lebt er heute in Innerrhoden und pflegt das Kunsthandwerk so akribisch und präzis, dass er sich einen internationalen Ruf erworben hat. Er hat sich über

Jahre eine virtuose Fertigkeit angeeignet und kennt die Kunst wie kaum eine andere Person. Entsprechend international ist inzwischen sein Bezie-

hungsnetz. Auch wird er immer wieder von unbekannten Privatpersonen angegangen, wenn es beispielsweise um die Renovation beschädigter Haarflechtobjekte geht, die über Generationen gehütet wurden. Mit grossem Geschick und Hingabe widmet er sich dem Haarflechten, für ihn ein erfüllendes Kunsthandwerk. In unzähligen Stunden flicht er als «Haarbildner» aus Menschenhaar filigrane Schmuckstücke. In seiner Jugend schenkte ihm seine Grossmutter eine antike Uhrenkette, die ihr vererbt wurde. Das breite aus Menschenhaar geflochtene Band hütet er wie einen grossen Schatz. Viel ist seither geschehen. Als gebürtiger Herisauer mit grossmütterlichen Wurzeln in Innerrhoden widmet er sich seit langem mit Herzblut dem Appenzeller Brauchtum. Er gehörte einem Jodlerchörli an und war Mitglied eines schön-wüsten Chlauseschuppels, für den er kunstvolle Hauben und Hüte anfertigte. Nach einem einschneidenden Ereignis musste er das Leben neu in die Hand nehmen und mit seiner Familie eine Zukunft aufbauen. Silvesterklausen war nicht mehr möglich. Auf der Suche nach einer anderen kreativen und nebenberuflichen Tätigkeit erinnerte er sich an die Uhrenkette seiner Grossmutter. 70


Er setzte sich mit Mina Inauen aus Appenzell in Verbindung, durfte sie besuchen, und sie zeigte ihm in Kürze einige Handgriffe des Haarflechtens. Die Appenzellerin praktiziert dieses seit vielen Jahren und hat es hierzulande wieder bekannter gemacht. Nach der kurzen Einführung brachte er sich den grössten Teil der Arbeit selbst bei. Die beiden Künstler ergänzen sich sehr gut, da beide ihren eigenen Stil verfolgen und pflegen. Das weitgehend vergessen gegangene Kunsthandwerk des Haarflechtens weckte Schiess’ Neugierde und löste in ihm eine grosse Begeisterung aus, eine Begeisterung, die ihn nie mehr losliess. Daraus ist eine Leidenschaft entstanden. In seinem Kopf – sagt er – überschlagen sich die Ideen. Mit einfachen Flechtmustern tastete er sich ans Kunsthandwerk heran. Heute fertigt er aufwendige Kunstwerke, aber auch die klassischen «Eicheli», die Ohrenanhänger, die Innerrhoder Frauen zur Tracht tragen. Um ungehindert arbeiten und mit dem Rollstuhl besser an der «Jatte»1 Platz nehmen zu können, liess er eine spezielle anfertigen. Personen, die sich von ihren langen Haupthaaren trennen, stellen ihm diese zur freien Verfügung. Meistens bringen Kundinnen und Kunden Haare, an die Erinnerungen geknüpft sind. Das Material fasziniert Jakob Schiess. Er sagt mit Überzeugung: «In den Haaren eines Menschen stecken Lebenskraft und Energie.» Haar sei ein edles Gut. Vielfach habe er das Gefühl, diese Energie und Kraft zu spüren und in die Schmuckstücke einfliessen lassen zu können. Es entstünden daher sehr persönliche Kleinode in traditioneller Art, aber auch in Form ungewöhnlicher Kreationen und Kunstwerke. Das Flechten der feinen Haare ist eine grosse Herausforderung, es fordert Konzentration, Vorstellungsvermögen und Geschicklichkeit. Als Ansporn für seine Schmuckkreationen aus Haaren nennt Schiess zwei Dinge: Einerseits will er ein überliefertes europäisches Kulturgut bewahren, andererseits innovative Ideen mit einer alten Technik umsetzen. Jedes seiner Objekte ist ein Unikat. Schmuck aus Menschenhaar soll nicht nur zur Tracht, sondern auch im Alltag getragen werden. Für das Haarflechten an der Jatte ist eine geübte Hand unabdingbar. Eine exakte und sorgfältige Vorbereitung ist das A und O für ein perfektes Geflecht. Das Sortieren der Haare, das Erstellen der Flechtfaden sowie das Einrichten der Jatte benötigen viel Geduld und Zeit. Jatten kann man nicht einfach im Supermarkt kaufen. Jeder Haarflechter stellt individuelle Anforderungen an sie. In erster Linie müssen sie praktisch sein. Eine glatte Arbeitsfläche ist Voraussetzung, denn das Haar darf beim Flechten nicht verletzt werden. Jatten können auch dekorativ sein. 71


