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Wenn einer eine Reise tut... Die Reiselust scheint dem Menschen angeboren zu sein. Das Einzige, was sich geändert hat, sind die technischen Hilfsmittel: Ohne Auto, Bus, Bahn oder Flugzeug geht heute gar nichts mehr. Aber die Motive sind seit Jahrhunderten dieselben: Raus aus den vier Wänden, wieder einmal etwas Anderes sehen und erleben, neue Erfahrungen und Eindrücke sammeln. Text: Gerhard Thoma, Foto: Archiv
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ahre Musterexemplare in Sachen Reiselust sind die Menschen im Mittelalter, und hier vor allem die Städter. Eingepfercht in enge Gassen und kleine Wohnungen, deren Fenster nur wenig Licht spendeten, sehnten sie sich nach Abwechslung. Sie wollten raus aus dem alltäglichen Trott, raus aus der Eintönigkeit, Dunkelheit und Langeweile. Andere Gesichter, andere Städte und Länder sehen. Immer dieselben Häuser, dieselben Nachbarn, dieselbe Arbeit, dieselbe Kirche, dieselben Sünden – immer der gleiche Tag. So finden wir große Teile der Bevölkerung auf Wanderschaft: Handwerker, Kaufleute, Soldaten und Söldner, Baumeister, Künstler, Dichter, Sänger, Schriftsteller, Philosophen, Bauern und Landarbeiter, Adlige, Mönche und Geistliche, Wissenschaftler und Studenten, Ärzte, Pilger etc. Ihre Reisen führen sie quer durch Europa. Reisepass gibt es keinen, weil es keine Grenzkontrollen gibt. Natürlich ist es auch völlig egal, welche Nationalität ein Reisender hat. Entscheidend ist, was er kann oder zu bieten hat. Nationalismus, wie wir ihn heute kennen, war damals unbekannt. Quartier finden die Reisenden bei Ihresgleichen, Gesellen und Meister zum Beispiel reisen von Zunfthaus zu Zunfthaus, Leute der geistlichen Orden von Kloster zu Kloster, Bischöfe von Pfarre zu Pfarre, Adlige von Burg zu Burg. Überhaupt verlassen sich viele auf die mittelalterliche „Brüderlichkeit“ und lassen ihre persönlichen Beziehungen spielen. Herbergen bieten eine karge Unterkunft, aber immerhin eine heizbare Gaststube und Schlafzimmer. Gastwirte sind Vertrauenspersonen und genießen hohes Ansehen.
Von Neugier getrieben
Dem Reisenden geht es nicht um einen „Urlaubstrip“, um zu „relaxen“ und „die Seele baumeln“ zu lassen, um sich danach vielleicht als derselbe Mensch wieder im Hamsterrad zu drehen. Ihm geht es um die bewusste Erweiterung des Horizonts, um seinem Leben neue Impulse zu geben. Die Leute reisen getrieben von der Neugier, zu erfahren, wie andere Leute denken und leben. Reisen bedeutet für den mittelalterlichen Menschen immer, in Kontakt mit Einheimischen zu treten. Anders geht es gar nicht, weil es keine Medien gibt. Statt Zeitung, Facebook und Twitter ist Zuhören angesagt: Jeder Fremde gilt als wichtiger Zuträger von Nachrichten und Neuheiten. Wo ein Fremder halt macht, wird er ausgefragt, man achtet auf ihn und hört ihm zu. Häufig passiert es, dass ein Reisender zum Reden gezwungen wird. Kommt etwa ein reisender Kaufmann in eine Stadt, wird er von einer Volksmenge umzingelt. Dann muss er laut erzählen, woher er kommt und was sich in seiner Heimat und auf seiner Reise ereignet hat. Ähnlich berichtete schon Caesar, dass die Galllier gewohnt seien, Reisende gegen ihren Willen anzuhalten und auszufragen, was sie gehört und beobachtet haben. Reisende und Gastgeber sind angewiesen auf die mündliche Nachrichtenweitergabe. Die Vermittlung von Nachrichten ist noch kein Geschäft. Zeitungen tauchen erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf. Bis dahin gibt es nur persönliches Hören und Sehen, und es kann dauern, bis eine Nachricht eintrifft: Am 29. Mai 1453 wurde Konstantinopel von den Osmanen eingenommen, genau einen Monat später trifft die Meldung im 1400 Kilometer entfernten Venedig ein,
im Juli in den österreichischen Landen. Für damalige Verhältnisse kam diese bestürzende Botschaft in Windeseile. Schließlich sind die meisten Reisenden entweder zu Fuß oder mit dem Pferd unterwegs. Das Pferd ist das Zeitmaß – vom 12. bis ins 18. Jahrhundert. Selbst der Kaiser nahm es gemütlich. Friedrich II. legt im Jahre 1236 auf einer Reise in Italien in zwei Tagen und einer Nacht 120 Kilometer zurück. Inklusive Rast galoppierte er mit 6 bis 7 km/h dahin. Anders die berühmt-berüchtigten mongolischen Reiter: Die „Mongolen-Post“ ist auf Höchstgeschwindigkeit ohne Rücksicht auf das Pferd getrimmt. Reiten „im Pferdetod“ nennt man das. Mit Pferdewechsel legen die mongolischen Kundschafter an einem Tag 340 Kilometer zurück. In Europa hingegen gilt eine durchschnittliche Tagesreichweite von 25 bis 60 Kilometer als normal. Raum und Zeit spielen keine wesentliche Rolle. Nur aufs Ziel zu sehen, verdirbt die Lust am Reisen. Die Straßen freilich sind oft miserabel, fernab von der Präzision der alten Römer. Reisen ist eine staubige oder feucht-schlammige Angelegenheit. Mit einem Wagen unterwegs zu sein ist eine holprige Qual, weil die Fahrzeuge keine Federung haben. Eine beinahe mystische Funktion haben Brücken: Sie gelten nicht nur als profane Bauwerke, sondern symbolisieren den biblischen Weg zur Wahrheit und die Verbindung von hüben und drüben. Brückenbau ist höchste Ingenieurskunst. Wer beim Brückenbau oder bei der Reparatur von Brücken arbeitet, dem werden von der Kirche Ablässe gewährt. Unbeliebt und gefürchtet hingegen sind Gebirgslandschaften. Reisen über Gebirgspässe gelten als Abenteuer und alpine Abenteuer sind kein Vergnügen. Das Mittelalter ist