10 minute read

Sturschädel wir

22 |

Text: Hans Platzgumer, Illustrationen: Prawny via pixabay

Advertisement

Vor Jahren arbeitete ich am Schauspiel Frankfurt an der Theaterinszenierung „Die Sturheit“ von Raphael Spregelburd. Thematisch fühlte ich mich zu dem Stück hingezogen, bald aber musste ich feststellen, dass es genausogut einen anderen Titel tragen hätte können. Hier versammelten sich keine starrsinnigeren Protagonisten auf der Bühne als in anderen Theaterstücken oder im echten Leben auch. Dennoch blieb mir ein Satz aus „La Terquedad“, wie das Stück im argentinischen Original hieß, bis heute in Erinnerung. Er beschreibt die Läuterung, in die das Stück am Ende mündet. Eine Erkenntnis, in der sich die namensgebende Dickköpfigkeit nach langer, allzu verbissen betriebener Hartnäckigkeit endlich auflöst: „Man sucht das Richtige, und währenddessen findet man andere Dinge.“ Oft rufe ich mir diesen Satz ins Gedächtnis. Oft wünsche ich mir, alle Menschen würden das tun. So ehrgeizig und hartnäckig wir unterschiedliche Ziele verfolgen, so wichtig ist es, diese Ziele immer wieder nachzujustieren. Schlagen wir einen Pfad ein, müssen wir, anstatt ihn starr zu verfolgen, regelmäßig überprüfen, ob er nicht in eine Sackgasse geführt hat.

Gerade in pandemischen Zeiten ist es unabdingbar, die eigenen Überzeugungen immer wieder zu hinterfragen. Denn das, womit wir zu tun haben, ändert sich andauernd. Sind wir nicht bereit, uns und unsere Meinungen zu ändern, bleiben wir früher oder später abgehängt zurück. Wir denken dann womöglich gar nicht mehr darüber nach, was wir eigentlich meinen, sondern verteidigen es lediglich. Wer nie von seinem Weg abkommt, bleibt auf der Strecke. Vielleicht haben wir wie in „La Terquedad“ das Richtige gesucht, den anderen Dingen, auf die wir währenddessen aber stoßen hätten können, verschlossen wir uns aber. In einer alles umfassenden Krise wie der Corona-Pandemie ist es die immerwährende Aufgabe sowohl jeder Regierung wie jedes Einzelnen, beharrlich konstruktive Lösungen zu suchen und Strategien zu entwickeln, um die Krise zu überwinden. Gleichzeitig müssen wir auf dem Weg zu diesem Ziel all jenes im Blick behalten, das sich um uns herum verändert, und unsere Haltung, gegebenfalls auch unser Ziel, ständig neu einordnen, neu definieren. Kollateralschäden können größer werden als der Schaden, den wir eigentlich abwenden wollten. Eine Pandemie ist ein ständiges Abwägen der Verhältnismäßigkeit. Dinge stehen sich nicht starr gegenüber, sie stehen in Relation zueinander. Manches haben wir zuerst womöglich übersehen oder unterschätzt, anderes wiederum überschätzt. Eine Pandemie ist weltpolitisch wie auf persönlicher Ebene eine nicht enden wollende Gratwanderung. Die Sturheit ist auf einer solchen Reise ein mieser Weggefährte. Sie beweist keine Stärke, sondern eher das Gegenteil.

Als es vor genau zwei Jahren losging mit Corona und unsere Welt plötzlich in dieses große, wenngleich mikroskopisch winzige Unbekannte stürzte, damals in den ersten Tagen dieser Pandemie, da machte es den Anschein, als ob unserer Sturheit ein Ende gesetzt wird. Mit einem Schlag änderte sich alles. Plötzlich schien alles möglich. Sogar rechtskonservative Politiker wie unser damaliger Bundeskanzler ließen sich zu Aussagen hinreißen wie: „Wir werden von nun an unsere Lebensführung vollständig ändern müssen.“ Der bayerische Ministerpräsident rundete Ähnliches mit einem Stoßgebet und den Worten „Gott schütze unsere Heimat“ ab. Unser Wissen hatte ein jähes Ende gefunden, nun stürzte man sich notgedrungen auf den Glauben. Der Wiener Erzbischof Kardinal Schönborn referierte in der Zeit-Im-Bild-Hauptausgabe ausführlich darüber, dass das Virus keine Strafe Gottes, aber womöglich ein Zeichen Gottes sei. Papst Franziskus legte einen Sondersegen „Urbi et orbi“ im strömenden Regen auf dem menschenleeren Petersplatz ein. Vor dem Haupttor der Peterskirche wurde das wundertätige „Pestkreuz“ aufgestellt, und der slowakische Generalvikar Brodek bestieg ein Flugzeug und flog ein mittelalterliches Tuch, das mit Jesu Christis Blut getränkt sein sollte, über das ganze Land. In der Konfrontation mit dem bislang unbekannten Gegenspieler trat ein Gottvertrauen hervor, das dem modernen, aufgeklärten Menschen und seiner ganz aufs Irdische beschränkten Weltsicht eigentlich widersprach. Und nicht nur an dieses und jenes begannen die Menschen in ihrer Verunsicherung zu glauben, auch gelobten sie augenblicklich Besserung. Ähnlich Neujahrsvorsätzen wollten wir von nun an gesünder und achtsamer leben, rücksichtsvoller miteinander umgehen, mehr lesen, mit dem Rauchen aufhören oder we-

