Neujahrsblatt 165 (2025)
Herausgegeben vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen
Neujahrsblatt 165 (2025)
Herausgegeben vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen
Der Export von Ostschweizer Baumwollwaren in die USA (1820 – 1860)
Erich Deschwanden
Archäologie | Denkmalpflege | Vereine
Umschlagbild
Zeichnung von William James Bennett mit dem Titel: «View of South Street, from Maiden Lane, New York City», Feder, braune Tusche und Wasserfarbe auf cremefarbigem Velinpapier, entstanden um 1828. Benetts Werk ist Bestandteil der «Edward W. C. Arnold Collection of New York Prints, Maps, and Pictures» im Metropolitan Museum of Art, New York. Der Maler und Graveur wurde 1787 in London geboren, wo er an der Royal Academy of Arts die Kunst der Architektur- und Strassenansichten nach dem Vorbild des venezianischen Vedutenmalers Giovanni Antonio Canal (Canaletto) studierte. 1826 wanderte er in die USA aus. 1834 produzierte er aus dem Bild, welches das geschäftige Treiben in der New Yorker South Street zwischen den Masten der Segelboote und den Fassaden der Warenhäuser darstellt, eine Druckgrafik für das Buch «Megarey’s Street Views in the City of New York». Bennett starb 1844 in New York. Foto Science History Images / Alamy Stock Foto.
Bildnachweise
Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steckte die Fotografie in ihren Anfängen und trug nur wenig zur Dokumentation historischer Ereignisse und geografischer Fakten bei. Die an Illustrationen interessierten Menschen waren auf das Können von Malern, Zeichnern und Graveuren angewiesen. Deren Lebensdaten, Leistungen und Techniken wird in den Bildnachweisen dieser Publikation Rechnung getragen, sofern sich entsprechende Angaben eruieren liessen.
Teil I: Vorgeschichten 20 Pioniere der amerikanischen Industrialisierung
Das Ostschweizer Baumwollgewerbe vor 1820
«Colonialbaumwolle» aus den amerikanischen Südstaaten
Teil II: St. Gallen erschliesst den amerikanischen Markt
Enthusiasmus auf beiden Seiten des Atlantiks
Der Streit um Schutzzölle
56 Die Textilherstellung in den USA wird vielfältiger 63 Neue Stick- und Webtechniken in der Ostschweiz
Teil III: Neubeginn unter solideren Bedingungen
Investitionen in den Geld- und Güterverkehr
117 Martin Peter Schindler
Kantonsarchäologie St. Gallen, Jahresbericht 2024
136 Moritz Flury-Rova
Denkmalpflege des Kantons St. Gallen, Jahresbericht 2024
148 Klaudia Barthelme
Denkmalpflege der Stadt St. Gallen, Jahresbericht 2024
156 Manuela Reissmann
Fachstelle Kulturerbe des Kantons St. Gallen
168 Peter Müller
Kulturhistorischer Verein der Region Rorschach
170 Walther Baumgartner
Verein für die Geschichte des Rheintals
172 Sonja Arnold
Museumsverein Prestegg
174 Daniel Gut
Historischer Verein der Region Werdenberg (HVW)
176 Mathias Bugg Historischer Verein Sarganserland
178 Anton Heer
Fokus Toggenburg – Verein für Heimatkunde
180 Alex Dillinger
Kunst- und Museumsfreunde Wil und Umgebung
182 Marie Elmer
MUSA Museen Kanton St. Gallen
184 Markus Frick
Genealogisch-Heraldische Gesellschaft Ostschweiz
186 Judith Grosse
Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz
188 Dorothee Guggenheimer und Lukas Gschwend Historischer Verein des Kantons St. Gallen
191 Verzeichnis bisheriger Neujahrsblätter
Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser
Das Leben der Menschen hat sich über die Jahrhunderte hinweg stark verändert. Menschliche Grundbedürfnisse jedoch – Wasser und Nahrung, Obdach sowie Kleidung – sind historische Konstanten. Textilfabrikation und insbesondere Gestaltung, Herstellung und Absatz von Kleidern haben die Ostschweiz und das Leben der Menschen während Jahrhunderten geprägt, Wohlstand ermöglicht und Krisen verursacht. Bekanntlich wurden hier vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert in bedeutender Quantität und Qualität Leinen- und später Baumwolltücher – mehrheitlich für den Export – produziert; ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie von Stickereierzeugnissen abgelöst. Das menschliche Bedürfnis nach Kleidung ist noch immer da, doch es hat sich stark verändert. Zwar erfreuen sich hochwertige Stickereien aus Ostschweizer Manufakturen auch im 21. Jahrhundert erfreulicher Nachfrage bei einer zahlungskräftigen Kundschaft, jedoch sind heute auf den grossen Märkten insbesondere günstige Kleider in riesiger Menge gefragt. Die Produktion hat sich daher seit der Zwischenkriegszeit und insbesondere seit den 1970erJahren nach und nach vor allem in den globalen Süden verlagert, woher Kleider über verschiedene Kanäle als Massenware in die Haushalte gelangen und wohin schliesslich grosse Mengen Altkleider zur Entsorgung wieder zurückkehren. Noch immer machen Kleider Leute, noch immer ist die Textilindustrie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor – nicht selten aber bereiten sie bei der Herstellung und Entsorgung soziale und ökologische Probleme. So haben sich Fragestellungen und Perspektiven, Bedürfnisse und Mentalitäten, Chancen und Risiken im Lauf der Zeit stark verändert.
Die vielfältige Ostschweizer Textilgeschichte, ihre Bedeutung und ihre Zäsuren wurden von verschiedenen Historikerinnen und Historikern erforscht. 2015 erschien ein Neujahrsblatt, das «Erfolg und Krise der Schweizer Stickerei-Industrie» von 1865 bis 1929 skizzierte. Exakt zehn Jahre später legen wir mit dem Buch «Stapelplatz New York – Der Export von Ostschweizer Baumwollwaren in die USA (1820 – 1860)» den eigentlichen Boden für die 2015 behandelte Periode. Wir freuen uns sehr, dass der Autor Erich Deschwanden sich dazu entschieden hat, uns seine von Prof. Dr. Tobias Straumann an der Universität Zürich betreute MAS-Arbeit zur Verfügung zu stellen und
sie – gemeinsam mit unserem Redaktor Peter Müller – in einer für das Neujahrsblatt geeigneten Form zu publizieren. Allen dreien gebührt dafür unser herzlichster Dank. Erich Deschwanden und Peter Müller sowie Gitta Hassler, Roman Wild und Mark Wüst haben überdies sogenannte «Seitenblicke» verfasst – kürzere Texte, in denen spezielle Aspekte mit Ostschweizer Bezug hervorgehoben und gesondert behandelt werden –, besten Dank auch dafür. Zu Dank verpflichtet sind wir sodann gegenüber der Redaktionskommission. Diese hat die Entstehung des Neujahrsblatts erneut eng begleitet und Lektorats- und Korrektoratsaufgaben übernommen. Dieser Kommission gehören Regula Zürcher (Leitung), Dorothee Guggenheimer, Regula Haltinner, Clemens Müller, Marcel Müller, Peter Müller, Arman Weidenmann und Markus Zweifel an. Brigitte Knöpfel vom Verlagshaus Schwellbrunn sei für die Gestaltung der vorliegenden Ausgabe herzlich gedankt. Danken möchten wir auch Luba Nurse (Textilmuseum St. Gallen), Christelle Wick (Toggenburger Museum Lichtensteig) und Rachel Fichmann (Bildredaktorin, Zürich) für ihre wertvolle Unterstützung bei der Auswahl und Beschaffung von Bildern.
Für den Vorstand des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen Lukas Gschwend und Dorothee Guggenheimer
Die ostschweizerische Textilindustrie durchlief drei Entwicklungsphasen. Im 8. Jahrhundert entstand das Leinwandgewerbe, dessen Blütezeit vom Spätmittelalter bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts dauerte. Danach folgte die Produktion von Baumwollgeweben. Diese wiederum wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts vom Aufstieg der Stickereiindustrie abgelöst, welche in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts zu Ende ging. Seither kommt der Textilindustrie in der Ostschweiz nur noch eine geringe wirtschaftliche Bedeutung zu, wobei St. Galler Stickereien als Nischenbranche nach wie vor weltweit hohes Ansehen geniessen.
