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1.2.2. Karl Haushofer und die geopolitischen Grundlagen

den kriegswichtigen Bereich der Naturwissenschaften betraf, aber auch die Geisteswissenschaften einschloß, die mit ihren "zukunftsweisenden" Ideen und Zielen den eigentlichen Inhalt des Krieges bestimmen würden.167 Gerade dieser Aspekt der ideologischen Absicherung und inhaltlichen Ausgestaltung der "Europavorstellungen" war von entscheidender Bedeutung für die Propagierung der "Neuordnungs"-Vorhaben", da Europa laut Friedrich B erb er eben "kein koloniales Neuland" sei, "das man sozusagen ins Leere konstruieren" könne.168 Allerdings wurde diese Einsicht durch die zuvor bereitwillig anerkannte Unterordnung der Forschung unter die Politik in weiten Teilen widerlegt.

A uf der Grundlage dieses eindeutig politisch bestimmten Selbstverständnisses griffen Geopolitik, Raumforschung und Auslandswissenschaften in der Ausgestaltung der "Neuordnungs"-Idee" analog ihrer inhaltlichen Schwerpunkte ineinander. Den Ausgangspunkt für die politische Konzeptionalisierung der "Neuordnung" lieferte dabei die Geopolitik mit ihren Überlegungen zu "Raum" und "Lebensraum".

1.2.2. Karl Haushofer und die geopolitischen Grundlagen

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y- ■ . “V ' • ■ y ■ : ' ■- pi* ‘ Geopolitische Ansätze waren bereits über die Beziehungen zwischen K a r l Haushofer und R udolf Heß in Hitlers "Mein K am pf' eingeflossen. Dabei hatte H aushofer im Unterschied zu Ratzel eine spezifische Form der Geopolitik entwickelt, die er ab 1924 in der "Zeitschrift für Geopolitik" verbreiten konnte.169 Die von ihm begründete "deutsche Schule" dieser Wissenschaft untersuchte vor allem dem Einfluß geographischer Bedingungen auf die Entwicklung der Staaten und verstand sich dabei als wissenschaftliche Grundlegung der Politik.170 Obwohl K a rl H aushofer nach 1945 betonte, daß die Naziideologie lediglich Schlagworte der Geopolitik benutzt, diese aber zumeist falsch interpretiert hatte, und seine Arbeiten nach 1933 "under pressure" entstanden seien,171 läßt sich der immense Einfluß geopolitischer Gedanken in der "Neuordnungs"- Ideologie kaum leugnen. Die Geopolitik war nach 1933 fast zur offiziellen Wissenschaft vom "Lebensraum" avanciert.172

167 Vgl. ebenda, S. 3ff. ; 168 Vgl. F. Berber: Die Neuordnung Europas und die Aufgabe der aussenpolitischen Wissenschaft, a.a.O„ S. 195. 169 Vgl. K. Lange: Der Terminus "Lebensraum" in Hitlers "Mein Kampf', a.a.O., S. 431. 170 Vgl. M. Schmoeckel: Die Großraumtheorie, a.a.O., S. 83. 171 Vgl. K. Lange: Der Terminus "Lebensraum" in Hitlers "Mein Kampf', a.a.O., S. 431f. 172 Vgl. M. Schmoeckel: Die Großraumtheorie, a.a.O., S. 84; sowie F. Neumann: Behemoth, a.a.O., S. 176f.

Dieser Aufgabenstellung entsprach Haushofers Auffassung von Geopolitik, die er als "Wissenschaft von der Weltpolitik in ihrer Abhängigkeit von geographischen Grundlagen und Lehre ihrer praktischen Anwendung in der Außenpolitik" umriß, und die "das notwendige geistige Rüstzeug für Schutz und Erweiterung des deutschen Lebensraumes zugunsten der Siedlungstüchtigen" zu schaffen habe.173 Haushofers Geopolitik verstand sich damit als Wissenschaft von der Abhängigkeit des politischen Geschehens von den

Bedingungen der "Bodengestalt". Sie unternahm den Versuch einer Integration von

Natur- und Geisteswissenschaften und wollte auf dieser Basis gleichzeitig als eine Art "Schlüssel zum Weltverständnis", als Wegweiser für das politische Leben fungieren.

Die geopolitischen Forschungen Haushofers dienten in dieser Ausrichtung sowohl der "Raumerziehung" als auch dem "Kampf um Lebensraum", die den passiven und aktiven

Schlußfolgerungen aus dem Wissenschaftsverständnis entsprachen.174 Seine Ausführungen über "Macht" und "Raum", über die Großmachtbildung oder die Entwicklung und Bedeutung von Grenzen175 boten somit vielfältige Ansätze für die nationalsozialistische "Neuordnungspropaganda" und wurden von dieser - trotz unleugbarer Differenzen, die vor allem die nach 1940 angewendeten Mittel, aber auch die tatsächlichen Zielvorstellungen betrafen176 - auf das Umfangreichste "in Dienst gestellt".

