marie 67/ Jänner 2022

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Mittendrin in V

WIESO MEIN GEHIRN GERNE GLÜCKLICH IST UND WARUM ICH PROBLEME BRAUCHE Zum Jahreswechsel wird manch eine nachdenklich. Manch einer sucht, heimlich, Antwort in einem Ratgeber der boomenden „Glücksratgeberindustrie“. Die Autorin dieser Zeilen, leicht philosophisch angehaucht, stößt zufällig auf einen Podcast des Hirnforschers Gerald Hüther. Anstelle von Tipps erfährt sie, was Glück neurobiologisch bedeutet und weshalb ihr Gehirn – ob sie will oder nicht – danach strebt. Text: Christina Vaccaro, Foto: iStock

„GLÜCK IST KEIN GESCHENK DER GÖTTER, 6|

SONDERN DIE FRUCHT INNERER EINSTELLUNG.“ Erich Fromm, Psychoanalytiker

Z

uerst die schlechte Nachricht: „Solange wir lebendig sind, wird uns immer etwas stören.“ Dieser Satz stammt vom deutschen Hirnforscher Gerald Hüther, der sich intensiv mit dem Thema Glück beschäftigt. Diese Erkenntnis ist mir nicht neu und in zahlreichen Zitaten anderer Denker wiederzufinden. Dennoch schadet es nicht, sich diese Eigenheit des Menschen immer wieder herzuholen – nicht als abstrakte Denke, sondern ganz konkret. In meinem Fall zum Beispiel: Auch wenn mich Person X momentan auf die Palme bringt, werde ich nicht glücklicher sein, wenn ich von ihr Abstand gewinne. Denn garantiert findet mich jemand anderer, der mich nervt. Oder: Auch wenn mein letztes Feldexperiment im Rahmen meines Forschungsprojektes vorbei sein wird und ich mir erhoffe, dass mein Leben fortan entspannter sein wird, wartet ganz bestimmt die nächste fordernde Aufgabe auf mich. Deprimierend? Nicht so vorschnell. Hüther definiert Glück als einen Zustand, „wo alles richtig gut zusammenpasst. Wo die Erwartungen mit den Realitäten übereinstimmen, wo das Denken, Fühlen und Handeln eine Einheit bilden.“ Diesen Zustand nennt der Neurobiologe, etwas sperrig, Kohärenz im Hirn. Er meint damit, dass in uns Ordnung zwischen dem Außen (Realität) und Innen (Erwartung) besteht und dass das, was wir tun, auch mit dem übereinstimmt, was wir denken und fühlen. Dieser Zustand ist günstig – es ist ein Zustand unseres Gehirns, der ganz wenig Energie verbraucht. Gibt es Glück nur als Wimpernschlag zwischendurch? Die gute Nachricht: Nein, denn „es gibt Menschen, die sind im Leben glücklich – nicht nur im Augenblick“, also nicht nur dann, wenn gerade zufällig alles passt. Diese Menschen zeichnen sich darin aus, offen zu sein für alles, was an Problemen auf sie zukommt. Das tönt unsympathisch platt, ein bisschen zu einfach, ich weiß. Aber jedes Mal, wenn ich mir bewusst mache, dass „Probleme“ – Personen, die mich nerven, Arbeitstage, die (zu) lange, Aufgaben, die (zu) komplex sind – NICHT die Ursache meiner gefühlten Unzufriedenheit sind, sondern nur das Ergebnis meiner inneren Unstimmigkeit zwischen Realität und Erwartung, dann geht es mir tatsächlich jedes Mal besser.


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