Eric Häusler und Caspar Meili widmeten sich 2015 in der 155. Ausgabe dieses Neujahrsblattes der dritten Phase der Ostschweizer Textilgeschichte. In ihrer Arbeit «Swiss Embroidery. Erfolg und Krise der Schweizer Stickerei-Industrie 1865 – 1929» zeichneten die beiden Wirtschaftshistoriker ein umfassendes und detailliertes Bild dieser unge-
wöhnlich prosperierenden Zeitspanne. «Stapelplatz New York. Der Export von Ostschweizer Baumwollwaren in die USA 1820 – 1860» knüpft an die Publikation von Eric Häusler und Caspar Meili an, indem sie zentrale, wegbereitende Aspekte des späteren Stickereibooms darstellt.
Der an der Harvard University lehrende, deutsche Historiker Sven Beckert schreibt in seinem Buch «King Cotton» (2014), dass die Baumwolle eine der grössten Errungenschaften der Menschheit sei. Die Herstellung von Baumwolltextilien war etwa 900 Jahre lang, von 1000 bis 1900, die wichtigste verarbeitende Industrie der Welt. Im indischen Gujarat und in Bengalen, in Peru und in Mali, in China und in Anatolien fertigten Spinner und Weber in ländlichen Regionen Stoffe an, die von städtischen Kaufleuten im Rahmen eines Verlagssystems übernommen wurden, um sie auf weit entfernten Märkten zu vertreiben. Insbesondere die hochwertigen Produkte der indischen Weber dominierten den internationalen Handel. Ab dem 12. Jahrhundert etablierte sich auch in Norditali«Handel und Industrie St. Gallen»: Darstellung des Stickereiwelthandels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Rechts im Bild wird die Stickerei Vertretern aus allen Teilen der Erde präsentiert. Öl auf Leinwand (1881) von Emil Rittmeyer (1820–1904). Sankt-Galler Geschichte 2003, Band 6: Die Zeit des Kantons.
en und später in den süddeutschen Städten eine beachtliche Produktion von Baumwollwaren.
In der Schweiz siedelten sich Baumwollspinnereien und -webereien nicht nur in St. Gallen, in Appenzell Inner- und Ausserrhoden und im Thurgau an, sondern auch in den Kantonen Glarus, Aargau und Zürich. 1787 zählte man allein in den beiden Letztgenannten 46 000 Spinnerinnen und 8700 Männer und Frauen, die woben. Die Rohbaumwolle kam aus der Levante oder den Französischen Antillen, gegen Ende des Jahrhunderts auch aus Brasilien. Um 1790 hatte die Schweiz hinter England, dem Ursprungsland der industriellen Revolution, den zweiten Platz in der europäischen Baumwollverarbeitung errungen.
Just zu diesem Zeitpunkt fing England an, den Kontinent mit maschinell produziertem Garn zu überschwemmen. Die mit der neuen Technologie hergestellten Produkte stiessen auch hierzulande die Mechanisierung der Textilherstellung an. Es begann eine lange wirtschaftliche Reifezeit, in der die Schweiz aus dem Stadium der Protoindustrialisierung heraustrat und zur modernen Industriegesellschaft wurde.
Anders als viele andere Produkte kennt die Baumwolle zwei arbeitsintensive Phasen, die eine auf den Feldern der Anbaugebiete, die andere in den Stuben der Heimarbeiter und in den Fabriken. Im 19. Jahrhundert waren die USA das einzige Land, in dem beides nebeneinander Platz fand. In den Südstaaten florierten die Baumwollplantagen, die ihren Besitzern einen sagenhaften Reichtum bescherten, und auf denen unter Zwang und Demütigung arbeitende versklavte Menschen ein Leben in Elend und Not fristeten. Im Nordosten errichteten ehemalige Fernhändler aus Boston ein gigantisches Imperium aus Baumwollfabriken, das einerseits märchenhafte Gewinne abwarf, andererseits ein Industrieproletariat hervorbrachte, das miserabel entlöhnt wurde, und in dem Frauen- und Kinderarbeit an der Tagesordnung waren. Die stetige Verbesserung der Transportbedingungen auf dem Wasser und auf dem Lande sorgte dafür, dass sowohl die Rohbaumwolle als auch die Baumwolltextilien rasch und in grossen Mengen auf die internationalen Absatzmärkte gelangten. Bis zum Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges im Jahre 1861 entfalteten sich die beiden Baumwollbranchen explosionsartig.
Nachdem 1865 die Truppen der Union die Streitkräfte der Konföderierten besiegt und die Abschaffung der Sklaverei erzwungen hatten, wurden die ehemaligen Baumwollplantagen parzellenweise in Form einer Teilpacht genutzt. Der weitreichendste Umbau der Baumwollgewinnung fand jedoch im globalen Süden statt. Immer häufiger fürchteten die grossen Kolonialmächte, dass der Nachschub an Rohbaumwolle nicht ausreichen werde. Die Suche nach neuen Gebieten für den Baumwollanbau führte in Asien und Afrika zu einer Welle der Deindustrialisierung und zu einer radikalen Veränderung der Landwirtschaft. Millionen von Menschen mussten die seit Jahr-
hunderten ausgeübte Beschäftigung als Handspinner und Handweber aufgeben, um sich fortan als Teilpächter oder Lohnarbeiter auf den neu errichteten Plantagen zu verdingen.
Ab dem späten 19. Jahrhundert organisierten sich die Textilarbeiter im Nordosten der USA sowie in West- und Nordeuropa zunehmend in Gewerkschaften und setzten schrittweise menschenwürdigere Arbeitsbedingungen durch. Nachdem 1878 das Eidgenössische Fabrikgesetz in Kraft getreten war, verbesserten sich allmählich auch in der Schweiz die Verhältnisse der Arbeiter und ihrer Frauen und Kinder. Steigende Löhne, sinkende Arbeitszeiten und eine zunehmende Besteuerung der Unternehmen führten zu höheren Produktionskosten und geringeren Profiten. Mit der Niedriglohnkonkurrenz aus Asien verlagerte sich die Textilproduktion zurück in den globalen Süden.
Heute ist die Baumwolle allgegenwärtig. Wir tragen sie direkt auf unserer Haut. Wir schlafen in Bettlaken aus Baumwolle und wickeln unsere neugeborenen Babys in Baumwollwindeln. Unsere Banknoten enthalten Baumwolle, und Baumwolle wird für die Herstellung feiner Papiersorten verwendet. Baumwolle findet sich in Kaffeepads von Espressomaschinen, in Speiseöl, Seife und Schiesspulver. Die wichtigsten Anbaugebiete sind China, Indien, Brasilien und die USA. Für das Erntejahr 2024/25 prognostizierte das Landwirtschaftsministerium der USA einen weltweiten Ertrag von rund 113,6 Millionen Ballen mit einem Gewicht von je circa 218 Kilogramm. Horizontal aneinandergelegt würden diese Ballen die Erde ungefähr 1,5-mal umspannen.