A uf dieses Wechselverhältnis zwischen Geopolitik und NS-Staat, in dem Wissenschaft und Weltanschauung einander bedingten, verwies auch ein populärwissenschaftlicher Beitrag von A lfred Püllmann im Frankfurter Volksblatt: Püllmann definierte Geopolitik 1937 als "eine politische Betrachtungsweise, die alle natürlichen Gegebenheiten wie Rasse, Volk, Raum und Landschaft berücksichtigt." Die Geopolitik sei dabei eine "Dienerin der politischen Kunst", die das "Verständnis für eine nationalsozialistische Außenpolitik vorbereiten und dem deutschen Volke das Gefühl für die eigene politische Lage wie auch für die außenpolitische Haltung der anderen Völker in stärkstem Maße anerziehen und vertiefen"177 müsse. Folgerichtig fanden die grundlegenden Theoreme, die die außenpolitische Propaganda und die Weltanschauung des Nationalsozialismus bestimmten, auch Eingang in die geopolitische Terminologie: Laut Püllmann stünde im "Mittelpunkt jeder geopolitischen Arbeit" die "blutgebundene Gemeinschaft des Volkes, und erst in der Gesamtschau, in der Zusammenfassung aller jener Kräfte, die - wie Rasse, Bodengestalt, Klima, Staatsgrenzen und Geschichte - das Leben eines

173 Vgl. H.-A. Jacobsen: Geopolitik im Denken und Handeln deutscher Führungseliten, a.a.O., S. 42; sowie ders.: Karl Haushofer, Bd. I, a.a.O., S. 489f. 174 Vgl. H.-A. Jacobsen: Karl Haushofer, Bd. I, a.a.O., S. 487 f. 175 Vgl. ebenda, S. 496. 176 Vgl. H.-A. Jacobsen: Geopolitik im Denken und Handeln deutscher Führungseliten, a.a.O., S. 43 f. 177 Vgl. A. Püllmann: Was ist Geopolitik?, in: Frankfurter Volksblatt vom 25.5.1937, zit. n.: BA Abt. Potsdam, R 49.02, Nr. 1436, Bl. 7.

Volkes bestimmen, also in der Einheit von Volk und Raum und ihrer gegenseitigen

Wechselwirkung", würde ein "geopolitisches Weltbild" entwickelt. Dabei handele es sich nicht um den "natürlichen Raum", der "Sache der Geographie" wäre, sondern um den "politischen", in dem "die mit diesem Raum verbundenen M enschen als handelnde und gestaltende Kräfte" wirkten.178 In diesem Verständnis war die Geopolitik spätestens ab 1936 Gegenstand öffentlicher Diskussionen, bei denen unter geopolitischen Gesichtspunkten "räumliche", "völkische", wirtschaftliche und wehrpolitische Konsequenzen der deutschen M ittellage und des "verstümmelten deutschen Lebensraumes" unter nunmehr nationalsozialistischen Gesichtspunkten betrachtet wurden.1"* Sowohl die Geopolitik H a u shofers als auch die außenpolitischen Konzepte des Nationalsozialismus leiteten ihre Ideen dabei aus einem konstatierten Gefühl der "Raumenge" ab, das das deutsche Bewußtsein übergreifend geprägt habe. Ein direkter Einfluß H aushofers auf die Entwicklung der Expansionsprogrammatik des Hitlerregimes ist allerdings nicht nachweisbar. Die nationalsozialistische Propaganda benutzte aber konsequent die Begriffe und ausgewählte Thesen der geopolitischen Schule, um die "Neuordnungs"-Ideen "wissenschaftlich" abzusichem. Die Geopolitik wurde auf diese Weise zum indirekten Verbündeten des NS-Expansions- programmes, ohne dessen letzte Zielstellung zu teilen.180 Die W eltordnung, die H aushofe rs entwarf, lief vielmehr auf einen weitgehend traditionell verstandenen Imperialismus hinaus, der Deutschland im Verlauf einer politischen Neuaufteilung der W elt durch einen von ihm dominierten "Großraum" in Europa seinen Anteil garantieren sollte.*8’ Haushofers noch 1931 postulierte Vorstellung, daß "Geopolitik ebenso frei von jeder parteimäßigen Festlegung und Betrachtung sein" müsse, "wie Politik schwer von ihr frei zu halten" sei,182 hielt aber letztlich der Einordnung der W issenschaft in das NS-System nicht stand. Diese staatliche Vereinnahmung spiegelte die von H a u sh o fer herausgegebene Zeitschrift fü r Geopolitik nach 1933 sehr deutlich wider. Fragen von "Raum" und "Lebensraum" sowie die geopolitische Grundlegung der "Neuordnungsforderungen" wurden in den dreißiger und vierziger Jahren zum schwerpunktmäßigen Tenor der Zeitschrift, die die nationalsozialistische Auslegung der Forschungen anstandslos übernahm. Begleitet wurde dieser Prozeß von einer Ausgrenzung derjenigen W issenschaftler, die sich dieser Indoktrination nicht gebeugt hatten. Ein Beitrag K u r t Vow inckels zum 26. Deutschen Geographentag im Jahre 1936 bestätigte diese Tendenz

