

Kinder, erklärt mir das Rätsel der Welt.
Detlev von Liliencron
Gegründet von Werner Bucher und Rosemarie Egger im Jahr 1974
Nr. 230, März 2025, ISBN 978-3-85830-339-4; ISSN 1016-7803
Erscheint fünf Mal jährlich. Die nächsten Ausgaben mit folgenden Themen:
231 Lyrik aus der Stadt St. Gallen
232 Alpentöne
233 Märchen
234 Deutschsprachige rumänische Literatur
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Das Copyright der Texte liegt bei den Autorinnen und Autoren.
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Liebe Leserinnen und liebe Leser
Die erste Ausgabe 2025 widmet orte dem 1844 in Kiel geborenen Schriftsteller Detlev von Liliencron. Dass in seiner Heimatstadt Kiel einmal eine Strasse nach ihm benannt würde, hätte er sich als Gymnasiast wohl kaum träumen lassen. Bis er sich als freier Schriftsteller knapp über Wasser halten konnte, war er Offizier in der Armee, Klavierlehrer in Amerika, lebte als Vogt auf der Nordseeinsel Pellworm und später in Kellinghusen. Sein lebensmutiger Sinn trotzte ein Leben lang aller Unbill, und zu Recht schrieb sein Dichterkollege Richard Dehmel: «Wer das Leben kennt und trotzdem liebt, der muss ihn lieben. Keiner vor ihm hat es so als buntes Spiel begriffen.» (Todesanzeige aus Die Fackel, 27. Juli 1909, S. 285 – 286).
Liliencrons Gedichte laden uns Heutige ein, über unsere eigene Existenz und unsere Rolle in der Welt nachzudenken. Dieser Poet galt als bedeutendster Lyriker seiner Zeit, und aus heutiger Sicht waren seine Gedichte zukunftsweisend, nahmen viele Inhalte und Schreibtechniken moderner Literaturen vorweg.
Den Löwenanteil für dieses Heft leistete Dr. Joachim Winkler aus Kellinghusen. Er hat mit seinen hier publizierten Beiträgen Leben und Werk des Dichters in kompetent verdichteter Weise aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und zuhanden von orte eine umfangreiche Vorauswahl aus dem Liliencron’schen Gedichtefundus getroffen. orte dankt!
Monique Obertin, Gabriel Anwander und Erwin Messmer haben den vorliegenden thema
tischen Schwerpunkt konzipiert und freuen sich, hiermit einen aus unseren Buchhandlungen weitestgehend verschwundenen grossen Dichter wieder in Erinnerung zu rufen.
Buchhandlungen sind neben Bibliotheken die Orte für Bücher. Orte vergangener und zukünftiger Welten. Unser hörorte ist ausnahmsweise nicht einem Hörbuch, sondern einer ganzen Buchhandlung in Zürich gewidmet: der Buchhandlung Hirslanden und ihrem einzigartigen Einsatz für Bücher. Die ortegalerie stellt zwei unterschiedliche literarische Stimmen vor. In der bestenliste gibt Kulturvermittler Richard Butz persönliche Lesetipps, und im bücherregal stehen vier Empfehlungen unserer Redaktion für Sie bereit. Viel Neues – und doch bleibt alles beim Alten? Vielleicht nicht ganz. Das Literaturfestival wortlaut findet unter neuer Leitung zum 16. Mal in St. Gallen statt, Peter K. Wehrli nähert sich dem 3333. Eintrag in seinem Katalog von Allem und spricht darüber im Zürcher Bücherraum F. Zu guter Letzt blickt die orteRedaktion auf das Jubiläumsjahr 2024 zurück und schaut gleichzeitig in die Zukunft.
Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen dabei, sich mit Detlev von Liliencron dem Rätsel der Welt zu stellen.
Beste Grüsse
Annekatrin Ranft-Rehfeldt

Kinder, erklärt mir das Rätsel der Welt.