«Schon vor Beginn der Zwanziger Jahre unternahmen einzelne junge St. Gallische Kaufleute die damals noch als gefährliches Wagnis angestaunte Reise nach den mit fabelhafter Schnelligkeit emporwachsenden nordamerikanischen Handelsstädten, um als rüstige Pioniere die neue Welt mit unsern von der alten Welt ausgestossenen Industrieerzeugnissen bekannt zu machen und ihnen dort Aufnahme zu verschaffen. New-York wurde der Stapelplatz, von wo einerseits Philadelphia und Baltimore zum weiteren Vertrieb nach dem Innern, anderseits New-Orleans, Havanna und Mexiko mit St. Galler Artikeln, namentlich mit leichten gestickten Geweben versorgt wurden, allerdings zunächst in sehr bescheidenem Masse, aber doch in wachsendem mit dem Wachsthum der Bevölkerung und dem Reichthum des Landes, bis die in Sitten und Bedürfnissen den europäischen Völkern durchaus gleichstehenden und sich aus ihr in ununterbrochenem Zuge ergänzenden Bewohner der Union einen vollen Ersatz für Dasjenige gewährten, was ringsum in dem alten Europa verloren gegangen war.»1
Was war im alten Europa verloren gegangen? Während im 18. Jahrhundert die einstmalige Wirtschaftsmacht Frankreich unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. und seinen Nachfolgern stagnierte und Schulden anhäufte, hatten sich England und die Niederlande in Amerika und Asien ein Imperium aufgebaut. Die Schweiz und auch mehrere deutsche Kleinstaaten profitierten von der wirtschaftlichen Prosperität dieser politischen Expansion, indem sie
mit Kolonialwaren handelten und diese industriell verarbeiteten.2 In der Ostschweiz etablierte sich die Fabrikation von Baumwolltüchern und Stickereien, und auf den Wegen des früheren Leinwandhandels fanden die neuen Artikel rasch Eingang und Verbreitung in Spanien, Italien, Deutschland und vor allem Frankreich.3
Napoleon öffnet das Tor zur Welt
1804 liess sich Napoleon zum französischen Kaiser krönen. Nach seiner Machtübernahme machte sich der neue Herrscher daran, die wirtschaftliche Dominanz Englands zu brechen. Er annektierte kurzerhand die Niederlande und setzte seinen Bruder Louis als deren König ein. Von den übrigen Ländern auf dem Kontinent verlangte er, dass sie in einem sogenannten «système continental» jeglichen Kontakt mit England abbrachen. Da der «Empereur» sich darüber im Klaren war, dass er nicht über die militärischen Mittel verfügte, um die überseeischen Kolonien der Engländer und Holländer zu erobern, versuchte er, die globalen Handelsströme nach England zu kappen. Seine Kontinentalsperre trieb Millionen von Europäern in die Verarmung.4
Nach dem Sturz Napoleons und der Aufhebung der Kontinentalsperre überschwemmten die Briten das übrige Europa mit ihren Baumwollprodukten, die sie zu Schleuderpreisen verhökerten. Das löste 1816 in der Eidgenossenschaft eine schwere Wirtschaftskrise aus, die sich mit dem «Jahr ohne Sommer» auch noch zu einer fürch-
Hungerkrise 1816: «Oft zählte man auf einer Wiese zur gleichen Stunde 30 oder 40 Menschen, die unter dem Vieh ihre Nahrung suchten.» Aquarell in einer «Hungertafel» aus dem Toggenburg. Foto Toggenburger Museum, Lichtensteig.
terlichen Hungerkrise ausweitete.5 Viele Staaten wehrten sich durch Schutzzölle und Importsperren. Das südlich der Schweiz gelegene Königreich Sardinien erhöhte seinen Zolltarif massiv. Österreich, das seit Langem eine von merkantilistischen Regeln geprägte Wirtschaftspolitik betrieb, unterstellte 1817 auch die Lombardei, Venetien, Tirol und Vorarlberg seinem protektionistischen Regime. Frankreich verbot 1816 die gesamte Einfuhr von Baumwollwaren und Garn, und die Niederlande, die das heutige Holland sowie Belgien umfassten, folgten noch im gleichen Jahr diesem Beispiel. 1817 untersagte auch Spanien den Import von Baumwollprodukten. Nur Deutschland, die nordischen Länder sowie Mittel- und Süditalien standen dem schweizerischen Export noch halbwegs offen.6
Für die Kaufleute der Eidgenossenschaft im frühen 19. Jahrhundert gab es keinen anderen Weg als neue Absatzmärkte ausserhalb Europas zu erschliessen. Das machte die Schweiz in den nächsten zwei Jahrhunderten zum Land mit der europaweit höchsten Pro-Kopf-Ausfuhr und den grössten Direktinvestitionen ausserhalb des Kontinents, insbesondere in den Ländern des globalen Südens. 7
Unbekannte Überseehändler
Statistische Daten werden in der Schweiz seit 1850 erhoben. Damals führte das Departement des Innern unter der Leitung von Bundesrat Stefano Franscini eine erste schweizerische Volkszählung durch. Die vorliegende Untersuchung befasst sich grösstenteils mit der Periode vor 1850, und wir wissen nicht genau, wie viel und zu welchen Preisen in den Jahren von 1820 bis 1860 in die Vereinigten Staaten von Amerika ausgeführt wurde. Wir verfügen jedoch über einige Schätzungen und grobe Berechnungen. Dabei handelt es sich um Zahlen, die sich auf die ganze Schweiz beziehen, jedoch nicht spezifisch auf die Ostschweiz, welche Gegenstand dieser Studie ist.
Angela Hauser-Dora hat einige Eckdaten zur schweizerischen Ausfuhr im frühen 19. Jahrhundert zusammengetragen. Sie stützt sich dabei auf verschiedene Autoren. Demnach exportierte die Eidgenossenschaft 1813 pro Kopf Waren für 15 Dollar, England für 8 Dollar und Belgien und die Niederlande je für 5 Dollar. 1861 stand die Schweiz weiterhin mit 31 Dollar an der Spitze, vor England mit 22 und Belgien mit 19 Dollar.8
Bei den Gesamtexporten lag die Schweiz 1830 weltweit an siebter Stelle. Die stärksten, ältesten und zugleich arbeitsintensivsten Exportzweige waren die Textil- und die Uhrenindustrie, die rund 90 Prozent ihrer Produktion ins Ausland absetzten.9
Während sich in knapp vier Jahrzehnten der Pro-KopfExport wertmässig verdoppelte und die Schweiz ihre führende Stellung im europäischen Vergleich halten konnte, offenbart sich bei der globalen Verteilung der
In Millionen Franken* und in Prozent des Totals der Exporte
JAHR(E) 1845 1857/60
Exporte total 253 Mio. 418 Mio.
Europa 92 Mio. = 36 % 261 – 268 Mio. = 62 – 64 %
Levante 30 – 40 Mio. = 12 – 16 % 48 – 52 Mio. = 11 – 12 %
Orient ? – 10 Mio. = 4 % 17 Mio. = 4 %
Nord- und Südamerika 111 – 121 Mio. = 44 – 48 %
Nordamerika 75 Mio. = 18 %
Südamerika 12 – 13 Mio. = 3 %
*1845: Französische Franken; ab 1851: Neue Schweizer Franken (1 FF = 1 NSF ab 1851)
Tab. 1 Globale Verteilung der schweizerischen Exporte 1845 – 1860. Veyrassat, Béatrice (2018): Histoire de la Suisse et des Suisses dans la marche du monde, 237.
Export in Millionen Franken zu Marktpreisen Anteil in Prozent am Gesamtexport
Baumwollwaren*
45 21,6
Wollwaren, Leinen, etc. 2 1 Seidenwaren 82 39,4 Stickereien 20 9,6 Konfektion 2 0,9 Schuhe und Lederwaren 0,3 0,1
*Garne, Stoffe, Bänder etc.
Tab. 2 Export der Schweizer Textilindustrie im Jahr 1840 (geschätzte Werte). Bergier, Jean-François (1983): Die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, 260.
Exporte ein Bild von Verschiebungen. Béatrice Veyrassat zeigt in Tabelle 1, dass 1845 fast die Hälfte des schweizerischen Gesamtexports nach Nord- und Südamerika ging, derweil Europa nur ein gutes Drittel abnahm. Bereits etwas mehr als zehn Jahre später präsentierte sich die Lage umgekehrt. Nun wurden beinahe zwei Drittel der ausgeführten Güter nach Europa verkauft, derweil die beiden Amerika gerade noch rund 20 Prozent aufnahmen. Veyrassat erklärt die Verschiebungen mit dem in den 1840er-Jahren aufkommenden Abbau der Zollschranken in Europa und der Hinwendung zu einer kurzen Ära des Freihandels.10
Franzoseneinfall in die Alte Eidgenossenschaft:
Schlacht bei Frauenbrunnen am 5. März 1798.
Schweizerisches Nationalmuseum.
Jean-François Bergier schätzt, dass die Schweiz im Jahr 1840 Textilien im Wert von 151,3 Millionen Franken und Uhren im Wert von 17 Millionen Franken ausführte. Das entspricht bei den Textilprodukten einem Anteil von 72,6 Prozent am Gesamtexport und bei den Uhren einem Anteil von 8,2 Prozent.11 Tabelle 2 zeigt, auf welche Produktegruppen sich der Export von Textilwaren verteilte.