niger Ressourcen verbrauchen. Durch fast alle Lager war man sich einig: So wie bisher durfte es nicht weitergehen. Die Sturheit, das unbeirrbare Festhalten an alten Überzeugungen, endlich war es durchbrochen. Nun hätte unser Blick frei werden können. Nicht mehr zwischen immer enger gespannten Scheuklappen hätten wir nur geradeaus schauen können, sondern plötzlich wieder in alle Richtungen. Mich ergriff die Dimension dieses Einschlags. Endlich wurde gründlich alles auf den Kopf gestellt. Das war bitter nötig, nachdem unsere Welt in den düsteren 2010er-Jahren, angetrieben von einem entmenschlichten Wirtschaftssystem und rechtspopulistischer Propaganda, an den Abgrund gerutscht war. Ich machte mich bereit dazu, alles zu hinterfragen, was ich mir in einem halben Jahrhundert Dasein bis dahin zurechtgelegt hatte. Die Menschheit als Gesamtes war an einem Punkt angelangt, wo augenscheinlich wurde, dass das Leben, das wir mittlerweile geführt hatten, nicht länger funktionieren konnte. Die Prä-Corona-Welt war in ein kapitalistisches Kamikazeprojekt ausgeartet, hatte aus grenzenloser Ausbeutung, Zerstörung, Diskriminierung, aus rasender Ungleichheit, dreisten Behauptungen und chauvinistischem Eigensinn bestanden. Unser Weltordnungssystem hatte die Welt in weiten Teilen zur Hölle gemacht, hatte das Klima des Planeten zum Kippen gebracht, einen Landstrich nach dem anderen verwüstet und zu himmelschreiender Ungerechtigkeit, Armut, Elend und nicht enden könnenden Flüchtlingsströmen geführt. Die vom Bulletin Board der Atomwissenschaftler ins Leben gerufene „Weltuntergangsuhr“, die seit 1947 die aktuelle Gefahr der Selbstauslöschung unserer Zivilisation durch Krieg oder Klimakatastrophen symbolisierte, war auf „100 Sekunden vor Zwölf“ gestellt worden. So nah der Apokalypse waren wir nie zuvor gekommen. Als es losging mit Corona musste jeder, der sich im Entferntesten Gedanken über unsere Lebensweise gemacht hatte, zu dem Schluss gekommen sein, dass es so nicht weiterging. Wir waren am Ende der Sturheit angekommen.