Detlev von Liliencron
Einleitung
Joachim Winkler
Beginnen wir – scheinbar weit vom Thema entfernt – mit einer in KlassikmusikerKreisen kursierenden Anekdote. Ihr zufolge soll Richard Strauss einem angehenden Komponisten gesagt haben: «Wenn du willst, dass deine Hörer wirklich aufmerken, dann fang mit einem kolossalen Fortissimo an! Danach kannst du machen, was du willst ...» Wer über Liliencron schreiben will, hat reichlich Möglichkeit, diesen Rat zu beherzigen, etwa mit diesen beiden besonders kruden LiliencronEpisoden: Die erste berichtet vom jungen Berufsoffizier Liliencron, der im deutschfranzösischen Krieg 1870/71 zwei von ihm als «Drückeberger» bezeichnete Untergebene im gegnerischen Kugelhagel ohne jede Deckung «Präsentiert das Gewehr» exerzieren lässt. Die zweite vom passionierten «Frauenflüsterer» Liliencron, der es unternimmt, seiner Umschwärmten vor lauter Überschwang ein Klavier ins Wohnzimmer stellen zu lassen. Der Treppenaufgang ins Obergeschoss ist zu eng, das Instrument muss von aussen hochgehievt werden. Doch ein Seil reisst,
das bloss ausgeliehene Klavier stürzt ab und geht zu Bruch. Liliencron, mittellos und ohnehin schon hochverschuldet, braucht Jahre, um ein Ersatzinstrument abzustottern.
Wohl dem, der fähig ist, beim Kopfschütteln über so viel kriegerische Verantwortungslosigkeit auch noch das Haar über diesen Klavierleichtsinn zu sträuben! Beispiele, die nicht gerade dazu anregen, der Frage «Wer war denn dieser Liliencron eigentlich?» genauer nachzugehen. Natürlich reiht sich in seiner Biografie nicht eine derartige Krassheit an die nächste (und auch die «Kriegsgurgel» Liliencron, der als naiver 17Jähriger ins Militär eingetreten war, hat über das Thema Krieg später anders gedacht), doch auch das triste Einerlei des ständigen Scheiterns daran, sich nach dem Abschied vom Militär im Würgegriff wuchernder Verschuldung eine beruflich wie privat stabile Lebensgrundlage aufzubauen, reizt kaum dazu, sich für diesen ohnehin kaum noch bekannten Dichter näher zu interessieren.
Und doch – aller schockierenden Bedenkenlosigkeit und selbstverschuldeten Not, allen Nachstellungen der Gläubiger, schliesslich auch noch zwei gescheiterten Ehen zum Trotz: Die verkrachte Existenz des «Schuldenbarons» mit seiner robusten Vitalität, seinem gewinnenden Auftreten und seiner blitzhellen Beobachtungsgabe, seiner formalen Begabung, seiner literarisch und historisch weit ausgreifenden Belesenheit ist ihrem Kompass einer fantasiestarken eigenständigen Kreativität stets treu geblieben und hat sich in der meist eher beschränkten Umwelt seines, wie er sagt, «skatdurchtobten Vaterlandes» als Dichter und Schriftsteller emporzuarbeiten und zu behaupten gewusst. Mehr noch: Um das Jahr 1900 galt der mittlerweile schon 56Jährige als unstrittig bedeutendster Dichter des gesamten deutschsprachigen Raums. Dass Liliencron sein letztes Jahrzehnt verhältnismässig gut abgesichert in der familiären Geborgenheit seiner dritten, mühsam legitimierten Ehe verleben konnte, verdankt er vorrangig seiner literarischen Leistung, mehr aber noch der ideellen, publizistischen und materiellen Unterstützung eines wachsenden Kreises treuer Freunde sowie fördernder Personen und Institutionen, die ihn mit Stipendien, anerkennender Kritik, Einladungen zu lukrativen Lesereisen und, im Fall des deutschen Kaisers, seit 1903 sogar mit einer jährlichen Rente zu unterstützen bereit waren.