Die Schweiz war nicht das einzige Land, das hauptsächlich Baumwollwaren exportierte. Ihr schärfster Konkurrent war England, die Geburtsnation der industriellen Revolution. Sven Beckert gibt an, dass zwischen 1800 und 1860 Baumwollprodukte 40 bis 50 Prozent der gesamten britischen Exporte ausmachten, derweil das Volumen der von den USA an England gelieferten Rohbaumwolle um das 38-Fache wuchs.12
Der Exportaufschwung gab auch dem Arbeitsmarkt neue Impulse. Um 1800 war die Schweiz noch ein Agrarland. Erst 26 Prozent aller Erwerbstätigen waren im Industriesektor beschäftigt. Mehr als 85 Prozent der rund 200 000 industriell tätigen Arbeitskräfte waren in der Textilwirtschaft anzutreffen. Das Uhrmachergewerbe nahm mit fünf Prozent den zweiten Rang ein. Die Schweiz stand
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter den baumwollverarbeitenden Ländern hinter England an zweiter Stelle und galt bis zum Ausbruch der Französischen Revolution gar als grösstes Exportland von Baumwollprodukten in der ganzen Welt. Dann aber wurde sie innerhalb weniger Jahre von der englischen Baumwollindustrie in ihren Grundfesten erschüttert. Die Erzeugnisse der neuen «Mule»-Spinnmaschinen begannen sich schlagartig durchzusetzen, und da immer grössere Mengen des feinen Maschinengarns aus England in die Schweiz eingeführt wurden, war die einheimische Spinnerei in kurzer Zeit völlig ruiniert.13 Geschätzte 30 bis 40 Prozent des Volkseinkommens gingen verloren. Als 1797 französische Truppen die Eidgenossenschaft besetzten, fanden sie ein geschwächtes Land mit einer erschöpften Bevölkerung vor.14 In Tabelle 3 zeigt Bergier die zahlenmässige Entwicklung der Erwerbstätigen in den verschiedenen Berufsgruppen der Baumwollindustrie. Im 19. Jahrhundert erholte sich der Arbeitsmarkt allmählich von der Maschinengarnkatastrophe. Doch die Zahl der Beschäftigten wuchs nur noch langsam und erreichte nie mehr den geschätzten Spitzenwert von 160 000 Arbeitskräften im Jahr 1780.
* Alles Handwerker (-innen); ** Arbeiter(-innen) an Maschinen; *** davon ein kleiner Teil an Maschinen, 1857 rund 5000; **** eine andere Quelle kommt nur auf 68 000 Personen
Tab. 3 Die Entwicklung der Arbeitsplätze in der Schweizer Baumwollindustrie vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1857. Bergier, Jean-François (1983): Die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, 209.
Bernegger. Er vertritt die Ansicht, dass der Beitrag des Binnensektors zur gesamtwirtschaftlichen Modernisierung ignoriert und der Beitrag der exportorientierten Textilund Uhrenindustrie massiv überschätzt werde.15
Derweil wir über die quantitative Seite des ostschweizerischen Exportes von Baumwollwaren in die USA keine spezifischen Angaben haben, wissen wir Genaueres über die qualitativen Aspekte. Hermann Wartmann thematisiert, welche Strategien die Ostschweizer Kaufleute verfolgten, über welche Routen sie die Waren zu den Ausfuhrhäfen transportierten, was für Finanzierungsmöglichkeiten ihnen zur Verfügung standen, wie sie die Geschäfte diesseits und jenseits des Atlantiks abwickelten und inwiefern sie vom wirtschaftlichen Auf und Ab in Amerika profitierten oder darunter litten.16
Hermann Wartmann ist bis heute der bedeutendste Wirtschaftshistoriker der Ostschweiz. Er wurde 1835 in St. Gallen geboren und starb hier 1929. Er war ein Liberaler und politisierte als Kantonsrat, Ständerat und Erziehungsrat. Von 1863 bis 1913 arbeitete er als Aktuar des Kaufmännischen Directoriums in St. Gallen, der heutigen Industrie- und Handelskammer St. Gallen-Appenzell. Er war Mitbegründer des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen und amtete von 1863 bis 1918 als dessen Präsident. Der ehemalige St. Galler Stadtarchivar Marcel Mayer schreibt: «Als Bearbeiter von Urkundeneditionen und Autor einer Serie zur industriellen Entwicklung des Kantons prägte W. jahrzehntelang die sankt-gall. Geschichtswissenschaft.»17 Die St. Gallisch-Appenzellische Handelskammer erinnert mit einer Gedenktafel an der Fassade ihres Gebäudes in St. Gallen an die Verdienste von Wartmann.
Vergleichen wir die Angaben aus Tabelle 3 mit jenen aus Tabelle 1, erhalten wir einen Hinweis darauf, dass ein solides Produktivitätswachstum stattfand. Von 1845 bis 1857/60 stieg der Wert der schweizerischen Gesamtexporte von 253 auf 418 Millionen Franken, was einer Zunahme um 65 Prozent entspricht. Derweil stieg die Zahl der in der Baumwollindustrie Beschäftigten von 1842 bis 1857 gerade einmal von 86 000 auf vermutlich 91 300 Personen, möglicherweise aber sank sie sogar auf 68 000 Personen. Das würde also im ersten Fall einer Zunahme um sechs Prozent und im zweiten Fall einer Abnahme um 21 Prozent entsprechen. Obwohl die Grundgesamtheiten der beiden Grössen «Schweizerische Exporte» und «Arbeitsplätze in der Schweizer Baumwollindustrie» nicht kongruent aufeinanderpassen, können wir doch den vorsichtigen Schluss ziehen, dass der Pro-Kopf-Wert der Schweizer Baumwollerzeugnisse innerhalb von etwas mehr als einem Jahrzehnt signifikant stieg.
Viele Wirtschaftshistoriker sind der Meinung, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem die Exportwirtschaft an Produktivität zulegte, derweil der Binnensektor, allen voran die Landwirtschaft, in Bezug auf die Ertragskraft stagnierte. Dem widerspricht Michael
Wartmanns Ausführungen zum Ostschweizer Überseehandel stammen aus dem Jahr 1875. Sie sind eher spärlich und mehr von anekdotischer als empirischer Evidenz. Wartmann ist aber der einzige Autor, der sich mit diesem Thema befasste. Seine Nachfolger fügten nichts Neues bei. Mit einer Ausnahme: 1990 veröffentlichte Thomas Fischer einen aufschlussreichen Aufsatz zum internationalen Handel der Toggenburger Buntweberei und zur Loslösung der dortigen Kaufleute vom Handelszentrum St. Gallen.18
Der an der Universität Bern lehrende Historiker Christof Dejung ist der Meinung, dass die Geschichte der Schweizer Handelsfirmen im 19. Jahrhundert erst ansatzweise bekannt ist.19 Zudem seien die bisher erarbeiteten Erklärungsansätze zum Phänomen «Unbekannte Intermediäre» einseitig:
«Auch wenn sich die bis hierhin erwähnten Studien mit der Herausbildung eines globalen Marktes für Schweizer Industriewaren beschäftigen, so ist ihr inhaltlicher Fokus doch klar national. Es geht um die Entwicklung der schweizerischen Industrie und um die Frage, wie Schweizer Produkte in Übersee vertrieben wurden. Die lokalen Geschäftssitten in den fremden Ländern, die soziale Einbettung der jeweiligen
Märkte oder das Funktionieren der dortigen Handelsnetzwerke werden in der Regel ebenso wenig thematisiert wie die politischen Strukturen und die weltwirtschaftlichen und militärischen Machtverhältnisse, die oft einen entscheidenden Einfluss auf den Marktzugang von europäischen Kaufleuten hatten.»20
Hier hake ich ein und mache den Befund von Dejung zum Ausgangspunkt und zur Richtschnur meiner Forschungsfragen. Ich möchte herausfinden: Erstens, weshalb wurden die USA innerhalb kurzer Zeit zum wichtigsten Absatzmarkt für Ostschweizer Baumwollprodukte? Zweitens, warum liessen die Amerikaner die Einfuhr ostschweizerischer Erzeugnisse zu, obwohl sie doch selbst zu den führenden Herstellern von Baumwollwaren gehörten? Drittens, weswegen entwickelten einige Ostschweizer Kaufleute im Laufe der Jahrzehnte ihre Geschäftsbeziehungen mit den USA erfolgreich weiter, derweil andere sie wieder einstellten?
Der Irrtum des George Washington
Hätte ein Amerikaner am Ende des 18. Jahrhunderts die Prognose gewagt, dass sein Heimatland einmal zum wichtigsten Absatzgebiet für die Produkte der Ostschweizer Baumwollweber und Stickerinnen werden würde, dann wäre er bei seinen Landsleuten wohl auf berechtigte Skepsis gestossen. Eine kleine Anekdote mag das verdeutlichen.
