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Das ist absurd”
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Michael Hämmerle ist Leiter der ambulanten Wohnungslosenhilfe Kaplan Bonetti. Die marie sprach mit dem 34-Jährigen über steigende Wohnkosten, den Ausbau von mehr leistbarem Wohnraum und die finanziellen Auswirkungen auf die Abschaffung der Mindestsicherung.
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Interview: Frank Andres, Foto: Markus Gmeiner für Kaplan Bonetti
Im Dezember zieht man traditionellerweise Bilanz über das vergangene Jahr. Wie ist diese heuer berufsmäßig ausgefallen? Michael Hämmerle: Durchwachsen. Als Einrichtung sind wir bisher relativ gut durch die Corona-Pandemie gekommen. Gleichzeitig kämpfen wir aber mit den Herausforderungen der Krise. Wir sind bereits zu Beginn der Pandemie als systemerhaltender Beruf eingestuft worden. Da gab es noch keine Masken oder Desinfektionsmittel. Man wusste noch nicht, wie gefährlich die Krankheit tatsächlich ist. Durch die Impfung hat sich die Situation aber inzwischen so weit entspannt, dass wir uns und unsere Klient*innen schützen können. Aber in diesem Jahr hat sich durch die gestiegene Arbeitslosigkeit gesellschaftlich viel gewandelt. Wir mussten vermehrt Menschen helfen, damit sie zu ihren Unterstützungszahlungen kommen.
Wie sehr hat sich Ihre Arbeit in diesem Jahr verändert? Die Themen sind im Prinzip dieselben geblieben. Wir kümmern uns nach wie vor um Menschen, denen eine Delogierung droht, weil sie die Wohnung nicht mehr zahlen können. Oder wir helfen Menschen, die in ungeeigneten Wohnungen wohnen, wie beispielsweise gehbehinderten Personen, die in einer Wohnung im dritten Stock ohne Lift leben. Aber wir kümmern uns auch um Menschen, die auf dem Mietmarkt keine bezahlbare Unterkunft finden. Wenn wie heuer vermehrt Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit dazukommen, macht es die Situation für viele schwerer.
Ist dadurch die Zahl von Klient*innen in der Beratungsstelle gestiegen? Nein. Das hat aber auch damit zu tun, dass die Politik viel Geld in die Hand genommen hat, um Menschen in wirtschaftlicher Not finanziell zu unterstützen. Wir gehen aber davon aus, dass die Zahl von Personen mit Mietrückständen steigen wird. Viele Menschen leben noch von ihrem Erspartem. Noch ist von einer gestiegenen Zahl an Delogierungen nichts zu spüren. Aber ich befürchte, das kommt zeitverzögert. Es gibt immer weniger leistbaren Wohnraum. Die Preise für Mieten und Eigentum steigen exorbitant. Das trifft nicht nur armutsgefährdete Menschen. Wie kann dieser Entwicklung entgegengewirkt werden? Es braucht ganz massive Anstrengungen zum Ausbau des gemeinnützigen Wohnraums. Dieser bietet die Chance, dass Menschen dort langfristig wohnen können. Und zwar zu Mietpreisen, die zum Teil deutlich günstiger sind als auf dem privaten Wohnungsmarkt. Auch Menschen, die sich jetzt noch knapp eine Eigentumswohnung leisten können, können das in zehn, fünfzehn Jahren wahrscheinlich nicht mehr. Das hilft allerdings nicht kurzfristig. Mit der Wohnbeihilfe haben wir einen Hebel, um schnell zu reagieren.
Heuer wurde die Mindestsicherung abgeschafft. Es gibt wieder eine Sozialhilfe. Was bedeutet diese Umstellung konkret? De facto verliert nahezu jede Haushaltskonstellation dadurch Geld. Besonders hart trifft es vor allem kinderreiche Familien und nicht-österreichische Staatsbürger. Und wenn ich dann vor Kurzem über die Medien mitbekomme, dass in Lebensmittel-Geschäften für Tischlein-deck-dich gesammelt wird, weil der Bedarf so enorm steigt, dann halte ich das für absurd. Denn auf der einen Seite wird den Armen das Geld gekürzt und auf der anderen Seite sammeln wir vor Weihnachten Lebensmittel für genau diese Menschen.
Die Koalition hat kurz vor Weihnachten im Nationalrat einen Teuerungsausgleich beschlossen. Konkret vorgesehen ist eine Einmalzahlung von 150 Euro, von der Arbeitslose, Mindestsicherungs-, Ausgleichszulagen- und Studienbeihilfenbezieher sowie Mobilitätsstipendiaten profitieren sollen. Was halten Sie davon? Es ist eine nette Geste und hilft den Menschen sicher. Mit 150 Euro kann ich zum Beispiel die Betriebskosten-Nachzahlung bezahlen. Aber am Grundproblem wird da nichts gelöst. Ich frage mich, warum wird stattdessen bei den derzeit stark steigenden Energiepreisen nicht einfach ein dauerhafter Heizkostenzuschuss gewährt. Oder warum wird die Wohnbeihilfe nicht so ausgestattet, dass mehr Menschen davon profitieren.
Zur Person: Michael Hämmerle (34), Absolvent des Studiengangs Soziale Arbeit an der FH Vorarlberg, arbeitet seit 2011 in der ambulanten Wohnungslosenhilfe Kaplan Bonetti. Seit 2014 ist er der Leiter der Beratungsstelle in Dornbirn.
Beratungsstelle Kaplan Bonetti
Viele Familien kämpfen derzeit mit den steigenden Mietpreisen und stagnierenden Löhnen – die finanziellen Engpässe drohen in Wohnungsverlust zu münden. Die Mietpreise bewegen sich in Vorarlberg auf ein Niveau zu, das viele von vornherein ausschließt. Bei den Gemeinden gibt es lange Wartelisten für eine gemeinnützige Wohnung. Derzeit werden ungefähr 1400 Haushalte im Jahr im Bezirk Dornbirn beraten und betreut. Ziel ist es, die Situation umfassend zu klären, etwa welche finanziellen Unterstützungen in Frage kommen. Viele Menschen wissen beispielsweise gar nicht, dass sie einen Wohnbeihilfe- oder Sozialhilfeanspruch haben.
Adresse: Klaudiastraße 6/1. Stock, Dornbirn Infos unter 05572/ 230 61-40 oder per E-Mail unter beratung@kaplanbonetti.at Öffnungszeiten: Montag bis Freitag, jeweils von 8.30 bis 12 Uhr. Um Terminvereinbarung wird gebeten. Im Buch „Jedes Leben“ erzählen zehn mutige Menschen ihre Lebensgeschichten. Es ist zum Jubiläum „Zehn Jahre Kaplan Bonetti Beratungsstelle“ im Jahr 2019 erschienen. Die marie veröffentlicht eine dieser Geschichten (nächste Doppelseite). Zu kaufen gibt es das Büchlein um 13 Euro bei Kaplan Bonetti. E-Mail: office@kaplanbonetti.at T: 05572 230 61
Text: Daniela Egger