Liliencron war nicht allein als Dichter, sondern auch als Prosaautor und Dramatiker höchst produktiv. Während seine
Novellen, Erzählungen, Romane und Arbeiten für die Bühne schon zu seinen Lebzeiten als zweitrangig wahrgenommen wurden, gelang und gelingt es seinem inhaltlich wie formal oft gleich zukunftweisenden dichterischen Schaffen auch über den Tellerrand seiner eigenen Zeit hinaus (und mit Verlaub: über unseren eigenen Tellerrand wieder hinein!) Wirkung zu zeitigen. Sein dichterisches Oeuvre ist allerdings so umfangreich, dass wir an dieser Stelle nur auf wenige ausgewählte Beispiele von Liliencrons Lyrik eingehen können. Das poetische Hauptwerk, das über 250 Seiten umfassende Epos Poggfred, das Thomas Mann und Rainer Maria Rilke so einhellig priesen, muss demgegenüber zurück stehen.
Joachim Winkler
Auszug aus dem Gedicht Betrunken
Detlev von Liliencron
Ich trank das sechste Glas. Ich stehe draussen
An der Mauer des Hauses, Barhaupt, Und schaue in die Sterne: Der winzige, matt blinkende, Grad über mir, Ist der Stern der Gemütlichkeit, Zugleich der Stern Der äussersten geistigen Genügsamkeit. Der nah daneben blitzt, Der grosse, feuerfunkelnde, Ist der Stern des Zorns. WeltenRätsel.
Die Welt – das Rätsel der Rätsel. Wie mir der Wind die heisse Stirn kühlt. Angenehm, höchst angenehm.
Ich bin wieder im Zimmer. Ich trinke mein achtes Glas Nordnordgrog. Kinder, erklärt mir das Rätsel der Welt. Aber Mine und Stine lachen. Das Rätsel, bitt ich, Das Rätsel der Welt. [...]
Aus: Neue Gedichte von Detlev Liliencron. Verlag Wilhelm Friedrich, Leipzig 1892.
Auf dem «Jungfernstieg»
Detlev von Liliencron
Im Jagdanzug, noch in der Heidestille, Steht plötzlich mir nach Hamburg Wunsch und Wille.
Gedacht, getan; mein Wagen fährt mich schnell, Und hält nach kurzer Fahrt vor Streit’s Hôtel.
Der Schlag klappt auf, die Kellnerlocken wehn, Da seh ich dich bei mir vorübergehn. Und unter alle die geputzten Leute
Schleppst du mich mit als deine Jägerbeute. Im linken Arm trag ich mein Teckelvieh, Rechts schreitest du, drei machen Kompagnie. Und auf und nieder durch die Menschenwogen Sind wir selbander plaudernd hingezogen.
Wie war es schön, wie lind die Juniluft, Zuweilen zieht ein Parmaveilchenduft
Von dir wie eine Welle über mich, Und meine Seele jauchzt: Ich liebe dich.
Dein Sonnenschirm trifft ab und zu das Pflaster, Ein Klang im Lärme der Vorüberhaster.
«Wie sonnverbrannt, ein Vetter der Mulatten», So neckst du mich im sichern Häuserschatten.
Und einmal, leise, rasch im Flüsterton: «Ein wenig schiefer noch den Hut, Baron.»
Der Alsterdampfer Pfeifen hör ich rufen, Dein Lachen plätschert über Silberstufen. So trieben wir im Treiben hin und her, Uns beiden, glaub ich, war der Abschied schwer.
Mein Dachselhund, Herr Didel zubenannt, Hat bis zuletzt sich ängstlich umgewandt. Wie war ihm schrecklich die nervöse Menge, Sie stiess ihn sichtlich in die grösste Enge, Doch als ich Schluss gemacht auf Nummer acht, Hat er nicht allzu lange mehr gewacht.