1789 liess George Washington, der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, in Hartford (Connecticut) einen feinen Wollstoff herstellen, mit der Absicht, einen Anzug aus einheimischem Gewebe anfertigen zu lassen. Sein Vorhaben erschien ihm so bedeutend, dass er Generalmajor Lafayette, dem Anführer einer französischen Freiwilligentruppe im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, davon berichtete. Dabei gab er seiner Erwartung Ausdruck, es werde in Kürze einem «Gentleman» nicht mehr anstehen, sich in anderer Kleidung zu zeigen.21
Präsident Washington irrte sich. Leute wie er, die sich teure Stoffe leisten konnten, kauften noch bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts Qualitätstücher europäischer Provenienz. Derweil richtete sich die amerikanische Baumwollindustrie an der Masse der Konsumenten aus und konzentrierte sich auf grobe Stoffe. Es gab in den USA keine Tradition des Textilhandwerks wie in Europa, wo sich Geschmack und Fertigkeiten an der Deckung des Luxusbedarfs orientierten.
Die klassische Nationalökonomie begründet in der Regel die Vorteilhaftigkeit internationaler Handelsbeziehungen mit der Theorie der komparativen Kosten von David Ricardo. Diese besagt, dass ein Land jene Güter exportieren soll, bei denen der Kostenvorteil relativ hoch, und jene Güter importieren soll, bei denen der Kostenvorteil rela-
George Washington, erster Präsident der USA.
Öl auf Leinwand (1796) von Gilbert Stuart (1755–1828).
National Portrait Gallery, Washington D.C.
tiv tief ist.22 Für meine Analyse ist die ricardianische Theorie irrelevant. Die Ostschweizer Baumwollindustrie stellte Produkte her, zu deren Herstellung die USA handwerklich nicht in der Lage waren. Sie verfügte über einen absoluten und keinen relativen Kostenvorteil. Im Übrigen fand bereits Ricardo heraus, dass sich Händler nicht um die Berechnung relativer Kostenvorteile scheren. Das Einzige, was diese Menschen interessiert, sind in Geld ausgedrückte Preise.23
Auch die neoklassische Weiterentwicklung der Theorie von David Ricardo durch die schwedischen Ökonomen Bertil Ohlin und Eli Heckscher hilft nicht weiter. Deren Theorem postuliert, dass unter restriktiven Annahmen der internationale Austausch von Gütern in einem Ausgleich von Faktorvergütungen resultiere.24 Unter der Annahme, dass wir es mit zwei Ländern zu tun haben, die mit den Faktoren Kapital und Arbeit unterschiedlich ausgestattet sind, bedeutet das, dass das kapitalreiche Land kapitalintensive Güter exportiert, derweil das an Arbeitskräften reiche Land arbeitsintensive Güter
exportiert. Betrachten wir die bilaterale Handelsbilanz zwischen der Schweiz und den USA im Bereich Baumwollindustrie für die Jahre 1820 bis 1860, dann sehen wir, dass die Ostschweiz zwar arbeitsintensiv hergestellte Baumwollwaren in die Vereinigten Staaten ausführte, jedoch aus den USA keine kapitalintensiv produzierten Baumwollstoffe einführte, sondern arbeitsintensiv gewonnene Rohbaumwolle. Letztere wurde in den amerikanischen Südstaaten angepflanzt, da nur dort die klimatischen Voraussetzungen gegeben waren. Bei der Rohbaumwolle verfügten die USA also ihrerseits über einen absoluten Kostenvorteil.
Die klassische und neoklassische Nationalökonomie stellen einseitig Kostendifferenzen in den Mittelpunkt ihrer theoretischen Überlegungen. Sie eignen sich nicht, um die Ursachen des ostschweizerischen Exporterfolges in die USA während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erklären. Meine These lautet vielmehr: Nicht Kostendifferenzierungen, sondern Produktdifferenzierungen führten zum ostschweizerischen Exporterfolg.
Die von den Ostschweizer Kaufleuten in die USA exportierten Webereien und Stickereien wiesen einen hohen Grad an textiler Feinheit und modischem Geschmack auf. Die Heimarbeiter und Fabrikanten aus den Kantonen St. Gallen, Appenzell und Thurgau lieferten Qualitätsware, von Hand gefertigt und hergestellt auf der Basis der protoindustriellen Technologien des 18. Jahrhunderts, welche im Laufe des Betrachtungszeitraums von 1820 bis 1860 nur geringfügig weiterentwickelt wurden. Die Kaufleute in St. Gallen, Herisau und im Toggenburg kamen mit einem Minimum an Kommunikationsmöglichkeiten aus, überwanden für damalige Verhältnisse unvorstellbare Distanzen, gingen hohe finanzielle Risiken ein, behaupteten sich gegen die Konkurrenz aus England und anderswo, erlebten katastrophale Ereignisse und mussten schwere Rückschläge einstecken. Aber sie blieben im Geschäft, weil die arbeitsintensive Produktionsweise und die tiefen Kapitalkosten es möglich machten, sich immer wieder flexibel neuen Kundenwünschen anzupassen.
Produktdifferenzierungen allein reichten allerdings nicht aus, um den ostschweizerischen Exporterfolg herbeizuführen. Ebenso sehr fielen länderspezifische Unterschiede und Besonderheiten ins Gewicht. Der deutsche Entwicklungssoziologe Ulrich Menzel sieht in den USA und der Schweiz zwei Länder, denen es gelang, mit unterschiedlichen Strategien den Industrialisierungsvorsprung Englands im späten 18. Jahrhundert aufzuholen. Die USA zeichneten sich zu Beginn durch eine überwiegende Binnenmarktorientierung aus, die über den Markt vermittelt war und die aus dem Aufbau einer Konsumgüterindustrie mit einer davon abgeleiteten Investitionsgüterindustrie bestand, dem sogenannten Textilweg. Erst in einer späteren Phase gewann der Export an Bedeutung. Die Schweiz hingegen zeichnete sich von Anfang an durch eine Weltmarktorientierung aus, die sie auch auf Dauer durchhielt.25
Die grössten Unterschiede zwischen den beiden Ländern lagen in ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die USA waren reich und weitgehend komplett mit Ressourcen ausgestattet.26 Ihre Fläche verdoppelte sich von 1820 bis 1860 von 4,6 Millionen Quadratkilometern auf 9,4 Millionen,27 und ihre Bevölkerung verdreifachte sich von 9,6 Millionen Einwohnern auf 31 Millionen.28 Die Schweiz hingegen war arm und verfügt kaum über Bodenschätze. Sie umfasst flächenmässig gerade einmal 41 285 Quadratkilometer, und ihre Bevölkerung wuchs zwischen 1820 und 1860 von rund 1,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern auf 2,5 Millionen.29
Robert C. Allen, emeritierter Professor für Wirtschaftsgeschichte an der University of Oxford, schreibt:
«Die USA leisteten am Anfang des Jahrhunderts Pionierarbeit mit der Standard-Entwicklungsstrategie des 19. Jahrhunderts. Ein nationaler Markt wurde durch die Verfassung, welche die Zölle der Bundesstaaten beseitigte, und durch Verbesserungen im Transportwesen geschaffen, die sich durch die Erfindung neuer Technologien (Dampfschiffe, Eisenbahnen) verbreiteten. Im Jahr 1816 wurde ein Schutzzoll errichtet, zur Stabilisierung der Währung wurde ein nationales Bankensystem gegründet, und das Bildungswesen für die allgemeine Bevölkerung hatte seine Anfänge bereits während der kolonialen Periode.»30
Dem hatte die Schweiz nicht viel entgegenzusetzen. Ulrich Menzel schreibt:
«Man stelle sich (…) ein Land von weniger als zwei Millionen Einwohnern vor, dessen Landwirtschaft die Ernährung der eigenen Bevölkerung allenfalls noch zu zwei Dritteln gewährleisten kann, das kaum Bodenschätze und keine Kohle besitzt, das aufgrund seiner Gebirgslage eine denkbar schlechte natürliche Infrastruktur hat, ohne Zugang zum Meer ist, das in zahlreiche, kleine und kleinste nahezu souveräne Gebilde zerfällt, in dem verschiedene Ethnien, Religionen, Sprachen und Kulturen aufeinanderprallen, das den Annexionsdrohungen vonseiten mächtiger Nachbarn ausgesetzt ist. Welche Entwicklungschancen würde man aus heutiger Sicht einem solchen Land – es handelt sich um die Schweiz im Jahre 1800 – geben?»31
So unterschiedlich die USA und die Schweiz gewesen sein mögen: Im Hinblick auf den bilateralen Handel ergänzten und befeuerten sie sich in geradezu idealer Weise. Ein Grund mehr, den Export ostschweizerischer Baumwollwaren nicht mit einem nationalen Fokus zu betrachten, sondern eine transnationale Perspektive einzunehmen.