Zuerst werden einzelne Haare aus einem Haarzopf oder gebündelten Haarstrang gezogen und zu einem Haarfaden zusammengefügt. Dies erledigten in früheren Jahren Haarflechter, indem sie den Flechtfaden vom Kopfende zur Spitze der Haare durch den Mund zogen und gehörig mit Speichel befeuchteten, damit diese besser zusammenhielten.2 Jakob Schiess verzichtet auf diese Methode und belässt die Einzelhaare eines Flechtfadens in ihrer Natürlichkeit.  Abb. 46 Die Feinheit des Geflechts ist abhängig von der Anzahl an Einzelhaaren pro Haarfaden. Um ein völlig gleichmässiges Muster zu erhalten, muss aber darauf geachtet werden, dass die einzelnen Haarfäden aus derselben Anzahl Haare erstellt werden. Massgebend ist für das Endprodukt die Anzahl an Haarfäden. Sie wird in den Flechtbriefen3 meistens angegeben, kann jedoch je nach Gebrauch und Wunsch des Geflechts vom Hersteller geändert werden. Die Länge des Haars bestimmt die Länge des Geflechts. Beim Anfertigen der Haarfäden ist darauf zu achten, dass sie in etwa dieselbe Länge aufweisen, damit aus ihnen die maximale Länge des gewünschten Geflechts herausgeholt werden kann.

46 Aus einer bestimmten Zahl von Einzelhaaren werden die Flechtfäden angefertigt

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47 Fertig eingerichtete Jatte

Die Haarfäden werden gebündelt, sorgfältig auf der Jatte aufgelegt und mit Gewichten bestückt. Sie müssen gleichmässig gestreckt und gebündelt sein. Im Zentrum der Jatte, dem Flechtstuhlhals, wird ebenfalls ein Gewicht angehängt. Dieses muss einen Abwärtszug erzeugen, damit bei den Haarfäden die notwendige Spannung entsteht.  Abb. 47 73


48 Der Künstler beim Flechten

Auch dieser Arbeitsschritt erfordert viel Erfahrung und Übung. Die Gewichtsgrösse am Ende der Haarfäden oder im Zentrum verändert die Geflechte und beeinflusst das Endprodukt. Da die Haarfäden nicht dehnbar sind, ergeben erst die Geflechte die nötige Elastizität. Die derart auf die Jatte aufgehängten Haarfäden können nun je nach Flechtbrief in bestimmter Abfolge entweder mit gegenüber- oder nebeneinanderliegenden Haarfäden verflochten werden. Das Flechten ist das Pièce de résistance jedes Haarkünstlers. Eine gleichmässige Haarführung ist unabdingbar. Zuviel oder ungleichmässiger Zug mit den Händen verändert das Geflecht, sodass es später eventuell nicht mehr weiterverarbeitet werden kann. Übung macht den Meister.  Abb. 48 Bei den Endprodukten unterscheidet man zwischen Kordel-, Flachband- und Hohlgeflechten. Kordelgeflechte gibt es in zahlreichen Varianten. Sie sind entsprechend unterschiedlich einsetzbar. So sind sie aus74


49 Jatte mit Seele

serhalb der Haarflechterei beispielsweise im Gartenmöbelbau bekannt, wo sie in den letzten Jahren in Mode gekommen sind. Bei den Flachbandgeflechten unterscheidet man zwischen geschlossener und offener Haarführung. Die offenen Haarführungen eignen sich für die Herstellung tragbaren Schmucks nicht, hingegen für dekorative und künstlerische Gebilde wie Haarblumen, -kränze oder -rosetten. Offen geführte Haare bilden den empfindlichsten Teil eines Geflechts und können durch Einhängen an festen Gegenständen unreparierbar beschädigt werden. Zur Herstellung von Hohlgeflechten bedarf es einer sogenannten Seele. Dabei werden die Haarfäden um einen Stab (Seele) geflochten, der die gewünschte Öffnung im Produkt bewirkt.  Abb. 49 Nach der Flechtarbeit wird das Haarobjekt aus der Jatte abgespannt und die Seele durch entsprechende Rundkörper ersetzt. Solche mit Ecken und Kanten sind ungeeignet. Es muss darauf geachtet werden, 75


90 Runde Ohrhänger; Hohlgeflecht aus rotem Haar, mit flachem Rundkörper in Form gebracht, gefasst in Silber

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91 Ohrhänger; verschiedene Kordelgeflechte, gefasst in Rotgold

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