marie 69/ März 2022

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Mittendrin in V

STURSCHÄDEL WIR

Text: Hans Platzgumer, Illustrationen: Prawny via pixabay

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or Jahren arbeitete ich am Schauspiel Frankfurt an der Theaterinszenierung „Die Sturheit“ von Raphael Spregelburd. Thematisch fühlte ich mich zu dem Stück hingezogen, bald aber musste ich feststellen, dass es genausogut einen anderen Titel tragen hätte können. Hier versammelten sich keine starrsinnigeren Protagonisten auf der Bühne als in anderen Theaterstücken oder im echten Leben auch. Dennoch blieb mir ein Satz aus „La Terquedad“, wie das Stück im argentinischen Original hieß, bis heute in Erinnerung. Er beschreibt die Läuterung, in die das Stück am Ende mündet. Eine Erkenntnis, in der sich die namensgebende Dickköpfigkeit nach langer, allzu verbissen betriebener Hartnäckigkeit endlich auflöst: „Man sucht das Richtige, und währenddessen findet man andere Dinge.“ Oft rufe ich mir diesen Satz ins Gedächtnis. Oft wünsche ich mir, alle Menschen würden das tun. So ehrgeizig und hartnäckig wir unterschiedliche Ziele verfolgen, so wichtig ist es, diese Ziele immer wieder nachzujustieren. Schlagen wir einen Pfad ein, müssen wir, anstatt ihn starr zu verfolgen, regelmäßig überprüfen, ob er nicht in eine Sackgasse geführt hat. Gerade in pandemischen Zeiten ist es unabdingbar, die eigenen Überzeugungen immer wieder zu hinterfragen. Denn das, womit wir zu tun haben, ändert sich andauernd. Sind wir nicht bereit, uns und unsere Meinungen zu ändern, bleiben wir früher oder später abgehängt zurück. Wir denken dann womöglich gar nicht mehr darüber nach, was wir eigentlich meinen, sondern verteidigen es lediglich. Wer nie von seinem Weg abkommt, bleibt auf der Strecke. Vielleicht haben wir wie in „La Terquedad“ das Richtige gesucht, den anderen Dingen, auf die wir währenddessen aber stoßen hätten können, verschlossen wir uns aber. In einer alles umfassenden Krise wie der Corona-Pandemie ist es die immerwährende Aufgabe sowohl jeder Regierung wie jedes Ein-

zelnen, beharrlich konstruktive Lösungen zu suchen und Strategien zu entwickeln, um die Krise zu überwinden. Gleichzeitig müssen wir auf dem Weg zu diesem Ziel all jenes im Blick behalten, das sich um uns herum verändert, und unsere Haltung, gegebenfalls auch unser Ziel, ständig neu einordnen, neu definieren. Kollateralschäden können größer werden als der Schaden, den wir eigentlich abwenden wollten. Eine Pandemie ist ein ständiges Abwägen der Verhältnismäßigkeit. Dinge stehen sich nicht starr gegenüber, sie stehen in Relation zueinander. Manches haben wir zuerst womöglich übersehen oder unterschätzt, anderes wiederum überschätzt. Eine Pandemie ist weltpolitisch wie auf persönlicher Ebene eine nicht enden wollende Gratwanderung. Die Sturheit ist auf einer solchen Reise ein mieser Weggefährte. Sie beweist keine Stärke, sondern eher das Gegenteil. Als es vor genau zwei Jahren losging mit Corona und unsere Welt plötzlich in dieses große, wenngleich mikroskopisch winzige Unbekannte stürzte, damals in den ersten Tagen dieser Pandemie, da machte

es den Anschein, als ob unserer Sturheit ein Ende gesetzt wird. Mit einem Schlag änderte sich alles. Plötzlich schien alles möglich. Sogar rechtskonservative Politiker wie unser damaliger Bundeskanzler ließen sich zu Aussagen hinreißen wie: „Wir werden von nun an unsere Lebensführung vollständig ändern müssen.“ Der bayerische Ministerpräsident rundete Ähnliches mit einem Stoßgebet und den Worten „Gott schütze unsere Heimat“ ab. Unser Wissen hatte ein jähes Ende gefunden, nun stürzte man sich notgedrungen auf den Glauben. Der Wiener Erzbischof Kardinal Schönborn referierte in der Zeit-Im-Bild-Hauptausgabe ausführlich darüber, dass das Virus keine Strafe Gottes, aber womöglich ein Zeichen Gottes sei. Papst Franziskus legte einen Sondersegen „Urbi et orbi“ im strömenden Regen auf dem menschenleeren Petersplatz ein. Vor dem Haupttor der Peterskirche wurde das wundertätige „Pestkreuz“ aufgestellt, und der slowakische Generalvikar Brodek bestieg ein Flugzeug und flog ein mittelalterliches Tuch, das mit Jesu Christis Blut getränkt sein sollte, über das ganze Land. In der Konfrontation mit dem bislang unbekannten Gegenspieler trat ein Gottvertrauen hervor, das dem modernen, aufgeklärten Menschen und seiner ganz aufs Irdische beschränkten Weltsicht eigentlich widersprach. Und nicht nur an dieses und jenes begannen die Menschen in ihrer Verunsicherung zu glauben, auch gelobten sie augenblicklich Besserung. Ähnlich Neujahrsvorsätzen wollten wir von nun an gesünder und achtsamer leben, rücksichtsvoller miteinander umgehen, mehr lesen, mit dem Rauchen aufhören oder we-


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