Eine transnationale Perspektive
Die transnationale Perspektive erfreut sich zurzeit bei vielen Schweizer Historikerinnen und Historikern grosser Beliebtheit. Eine wachsende Zahl von ihnen versucht, sich von der Geschichte der Schweiz als Sonderfall zu befreien und stattdessen den Akzent auf die «Zirkulation» von Menschen, Technologien und Wissen zu setzen. Sie erproben «transnationale» oder «globale» Zugänge, schreiben «vergleichende», «geteilte» und «postkoloniale» Geschichte und bemühen sich um eine «histoire connectée» oder «histoire croisée».32
Das ist der Leitfaden für meine Methodik. Ich gehe so vor, dass ich Aussagen und Erkenntnisse aus der schweizerischen und amerikanischen Literatur einander gegenüberstelle. Dabei suche ich nach Strukturen, Entwicklungen und Ereignissen, welche Wirkungen, Rückkoppelungen und Abhängigkeiten verursachten.
Die Ergebnisse meiner Studie stelle ich in drei Teilen dar. Der erste widmet sich den Vorgeschichten der beiden Länder und beschreibt ihre Industrialisierungen im Rahmen der wirtschaftlichen und politischen Gesamtentwicklungen. Der zweite Teil umfasst die Periode ab 1820 bis 1840, beginnend mit der Ankunft der St. Galler Kaufleute in New York und endend mit der amerikanischen Krise am Ende der 1830er-Jahre. Der dritte Teil schildert die um 1840 herum einsetzenden Innovationen in den Bereichen Finanzierung, Transport und Kommunikation, die Umkehr des Machtverhältnisses zwischen Industrie und Handel und die krisenhaften Ereignisse am Ende der 1850erJahre.
Es sind nicht wenige Bücher, die Entscheidendes zu den Ergebnissen meiner Forschung beitragen. Die von Caroline Ware bereits 1931 publizierte Studie zur Entstehung der Baumwollindustrie in Neuengland und ihrer Entfaltung bis 1860 ist auch heute noch ein Standardwerk. Chaim Rosenberg erzählt viele interessante Einzelheiten aus dem kurzen Leben des Francis Cabot Lowell, der mit seinem wagemutigen und klugen Handeln die Grundlagen für die starke internationale Wettbewerbsposition der amerikanischen Industrie schuf. Die Habilitationsschrift des Schweizer Wirtschaftshistorikers Hansjörg Siegenthaler untersucht die monopolistischen Tendenzen und die Neigungen zur Kollusion in der amerikanischen Textilwirtschaft von 1840 bis 1880. Mary Rose und Philip Scranton arbeiten die wichtigen Unterschiede zwischen den auf Massenproduktion ausgerichteten Industriegiganten im Nordosten der USA und den auf handwerkliche Fertigung spezialisierten Familienunternehmen im Raum Philadelphia heraus. Michael Zakim schildert die Anfänge der amerikanischen Konfektionsindustrie bis 1860. Die Geschichte der amerikanischen Zollgesetze von Frank Taussig ist zur Beurteilung der Ostschweizer Handelschancen unverzichtbar. George Taylor zeigt auf, wie sich die Transportrevolution zwischen 1815 und 1860 auf Fahrzeiten und
Kosten auswirkte. Hans Rosenberg beschreibt detailreich und exakt, wie es 1857 zur ersten Weltwirtschaftskrise kam. Jessica Lepler verdanke ich die tragische Geschichte des Théodore Nicolet, der erste Schweizer Konsul in New Orleans. Sie wurde meines Wissens noch nirgendwo im deutschsprachigen Raum veröffentlicht.33
Als wahre Fundgrube an facettenreichen Anekdoten und atmosphärisch dichten Beschreibungen des Geschehens erweist sich das Buch Gotham. Auf 1338 Seiten schildern Edwin G. Burrows und Mike Wallace unterhaltsam und präzise die Geschichte New Yorks von ihren Ursprüngen bis zum Jahr 1898. Gotham wurde 1999 mit dem Pulitzer-Preis für Geschichte ausgezeichnet.34
Gesamtdarstellungen dienen der Orientierung. Sie sind vor allem nützlich, wenn sie kompakt sind und sich auf das Wesentliche beschränken. Dazu gehören die Analyse des amerikanischen Wirtschaftswachstums zwischen 1790 und 1860 von Douglass C. North, Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 1993, sowie die Untersuchung von Robert Brooke Zevin zum Industriewachstum im frühen 19. Jahrhundert in Neuengland. Eine gute Übersicht bieten auch die bereits erwähnte kurze Geschichte der Weltwirtschaft von Robert C. Allen, die American Business History von Walter A. Friedman, Historiker und Dozent an der Harvard Business School, sowie die Geschichte der USA von Horst Dippel, dem ehemaligen Professor für British and American Studies an der Universität Kassel.35
Bei der Schweizer Literatur stütze ich mich vor allem auf den bereits erwähnten Hermann Wartmann und dessen Werk «Industrie und Handel des Kantons St. Gallen auf Ende 1866». Weitere Autoren ergänzen den Ostschweizer Meisterhistoriker. Walter Bodmer beschreibt die Geschichte der Schweizer Textilindustrie als Ganzes und geht den Entwicklungen in den Kantonen im Detail nach. Albert Tanner publizierte eine umfangreiche Studie zur Industrialisierung der Ostschweiz und zusätzlich eine reich illustrierte populäre Fassung, die längst vergriffen ist. Peter Holderegger erforscht die Biografien historischer Unternehmerpersönlichkeiten im Kanton Appenzell Ausserrhoden, und Walter Schläpfer schrieb eine umfangreiche Wirtschaftsgeschichte zum Kanton Appenzell Ausserrhoden. Enttäuschend wenig gibt die Industriegeschichte des Kantons Thurgau von Egon Isler her, da der Autor sich zulasten des Blicks auf die Gesamtwirtschaft des Kantons allzu ausführlich der Chronik einzelner thurgauischer Firmen widmet. Ein Standardwerk für das allgemeine Verständnis der Entstehung des internationalen Handels ist die Geschichte des Schweizerischen Grosshandels von Isaak Iselin aus dem Jahr 1943. Michael Bernegger analysiert die einzelnen Etappen der schweizerischen Integration in die Weltwirtschaft. Angela Hauser-Dora erarbeitete mit ihrer Dissertation viele neue Erkenntnisse zum Überseehandel, die jedoch für meine Arbeit insofern wenig relevant sind, als sie sich hauptsächlich auf die Zeit nach 1873 beziehen.36
Im Bürgerregister (BR) der Stadt St. Gallen, aufbewahrt im Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde (StadtASG), fand ich einige wenige, bislang unbekannte biografische Details zu den St. Galler Kaufleuten, die als Erste über den Atlantik reisten. Eine Recherche in den voluminösen Beständen an Sitzungs- und Missivenprotokollen des Kaufmännischen Directoriums, die ebenfalls im Stadtarchiv St. Gallen gelagert sind, ergab nichts Neues zum Handel mit Amerika in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Anmerkungen
1 Wartmann, Hermann (1875): Industrie und Handel des Kantons St. Gallen auf Ende 1866, 423. Wörtliche Aussagen zitiere ich in der Originalsprache, wobei ich darauf verzichte, kursiv gedruckte oder mit Sperrsatz ausgezeichnete Passagen in ihrer ursprünglichen Form zu übernehmen.
2 Franc, Andrea (2021): Im Austausch mit der Welt, 32.
3 Wartmann, Hermann (1875): Industrie und Handel des Kantons St. Gallen auf Ende 1866, 108f.
4 Franc, Andrea (2021): Im Austausch mit der Welt, 32.
5 Ebd., 38.
6 Bodmer, Walter (1960): Die Entwicklung der schweizerischen Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und Wirtschaftszweige, 290.
7 Franc, Andrea (2021): Im Austausch mit der Welt, 38.
8 Hauser-Dora, Angela Maria (1986): Die wirtschaftlichen und handelspolitischen Beziehungen der Schweiz zu überseeischen Gebieten, 3.
