Erinnerungspolitik
6.1 UMBENENNUNGEN VON STRASSEN
Althergebrachte Namen von Straßen, Plätzen, Gebäuden sowie Institutionen werden mit steigender Frequenz auf den Prüfstand gestellt. Der Änderungsfuror geht dabei weit über die Rücknahme von Namensgebungen hinaus, die im Zusammenmang mit der nationalsozialistischen Diktatur oder der DDR-Diktatur stehen. Das Prozedere folgt dabei einem gleichbleibenden Muster: Dem Namensgeber werden eine aus heutiger Sicht falsche Weltanschauung oder Denkweise oder moralisch fragwürdige Taten angelastet – wenn der Name nicht ohnehin fehlgedeutet wird, weil er gegen die heutige politische Korrektheit verstößt. Die Verdienste dieser Persönlichkeiten, welche ursprünglich deren Würdigung begründeten, rücken in den Hintergrund, werden heute als Vergehen betrachtet oder in Gänze ausgeblendet. Mit dem Unwillen zu einer differenzierten Betrachtungsweise wird eine Damnatio memoriae (Verdammung der Erinnerung) praktiziert, die an die Namenstilgungen in nicht-demokratischen Staaten erinnert. Statt die Leistungen oder Verfehlungen eines Namensgebers einer Straße oder eines Platzes zum Anlass für eine kritische Diskussion zu nehmen, wird durch Verbannung des Namens auch die Chance zur öffentlichen Auseinandersetzung beseitigt. Dabei ließe sich gerade an den Namen von Straßen, Parks und Plätzen immer wieder sehr gut zeigen, dass vieles, was unsere Vorfahren getan haben, vom jeweiligen Zeitgeist bestimmt war und ebenso wenig einen Anspruch auf ewige Gültigkeit hat wie das, was wir tun. Die Einbettung von früherem und heutigem Handeln in einen jeweils anderen historischen Kontext würde so sichtbar. Aber gerade das soll offensichtlich verhindert werden. Man will sich arrogant als das bessere, moralisch saubere Deutschland darstellen. Eine kleine Elite maßt sich dabei an zu entscheiden, was aus heutiger Sicht korrekt ist und was nicht. Mit einem Lernen aus der Geschichte hat das nichts zu tun.
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