Im ersten Schock meinten wir es wohl wirklich ernst. Unsere Sichtweise war erschüttert. Jetzt war ein Wendepunkt erreicht, wohin auch immer, wenigstens endlich ein Wendepunkt. Entscheidungen mussten schnell getroffen werden, das stand außer Frage. Dass übereilt gefällte Entscheidungen sich selten als die besten herausstellen, war ebenso klar. Wie immer man nun handelte, man musste bereit sein, sein Handeln zu korrigieren. In dieser ersten, offensten Phase der Pandemie hatte Österreich einen Gesundheitsminister, der nicht davor zurückschreckte, sein Irren öffentlich zuzugeben. Viele rechneten ihm dies hoch an. Im Lauf der Zeit aber wurde er von der andauernden Unklarheit zermalmt, die ihn gleich wie die gesamte Gesellschaft von außen und innen her zerriss. Ein Leben jenseits von Sturheit ist anstrengender als eines, in dem ich immer davon ausgehe, im Recht zu sein. Und wahrlich anstrengend wurde sie auf Dauer, diese Pandemie, zermürbend, ernüchternd, erschlagend, für jeden von uns. Nach und nach entglitt uns die Perspektive, nach wie vor weiß heute niemand, wohin die Reise geht. Experten und Laien stellen Mutmaßungen an, manche behaupten zu wissen, was kommen wird, im Sommer, im Herbst, wann immer. Letztendlich sind sich die Menschen nur mehr darin einig darin, dass es unsicher ist, wohin wir steuern. Wir wissen, dass wir es nicht wissen, wenigstens das. Doch die Demut der ersten Tage dieser Pandemie, sie hielt nicht lange an. Unsere Geduld, Leidensfähigkeit, unser Durchhaltevermögen war beschränkt. Bald hatten wir es satt anzuerkennen, dass wir nicht wussten, was vor sich ging. Und in Ermangelung der einen großen einenden, alles sichernden Erzählung verstrickten wir uns in eine Vielzahl von Erzählungen, die alle ebenso wahr wie unwahr sein hätten können. Der rasante digitale Fortschritt hatte ein Labyrinth von gesichertem und ungesichertem Wissen um uns herum bereitgestellt. Notgedrungen, in Ermangelung anderer Optionen verschanzten wir uns dort. Infinite Scrolls von Angeboten und Versprechungen, von Erklärungen und Verführungen führten uns immer weiter hinein in jene Bereiche, wo Gerüchte als Tatsachen und Meinungen als Fakten gehandelt werden. Aus Bequemlichkeit, aus Mangel an Zeit, Mangel an Geduld, wegen dem Defizit an Aufmerksamkeit, das den modernen Menschen prägt, sitzen wir in diesen Irrgärten fest. Mitgenommen dorthin haben wir den alten Wegbegleiter, die Sturheit, „La Terquedad“. Auch wenn die Welt um uns herum zusammengekracht ist und jetzt vollkommen neu zusammengesetzt werden müsste, wir verlassen uns auf das, was uns von früher vertraut ist und klammern das andere aus. Die Welt, die vor unseren Augen auseinandergefallen ist, wir setzen sie nun, jeder für sich, wieder aus jenen Bausteinen zusammen, auf die wir immer schon vertraut hatten.

Als Tiroler habe ich seit meiner Geburt jede Menge Erfahrungen mit dem sturen Festhalten an Überzeugungen sammeln können. Sturheit wird im heiligen Landl weniger abwertend angesehen als anderswo. In Tirol wird ein Starrsinn häufig mit Charakterstärke gleichgestellt. Das Starrsein ist in ein Starksein eingebettet. Es ist kein Zufall, dass auch das Stursein denselben etymologischen Ursprung hat. Starr, stur, stark, störrisch, stolz, all dies war in meiner Sozialisation in den Tiroler Bergen eng miteinander verwoben, >>

| 23

24 |

es war nicht negativ belastet, sondern deutete Standsicherheit an, Festigkeit, Authentizität. Es mag dies mit den topografischen Gegebenheiten zusammenhängen. In den Bergen wurden keine Kompromisse gesucht, sondern Entscheidungen ausgerufen, die – das ist Grundlage jedes konservativen Denkens – in einer Tradition mit bereits in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen zu stehen hatten. Über Generationen hinweg sollte und durfte sich nichts ändern. Mein Großvater war der erste Landesparteiobmann der Tiroler Volkspartei. Seine Weltsicht vererbte er seinem gleichnamigen Sohn, meinem Vater. Ungebrochen zieht sie sich bis zum heutigen Tiroler Landeshauptmann. Was manche stur, gar starrköpfig nennen, wird in diesem Umfeld als treu den eigenen Werten gegenüber verstanden. Ich, ebenso von meinen Genen zur Sturheit verdammt, wechselte ab der Pubertät ins genau konträre Lager, jenes, das von Populisten heutzutage gerne als linksradikal oder anarchistisch bezeichnet wird. Gleich starr wie die anderen harrte ich dort aus. Mit einem Pflasterstein in der Hand stand ich bei Straßenunruhen meinem Bruder gegenüber, der Polizist war. Wir beide rückten keinen Zentimeter von unseren Anschauungen ab. Die heute vielzitierte gespaltene Gesellschaft gab es bereits in meiner Jugend und natürlich schon lange davor. Die Sturheit ebenso. Nur ist darüberhinaus heute alles so schrecklich unübersichtlich geworden. Die Pandemie hat endgültig alles durcheinandergebracht. Nun stehen die Rechten mit Pflastersteinen auf der Straße, hinter ihnen marschieren Esoteriker und redliche Humanisten auf, und eine ehemals aus aufmüpfigen linken Autonomen hervorgegangene Partei sitzt in der Regierung, vereint mit den Nachfolgern meines Großvaters, die seit Jahren immer unverhohlener den Schwenk zum nackten Rechtspopulismus vollziehen.