9 Ebd., 4.
10 Veyrassat, Béatrice (2018): Histoire de la Suisse et des Suisses dans la marche du monde, 236f.
11 Bergier, Jean-François (1983): Die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, 261.
12 Beckert, Sven (2014): King Cotton, 201.
13 Holderegger, Peter (1992): Unternehmer im Appenzeller Land, 51.
14 Bergier, Jean-François (1983): Die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, 186.
15 Bernegger, Michael (1990): Die Schweiz und die Weltwirtschaft, 436f.
16 Wartmann, Hermann (1875): Industrie und Handel des Kantons St. Gallen auf Ende 1866.
17 Mayer, Marcel (2014): Hermann Wartmann. (e-hls). Internetquellen kennzeichne ich am Schluss der Referenzzeile mit einer in Klammern gesetzten Kurzform, zum Beispiel (e-hls) für Historisches Lexikon der Schweiz. Die ausführlichen Adressen und Abrufdaten sind im Verzeichnis der Internetquellen einsehbar.
18 Fischer, Thomas (1990): Toggenburger Buntweberei auf dem Weltmarkt.
19 Dejung, Christof (2010): Unbekannte Intermediäre, 139.
20 Ebd., 142.
21 Siegenthaler, Hansjörg (1972): Das Gewicht monopolistischer Elemente in der amerikanischen Textilindustrie, 45.
22 Niehans, Jürg (1990): A History of Economic Theory, 100.
23 Ebd., 100f.
24 Ebd., 428.
25 Menzel, Ulrich (1988): Auswege aus der Abhängigkeit, 19.
26 Ebd., 19.
27 N. N., Historische Ausbreitung der Vereinigten Staaten von Amerika in den Jahren 1690 bis 1945. (stat).
28 N. N., Bevölkerungsentwicklung der Vereinigten Staaten von 1790 bis 1940. (stat).
29 Head-König, Anne-Lise (2012): Bevölkerung. (e-hls).
30 Allen, Robert C. (2015): Geschichte der Weltwirtschaft, 109.
31 Menzel, Ulrich (1988): Auswege aus der Abhängigkeit, 15f.
32 Büsser, Nathalie / Davis, Thomas / Eichenberger, Pierre / Haller Lea / Straumann, Tobias / Wirth, Christa (Hg.) (2020): Transnationale Geschichte der Schweiz, 9.
33 Ware, Caroline F. (1931): The Early New England Cotton Manufacture. Rosenberg, Chaim M. (2011): The Life and Times of Francis Cabot Lowell. Siegenthaler, Hansjörg (1972): Das Gewicht monopolistischer Elemente in der amerikanischen Textilindustrie. Rose, Mary B. (2000): Firms, Networks and Business Values. Scranton, Philip (1983): Proprietary Capitalism. Zakim, Michael (2012): The Birth of the Clothing Industry in America. Taussig, Frank William (1967): The Tariff History of the United States. Taylor, George Rogers (1951): The Transportation Revolution. Rosenberg, Hans (1974): Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859. Lepler, Jessica M. (2013): The Many Panics of 1837.
34 Burrows, Edwin G. / Wallace, Mike (1999): Gotham.
35 North, Douglass C. (1961): The Economic Growth of the United States. Zevin, Robert Brooke (1965): The Growth of Manufacturing in Early Nineteenth-Century New England. Allen, Robert C. (2015): Geschichte der Weltwirtschaft. Friedman, Walter A. (2020): American Business History. Dippel, Horst (2021): Geschichte der USA.
36 Wartmann, Hermann (1875): Industrie und Handel des Kantons St. Gallen auf Ende 1866. Bodmer, Walter (1960): Die Entwicklung der schweizerischen Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und Wirtschaftszweige. Tanner, Albert (1982): Spulen – Weben – Sticken. Tanner, Albert (1985): Das Schiffchen fliegt, die Maschine rauscht. Schläpfer, Walter (1984): Wirtschaftsgeschichte des Kantons Appenzell A. Rh. bis 1939. Holderegger, Peter (1992): Unternehmer im Appenzeller Land. Isler, Egon (1945): Industriegeschichte des Thurgaus. Iselin, Isaak (1943): Der Schweizerische Grosshandel in Geschichte und Gegenwart. Bernegger, Michael (1990): Die Schweiz und die Weltwirtschaft. HauserDora, Angela Maria (1986): Die wirtschaftlichen und handelspolitischen Beziehungen der Schweiz zu überseeischen Gebieten.
Im Dezember 1789 versandte der damals gerade einmal 21 Jahre alte Samuel Slater ein ambitioniertes Bewerbungsschreiben:
«Sir, – A few days ago I was informed that you wanted a manager of cotton spinning, &c. in which business I flatter myself that I can give the greatest satisfaction, in making machinery, making good yarn, either for stockings or twist, as any that is made in England; as I have had the opportunity, and an oversight, of Sir Richard Arkwright’s works, and in Mr. Strutt’s mill upwards of eight years. If you are not provided for, should be glad to serve you; though I am in the New York manufactory, and have been for three weeks since I arrived from England.»37
Dem Adressaten des Briefes, Moses Brown, einem wohlhabenden Quäker in Providence (Rhode Island), kam das Angebot aus New York gerade recht. Am 10. Dezember schrieb er zurück:
«Friend, – I received thine of 2d inst. and observe its contents. I, or rather Almy & Brown, who has the business in the cotton line, which I began, one being my son-in-law, and the other a kinsman, want the assistance of a person skilled in the frame or water spinning. An experiment has been made, which has failed, no person being aequainted with the business, and the frames imperfect.»38
Das «Rhode-Island-System»
Schnell kamen der mit langjähriger industrieller Erfahrung ausgestattete Einwanderer aus Derbyshire und die mit Überseegeschäften – inklusive Sklavenhandel – reich gewordene Kaufmannssippe aus New England miteinander ins Geschäft. Am 1. Januar 1790 traf Slater in Pawtucket Village ein. Dort hatten die Browns ihre Spinnerei angesiedelt, um die Wasserkraft des durchfliessenden Blackstone Rivers zu nutzen. Im ersten Vertrag, den William Almy, der Schwiegersohn von Moses, und Smith Brown, der Cousin von Moses, auf der einen Seite und Samuel Slater auf der anderen Seite aushandelten, wurde dem neuen Partner die Hälfte der zukünftigen Gewinne der «spinning mill» zugesichert.39
Baumwollgarn wurde damals in drei Schritten erzeugt. Als Erstes wurden die Ballen Rohbaumwolle aufgebrochen sowie Schmutz und Fremdkörper entfernt. Im zweiten Schritt wurde die Baumwolle kardiert, das heisst, sie wurde in «Streckband» oder «Vorgarn» genannte, lose Stränge ausgerichtet, indem man sie über die mit Nadeln bestückte Streckbank zog. Drittens wurde das Vorgarn zu Garn versponnen. An diesen drei Schritten setzte die Mechanisierung an.40
In den nächsten beiden Jahren baute Slater eine einfache Kopie der vom englischen Perückenmacher Richard Arkwright 1769 erfundenen und patentierten «Waterframe»41 nach. Zudem konstruierte er eine Kardier- und eine Vorspinnmaschine. Ende 1791 beschäftigte das Unternehmen in Pawtucket Village neun Kinder und lastete damit die damalige Produktionskapazität von 72 Spindeln voll aus.42
Samuel Slater ging mit dem Bau der ersten «Waterframe» in Amerika ein hohes persönliches Risiko ein. Er missachtete nicht nur die Patentrechte von Arkwright, sondern verstiess auch gegen ein vom britischen Parlament im Jahre 1774 erlassenes Gesetz, das den Export von Baumwollspinnmaschinen verbot.43 Gesetzesbrecher bedrohte die englische Regierung mit Bussen, Gefängnis oder gar Tod; Know-how-Trägern verbot sie die Ausreise. Slater konnte 1789 nur deshalb emigrieren, weil er sich bei der Einschiffung als «farm boy» ausgab.44
Die von Slater in Providence aufgebaute Spinnerei war dank ihrer überragenden Maschinentechnik über Jahre hinweg die alleinige in Amerika, die erfolgreich funktionierte.45 Wie schwierig es für die damaligen Industriepioniere war, die Herstellung von Garn zu mechanisieren, zeigt das Beispiel der Beverly Cotton Mill. 1785 tauchte in Massachusetts ein Offiziersanwärter der Royal Navy mit dem Namen Thomas Somers auf, in der Hoffnung, lokale Kapitalisten für die Herstellung von Baumwolltextilien zu interessieren. Somers behauptete, über Beschreibungen und Modelle jener bemerkenswerten Maschinen zu verfügen, die in England die Textilproduktion revolutioniert hatten. Es gelang ihm, die Brüder John, Andrew und George Cabot, Israel Thorndike, Isaac Chapman, Moses Brown (der ein Schwager von Israel Thorndike war) und Henry Higginson für seine Ideen zu begeistern. 1787 gründeten die Geschäftsleute die Beverly Cotton Manufactory. Die Fabrik nahm im Januar 1789 ihren Betrieb auf und verarbeitete Rohbaumwolle zu Garn, welches auf Handwebstühlen verwoben wurde. Zwar verfügte die Beverly Cotton Mill über eine Kapazität von 636 Spindeln und war