Aus: Gedichte. Verlag Wilhelm Friedrich, Leipzig 1889.
Warum ausgerechnet
Liliencron?
Erwin Messmer
Mit dieser Frage war ich in den letzten Monaten mehrmals konfrontiert worden, innerhalb der orteRedaktion und ausserhalb. Sie ist berechtigt, denn diesen einst berühmtesten Lyriker Deutschlands kennt in unseren mitteleuropäischen Breitengraden kaum mehr jemand. Meine Antwort: Weil Liliencron einer der bedeutendsten Lyriker des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts war und er mit seinem dichterischen Gesamtwerk manche Türe zur Moderne aufgestossen hat. Obwohl von vielen berühmten Dichtern und Literaten seiner Zeit, unter ihnen Rainer Maria Rilke, Theodor Storm, Theodor Fontane, Thomas Mann und Karl Kraus hochgelobt und von Letzterem sogar fast kultisch verehrt, ist Liliencron in der heutigen Zeit zu Unrecht ein wenig in Vergessenheit geraten.
Vor Jahren entdeckte ich in einem alten Lesebuch Liliencrons Gedicht Auf dem «Jungfernstieg» und war sogleich hell begeistert. Eine ansteckende, ganz und gar nicht angestaubte Lebensfreude lacht und liebäugelt aus diesen Versen, und stilistisch ist in jeder Zeile eine Handschrift auszumachen, die mir trotz des traditionellen Reimschemas und der jambischen Versfüsse absolut einmalig und unnachahmlich erscheint. Besonders angetan
hatte es mir der Neologismus «Vorüberhaster». Ein Kunstkniff des Autors, Verben in Hauptwörter zu verwandeln, den er – nicht selten, um seiner hochentwickelten Reimkunst mehr Raum zu verschaffen – auch in vielen anderen Gedichten anwendet und damit jedes Mal gleichsam ein neues poetisches Fass anzapft. Und welcher andere Dichter, Goethe eingeschlossen, hätte die Gabe, ein helles Frauenlachen mit «Dein Lachen plätschert über Silberstufen» zu veranschaulichen!
Kurzum, diese Entdeckung konnte ich nicht für mich behalten. Als ich meinem Freund, dem Musiker, Schriftsteller und Publizisten Urs Frauchiger davon erzählte, war dieser sogleich elektrisiert. Liliencron zählte schon seit Jahrzehnten zu den Favoriten dieses profunden Kenners und Liebhabers der Literaturgattung Lyrik. Wir tauschten uns während Wochen und Monaten immer wieder über Liliencron aus. Frauchiger sprach von einem Koloss und Raubein, der mit geradezu schwebender Leichtigkeit und Grazie auf dem filigranen Spinnennetz der Poesie flaniere. Vor zwei Jahren, als ich ihm von unserem Vorhaben erzählte, Liliencron eine orteNummer zu widmen, war er Feuer und Flamme für diese Idee. In einer Mail vom
23. März 2023 schrieb mir der Aphoristiker Frauchiger:
«Zu Detlev von Liliencron: Was fällt dem Kerl eigentlich ein, mit seinen Holzschuhen auf unser Parkett zu treten?
Wenn er bloss nicht so verdammt gut und so zärtlich wäre!»
Und weiter:
«Liliencron ist für mich ein Genie, das zwischen Militär und einem sensiblen Punk fährt. Dem sind die Leute einfach nicht gewachsen, die gewohnt sind, in Etiketten zu rezipieren und zu denken.»
Damit hat Urs Frauchiger, der sich darauf freute, an dieser Nummer mitzuarbeiten, jedoch leider im Oktober 2023 verstarb, wichtige Punkte angesprochen: Liliencron ist in keine Schublade zu zwängen, er ist als Dichter einmalig und deshalb, wie all die wenigen andern herausragenden Dichterinnen und Dichter einer jeden Epoche, «modern» geblieben.