Könnte man all dies vielleicht als Biegsamkeit deuten, als Flexibilität, als Offenheit, Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln? Es hat doch etwas Positives, könnte man meinen, wenn sich Grenzen auflösen und kein klares Gut und Schlecht, Falsch und Richtig mehr erkennbar ist, wenn alles nur mehr Schattierungen ein und derselben Sache sind. Man könnte aufhören, sich anzufeinden, weil kaum mehr eindeutig feststellbar ist, wer Feind oder Freund ist – wenn da nicht die Sturheit wäre! Im Chaos der Pandemie, inmitten all der Auflösung, drücken wir uns fest an die Unnachgiebigkeit, gerade so, als gäbe wenigstens sie uns Halt, wo uns doch sonst alles zu entgleiten droht. Je unübersichtlicher es draußen wird, desto starrköpfiger verteidigen wir unsere kleinen Weltsichten. Vielleicht weiß einer gar nicht mehr, warum sich eine gewisse Anschauung in ihm gebildet hat, Hauptsache, er bleibt felsenfest dabei. So gut die Argumente seines Gegenübers sein könnten, er will nicht mehr hinhören, er hat sich bereits die Meinung gebildet. Ein Rigorismus im Sinne Kants hat sich breit gemacht, gerade zu einer Zeit, in der wir ihn so gar nicht gebrauchen können. Laut Kants Sittenlehre gilt es, moralischen Mitteldingen weder in Handlungen noch in menschlichen Charakteren Raum zu geben, denn durch Doppelsinnigkeit drohen Leitsätze, ihre Bestimmtheit und Festigkeit zu verlieren. Sind wir wieder im 18. Jahrhundert angekommen? Sind die Ireniker, die zuvor auf das Verbindende statt das Trennende gesetzt hatten und für offenen Diskurs einstanden, sind sie in Vergessenheit geraten? Und wo sind die Relativisten geblieben, die wir heute, da alles immer schneller in neue Zusammenhänge zu bringen wäre, so dringend benötigen würden? Ist genau deshalb, weil jedes Blatt sich heute so schnell wandelt, im Tumult der Pandemie das Bedürfnis nach Unnachgiebigkeit gestiegen? Derzeit erfolgreiche autoritäre Politiker wie Xi Jinping oder Putin scheinen dies zu bestätigen. Die Volksweisheit vom Klügeren, der nachgebe, scheint jedenfalls nicht mehr zu zählen. Nach anfänglicher kurzer Öffnung scheint wieder jeder, festgefahren in seinen Mustern, dort stehen zu bleiben, wo er bereits vor der Pandemie auf der Stelle trat. Von dort bewegen wir uns nicht mehr weiter, weichen nicht ab von zementierten Standpunkten, wollen nicht hören, was andere zu sagen haben. Gerade in einer Krise von solcher Dimension wie der Corona-Pandemie erreicht die Gesellschaft ein Stadium großer Unflexibilität. Jetzt, wo wir die Sturheit am wenigsten gebrauchen können, nimmt sie uns ein. Das Coronavirus hat uns eine einmalige Chance geboten, alles in und um uns zu überdenken und endlich mit grundlegender Veränderung anzufangen, aber wir sind im Bann des Starrsinns gefangen. Sturschädel wir, elendigliche. So können wir nicht vorankommen. Das dritte Jahr in Folge steht die Weltuntergangsuhr nun schon auf 100 Sekunden vor Zwölf. Angesichts unseres Verhaltens ist es eine Überraschung, dass sie nicht noch weiter vorgerückt wurde. Corona hat uns bislang, so scheint es, kein bisschen weitergebracht. Im Gegenteil. Es hat das Ungleichgewicht der Welt potenziert, die Reichen reicher und Armen ärmer gemacht, die Dummen dümmer, die Gierigen gieriger. Und die Sturen immer sturer.

This article is from: