Europa aus Rasse und Raum

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Zwischen Modernisierung und Hegemonieanspruch

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Weitgehend unberührt von diesen teilweise schon sehr konkreten Plänen, die die militärisch eingeleitete, nationalsozialistische "Neuordnung" des europäischen Konti­ nents festschreiben sollten, erwies sich die Idee dieser "europäischen Neuordnung" zeitweise als äußerst tragfähige ideologische Basis. Sie machte es möglich, die mi­ litärischen Maßnahmen Deutschlands ideell abzusichem und so die letzte Konsequenz der deutschen Kriegsziele zu verschleiern. Zwar war Hitlers Politik weder "europäisch", wenn es darum ging, die Interessen und Traditionen anderer Nationen zu achten und eine echte "europäische Gemeinschaft" herzustellen,117 noch bildeten Paneuropa oder eine irgendwie geartete europäische Union das deutsche Kriegsziel. Dieses lag allein in der Eroberung von neuem "Lebensraum" für Deutschland.118Trotzdem bot es sich dabei an, die traditionelle Idee von "Europa" permanent als propagandistisches Kriegsmittel einzusetzen, sie als mögliche Alternative anzubieten, ja, sie sogar als integrativen Faktor gegenüber scheinbar gemeinsamen Feinden zu nutzen. Dieses Potential griff die na­ tionalsozialistische Wissenschaft auf, um zwar durchaus Erkenntnisse für die weitere deutsche Politik zur Verfügung zu stellen, vor allem aber um diese Politik durch "euro­ päische" Theorien "salonfähig" zu machen. Dabei entstanden dann Modelle einer politischen und wirtschaftlichen "Neuordnung" des Kontinents, die die Kriegszielpläne, die in den offiziellen Friedensvorbereitungen der verschiedenen Regierungs- und Wirtschaftsstellen entstanden, aber keineswegs für propagandistische Zwecke geeignet waren, bei den verbündeten und besetzten Staaten publik machen sollten. Während die Grundstrukturen dieser wissenschaftlichen Propaganda mit den Begriffen vom "Lebens­ raum" und "Großraum Europa", von der "europäischen Völkerfamilie" und dem aut­ arken europäischen "Großwirtschaftsraum" unter deutscher Führung bereits vorgegeben waren, erwiesen sich die Grenzen zwischen reiner Propaganda und anklingender echter Vision teilweise durchaus als fließend. Aber ungeachtet dieses Potentials verdeutlicht die Entwicklung der "Neuordnungs "-Propaganda letztlich eindeutig ihre pragmatischen Bezüge, die den nationalsozialistischen Europagedanken eben doch nur zu einem reinen Kriegsmittel degradierten.

1.1.3. Entwicklungsetappen derNS-"Neuordnungsidee" So wurde die ursprüngliche "Lebensraum"-Forderung nach dem Machtantritt zunächst zurückgestellt, während das NS-Regime bemüht war, europafreundlich und vor allem friedlich zu erscheinen, um die notwendige Ruhe für die innenpolitische Stabilisierung 117 118

Vgl. M. Bloch: Ribbentrop, New York 1992, S. 340. Vgl. M. Salewski: Europa: Idee und Wirklichkeit in der nationalsozialistischen Weltanschau­ ung und Praxis, a.a.O., S. 89.


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