Der Hamburger Musiker, Gräzist und ausgewiesene Kenner verschiedenster nationaler Literaturen, Dr. Joachim Winkler, mit dem mich eine jahrzehntelange Freundschaft verbindet, wohnt seit über zwanzig Jahren im schleswigholsteinischen Kellinghusen. In diesem Städtchen lebte auch Detlev von Liliencron, um nebenher seiner Anstellung als Kirchkreisvogt nachzugehen. Die Idee, Liliencron in einem orteHeft sozusagen zu einer Wiederauferstehung zu verhelfen, reifte anlässlich eines meiner Besuche an der Kellinghusener Gartenstrasse. Winkler, eben
falls von Jugend auf ein begeisterter Leser Liliencron’scher Lyrik, ist in hunderten von Stunden der Recherchearbeit für unser vorliegendes Heft vom Liebhaber zum wahren Spezialisten avanciert. Als wie erstaunlich modern und zukunftsweisend dieses lyrische Gesamtwerk aus der vorletzten Jahrhundertwende von uns Heutigen einzustufen ist, erfahren wir aus seinen für uns in verdankenswerter Weise geschriebenen Beiträgen, die sich von verschiedenen Seiten her dem faszinierenden Phänomen Liliencron annähern.
Es ist an der Zeit, dass nach Karl Kraus, der schon als 18Jähriger mit Begeisterung auf Liliencron hinwies, ihn als einen wahren Dichter bezeichnete und diesem Urteil ein Leben lang treu blieb, der Liliencrons Gedichten immer wieder ganze Seiten in seiner legendären Zeitschrift Die Fackel widmete und nie müde wurde, im Freundeskreis aus dem Werk dieses lyrischen «Neutöners» vorzulesen, dass also nach dem Verstummen dieses allenthalben gefürchteten Oberkritikers der deutschen Literaturszene vor bald hundert Jahren nun auch eine heutige, bekanntlich nicht ganz unkritische Literaturzeitschrift dazu beiträgt, diesen Grossen der deutschen Literatur allen Freunden und Liebhaberinnen hervorragender Lyrik mit Nachdruck wieder in Erinnerung zu rufen.
Auf einem Bahnhofe
Detlev von Liliencron
Aus einer Riesenstadt verirrt’ ich mich
Auf einen weit entlegnen kleinen Bahnhof.
Ein Städtchen wird vielleicht von hier erreicht
Von Männern, die vom Morgen an viel Stunden
Am Pult, in Läden und Kanzlei gesessen,
Und nun den Abend im Familienkreise
Den Staub abschütteln wollen vom «Geschäft».
Ein glühend heisser Sommertag schloss ab.
Es war die Zeit der Mitteldämmerung.
Der neue Mond schob wie ein Komma sich
Just zwischen zwei bepackte Güterwagen.
Im Westen lag der stumme Abendhimmel
In ganz verblasster milchiggelber Farbe.
Und diesem Himmel stand wie ausgeschnitten
Ein Haufen Schornsteintürme vor der Helle.
Aus allen Schloten qualmte dicker Rauch, Erst grad’ zur Höh’, dann wie gebrochen bald, Beinah’ im rechten Winkel, einem Windzug
Nachgebend, der hier Oberhand gewonnen.
In wunderlich geformten Oefen dort, Die offne Stellen zeigten, lohte ruhig, Ganz ruhig, ohne jeden Flackerzug, Ein dunkelblauer starker Flammenmantel…
Und aus der grossen Stadt klang dumpf Geräusch,
Ein brodelnd Kochen, das ich einmal schon Gehört, als vor Paris wir Deutschen ruhten, Indessen drinnen die Kommune sich
Im Höllenlärme blutige Wangen wusch.
Das fiel mir ein in diesem Augenblick. Und wie auch damals, kam ein Bild von neuem: Scharf, wie geputztes Messing blank, erglänzte Hoch über allem Zank der Jupiter.
Und heut’ wie einst: Der Jupiter stand oben, Von allen Sternen er allein zu sehn, Und schaute auf den ewigen Erdenkampf, Der mir so wüst in dieser Stunde schien –Und wie bezwungen sprach ich vor mich hin Mit leiser Lippe: Zwanzigstes Jahrhundert. Um mich war’s leer; ein letzter Zug hielt fertig, Die letzten Arbeitsmüden zu erwarten.
Ein Bahnbeamter mit knallroter Mütze Schoss mir vorbei mit Eilgutformularen. Sonst nichts – nur oben stand der Jupiter. Die blauen Flammen lohten geisterhaft, Und aus der Stadt her drang verworrner Ton.
Aus: Der Heidegänger und andere Gedichte. Verlag Wilhelm Friedrich, Leipzig 1890.
Der Blitzzug
Detlev von Liliencron
Quer durch Europa von Westen nach Osten Rüttert und rattert die Bahnmelodie.
Gilt es die Seligkeit schneller zu kosten?
Kommt er zu spät an im Himmelslogis?
Fortfortfortfortfortfort drehn sich die Räder Rasend dahin auf dem Schienengeäder, Rauch ist der Bestie verschwindender Schweif, Schaffnerpfiff, Lokomotivengepfeif.
Länder verfliegen und Städte versinken, Stunden und Tage verflattern im Flug, Täler und Berge, vorbei, wenn sie winken, Traumbilder, Sehnsucht und Sinnenbetrug.
Mondschein und Sonne, noch einmal die Sterne, Bald ist erreicht die beglückende Ferne, Dämmerung, Abend und Nebel und Nacht, Stürmisch erwartet, was glühend gedacht.
Dämmerung senkt sich allmählich wie Gaze, Schon hat die Venus die Wache gestellt.
Nur noch ein Stündchen! Dann nimmt sich die Strasse, Trennt, was sich hier aneinander gesellt:
Reiche Familien, Bankiers, Kavaliere, Landrat, Gelehrter, ein Prinz, Offiziere, «Damen und Herren», ein Dichter im Schwarm, Liebliche Kinder mit Spielzeug im Arm.
Nun ist das Dunkel dämonisch gewachsen, In den Coupés brennt die Gasflamme schon, Fortfortfortfortfortfort, glühende Achsen, Schrillt ein Signal, klingt ein wimmernder Ton?
Fortfortfortfortfortfort, steht an der Kurve, Steht da der Tod mit der Bombe zum Wurfe?
Halthalthalthalthalthalthalthalthaltein –
Ein andrer Zug fährt mitten hinein. Folgenden Tags, unter Trümmern verloren, Finden sich zwischen verkohltem Gebein, Finden sich schuttüberschüttet zwei Sporen, Brennscheren, Uhren, ein Aktienschein, Geld, ein Gedichtbuch: «Seraphische Töne», Ringe, ein Notenblatt: «Meiner Camöne», Endlich ein Püppchen, im Bettchen verbrannt, Dem war ein Eselchen vorgespannt.
Aus: Bunte Beute. Verlag Schuster & Loeffler, Berlin/Leipzig 1903.
Acherontisches Frösteln
Detlev von Liliencron
Schon nascht der Star die rote Vogelbeere, Zum Erntekranz juchheiten die Geigen. Und warte nur, bald nimmt der Herbst die Schere Und schneidet sich die Blätter von den Zweigen. Dann ängstet in den Wäldern eine Leere, durch kahle Äste wird ein Fluss sich zeigen, Der schläfrig an mein Ufer treibt die Fähre, Die mich hinüberholt ins kalte Schweigen.
Aus: Neue Gedichte von Detlev Liliencron. Verlag Wilhelm Friedrich, Leipzig 1892.