damit um ein Vielfaches grösser als die von Samuel Slater ausgerüstete Pawtucket Mill. Doch gegenüber einer traditionellen Heimspinnwerkstatt war ihr Konzept nur geringfügig weiter fortgeschritten. Nicht Wasserkraft, sondern zwei Pferde, die im Kreis um eine aufrechte Welle trotteten, trieben die Maschinen an, was sich bald einmal als ineffizient und schwach herausstellte. Das Unternehmen war von Anfang an unterkapitalisiert, einige der Eigentümer zogen sich bald aus dem Geschäft zurück. Es fehlte an fähigen Arbeitern, und auch Thomas Somers erwies sich bei Weitem als nicht so versiert, wie er angekündigt hatte. Der Ausstoss des Unternehmens war mager, die Schulden stiegen, die Beverly Cotton Mill war gegenüber den britischen und indischen Importen nicht konkurrenzfähig. 1789 verkauften die Brüder Cabot die Fabrik für die kümmerliche Summe von 2630.29 Dollar an Samuel Blanchard. Der war genauso wenig erfolgreich, 1807 gab er auf.46
1801 arbeiteten in der Pawtucket Mill über 100 Kinder im Alter zwischen vier und zehn Jahren unter der Aufsicht von Erwachsenen. Sie betrieben nur Kardieren und Spinnen maschinell, alles Übrige führten sie von Hand aus.47
Die Idee, Kinder in der Fabrikarbeit einzusetzen, hatte Slater aus England mitgebracht. Sein früherer Arbeitgeber, Jediah Strutt, hatte ganze Familien beschäftigt und eine Arbeitsteilung basierend auf Alter und Geschlecht entwickelt. In Pawtucket rackerten sich die Kinder in der Spinnerei ab, derweil die Väter Aufsichtsjobs wahrnahmen und ausserhalb der Firma Maler-, Maurer- oder Zimmerarbeiten verrichteten. Die Familienoberhäupter übten also traditionelle Beschäftigungen aus, mit denen sie sich ihre angestammte Autorität und Position erhielten, umso mehr,
als alle Löhne der Familie an sie ausbezahlt wurden. Die Frauen blieben meistens zu Hause, woben oder stellten –in späteren Zeiten – Knöpfe, Hüte und Besen her.48
Samuel Slater heiratete in Pawtucket Hannah Wilkinson und wurde Vater von zehn Kindern.49 1799 baute er seine erste eigene Spinnerei auf, betrieb sie jedoch nur nebenbei, da er weiterhin die alte Fabrik von Almy & Brown beaufsichtigte.50 Mit wachsender Familie und Reputation errichtete er entlang des Blackstone Rivers weitere «cotton mills». Im Laufe der Jahre verliess ihn eine ganze Reihe von seinen Arbeitern, um eigene Spinnereien zu gründen und das gesponnene Garn an Heimweber und Betreiber von Handwebstühlen zu verkaufen.51
Die von Slater initiierte Kombination von kleinen Spinnfabriken und in Heimarbeit hergestellter Bekleidung wurde bekannt als «Rhode-Island-System». 1794 wurde in Massachusetts die Newburyport Manufacture eröffnet, in Rhode Island die Warwick Spinning Mill und in Elkton, Maryland, die Cecil Manufacturing Company. Drei englische Brüder – James, Arthur und John Scholfield – gründeten eine Spinnerei in Haverhill, Massachusetts, und im nahe gelegenen North Andover startete Nathaniel Stevens mit einer «mill». 1804 folgte Charles Robbins, ein früherer Angestellter von Samuel Slater, der Einladung des einflussreichsten Bürgers von New Ipswich, Charles Robbins, um die erste Textilfabrik im Staate New Hampshire zu eröffnen.52 Im amerikanischen Nordosten schossen Spinnfabriken innerhalb von 20 Jahren wie Pilze aus dem Boden, oder wie Chaim Rosenberg schreibt:
«From 1787 until 1807, dozens of small spinning mills opened along the rivers of New England, Pennsylvania and Maryland as merchants moved their capital into domestic manufacture.»53
Slater war weit mehr als ein begabter Maschinenbauer und geschickter Organisator. Im Laufe seines Lebens profilierte er sich zunehmend als «cultural entrepreneur». Zusammen mit seinem Bruder John, der ihm um die Wende zum 19. Jahrhundert nach Rhode Island gefolgt war, schufen die beiden «company towns» rund um ihre Fabriken herum. Neben Jobs boten sie auch Wohnungen, Kirchen, Schulen und Gärten für ihre Arbeiter an. Sie versuchten, ein spezifisch amerikanisches Fabriksystem zu entwickeln, weil sie die destruktiven Aspekte der britischen Industrialisierung vermeiden wollten. Sie glaubten an die republikanischen und christlichen Prinzipien in der neuen Welt, an die Würde der Arbeit, an den Respekt vor der Familie sowie an die Unabhängigkeit und gleichzeitig an paternalistische Kontrolle der erwachsenen männlichen Arbeiterschaft.54
Samuel Slaters herausragende Pionierrolle in der Industrialisierung der USA ist unter Historikern unbestritten. Oder wie Barbara und Kenneth Tucker es formulieren:
«Samuel Slater has been called the world’s first industrial spy, the Arkwright of America, the Father of the American manufacturers, and the architect of America’s Industrial Revolution.»55
Viele Amerikaner befürworteten den Schmuggel von Technologie von Spinnmaschinen über den Atlantik, weil sie sahen, dass die Zahl der Textilfabriken und der Verbrauch von Rohbaumwolle rasant zunahmen. Viele andere wehrten sich aber gegen die Industrialisierung. Unter ihnen auch Thomas Jefferson, der Hauptverfasser der Unabhängigkeitserklärung und spätere dritte Präsident der USA. In seiner Vision sollten die Vereinigten Staaten von Amerika ein industrieloser Agrarstaat mit vielen kleinen Farmen sein.56
Jefferson lag damit nicht einmal so falsch. Nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hatte der Handel zwischen England und seinen ehemaligen Kolonien einen neuen Aufschwung genommen. Die Vereinigten Staaten waren der grösste Absatzmarkt für englische Güter, und im Gegenzug nahmen die Britischen Inseln über die Hälfte der amerikanischen Exporte ab. Das verfügbare Kapital floss in den Schiffbau und den Handel. Noch mehr Möglichkeiten gab es in der Landwirtschaft. Bereits während und auch nach der Revolution entstand eine rasche und anhaltende Wanderungsbewegung über die Berge in den Westen. «Land companies» im westlichen Teil von New York und in Ohio offerierten dem Kapital aus dem Osten
attraktive Investitionen, derweil die ausgedehnten Gegenden bis hin zum Mississippi in der Lage schienen, eine nahezu unbegrenzte Menge an «Pioniervolk» zu absorbieren. Die Pflanzer an der Küste produzierten den Reis und den Tabak, die einen grossen Teil der amerikanischen Exporte ausmachten. Die Wälder waren voll von Bauholz, und das Meer hatte seinen Fisch. Was für einen Grund gab es, noch andere Quellen für den nationalen Reichtum anzuzapfen?57
Jeffersons Gegenspieler war Alexander Hamilton, der erste Finanzminister der USA. Er argumentierte in einem berühmten, am 5. Dezember 1791 dem Kongress vorgelegten «Report on Manufactures», dass die USA beides vorantreiben sollten, die «Kultivierung der Erde» und die industrielle Herstellung von Gütern. Wenn Fabriken Kleider, Schuhe und Arbeitsgeräte für Farmen produzierten, könnten sich die Bauern ausschliesslich der Agrikultur widmen. Die Erweiterung der Landwirtschaft um die Industrie würde mehr Beschäftigung bringen, Einwanderung ermuntern, Unternehmen stimulieren, mehr Möglichkeiten für Talente bieten und den Farmern heimische Märkte für Rohbaumwolle, Tabak, Flachs und Holz verschaffen. Um die Etablierung einer amerikanischen Industrie zu fördern, plädierte Hamilton für Subventionen und Zölle gegen Importe.58