178 Vgl. ebenda. 179 Vgl. BA Abt. Potsdam, R 49.02, Nr.1436: Presseecho zur Geopolitik, Bl. 28-30. 180 Vgl. D. Diner: Grundbuch des Planeten, a.a.O., S. 25ff. 181 Vgl. ebenda, S. 28. 182 Vgl. K. Haushofer: Zur Geopolitik, in: H.-A. Jacobsen: Karl Haushofer, Bd. I, a.a.O., Anhang 5, S. 542-552, S. 545.

eindrücklich: Vowinckel betonte die Parallelen zwischen Geopolitik und NS-Weltanschauung hinsichtlich der "organischen" Staatsvorstellung, die das Verständnis vom "Raum" als "Lebensraum" entscheidend verändert hätte und verwies in diesem Zusammenhang auf die besondere Verantwortung der Geopolitik bei der Erarbeitung einer "politischen Staatskunde" im "Dienste von Partei und Staat, Volk und Reich."183 184 Die anerkannte Unterordnung der offiziellen geopolitischen Forschungen unter die NS- Politik wurde auch nach dem Ausbruch des Krieges fortgesetzt. Ein Artikel von Karl Springenschm idm aus dem Jahre 1942 dokumentierte jetzt ein äußerst makabres Verständnis von Geopolitik, deren "größte Stunde" in der Erfahrungswelt des Krieges gekommen schien. Springenschmid konstatierte, daß ganz Europa spätestens seit dem Ausbruch des Krieges für jeden Deutschen zum umfassenden "Schaffens- und Lebensraum" geworden sei.185 186 Jeder Soldat würde während der Kampfhandlungen andere Länder und Regionen in ureigenster Weise kennenlemen, was dazu führe, daß die Geopolitik "auf das Erlebnis von Millionen deutscher Soldaten aufbauen" könne, die durch den Krieg "nicht nur geographische Erfahrungen und geschichtliche Erkenntnisse" gewonnen, sondern den "Raum" mit dem "Geschehen, das sich darin abspielte, in einen inneren Zusammenhang gebracht", also ihn "geopolitisch" erlebt hätten. '

Abgesehen von dieser eindeutigen wissenschaftlichen Entgleisung lieferte die Geopolitik insgesamt die entscheidenden theoretischen Versatzstücke der nationalsozialistischen "Neuordnungs"-Ideologie. Ausgangspunkt dafür waren die Ansichten von der "Raumüberwindungskraft der Staaten", die die politischen Grenzen im Laufe der Entwicklung ständig zur Disposition stellen würden. Das von K arl Haushofer herausgegebene Grundlagenwerk "Macht und Erde" widmete sich umfassend den damit zusammenhängenden Fragestellungen. Der dritte Band der Reihe mit dem Titel "Raumüberwindende Mächte" enthielt einen Beitrag Haushofers der mit "Staat, Raum und Selbstbestimmung"187 die entscheidenden geopolitischen Aspekte ansprach, die das "Neuordnungs"-Konzept übernahm. Haushofer bezeichnete die "Raumüberwindung und die Einsicht der Staaten in die Mittel dazu" als die "Lebensfrage jeder Reichsbildung", bei deren Entstehung er den Zusammenhängen von "Blut und Boden" grundlegende Bedeutung zumaß.188 In der politischen Durchsetzung dieser Erkenntnisse wies er der

183 Vgl. K. Vowinckel: Geopolitik und politische Geographie, in: Zeitschrift für Geopolitik, 1936, S. 688-693, S. 693. 184 K. Springenschmid: Die Stunde der Geopolitik, in: Zeitschrift für Geopolitik, 1942, S. 1-7. 185 Vgl. ebenda, S. 1. 186 Vgl. ebenda, S. 6. 187 K. Haushofer: Staat, Raum und Selbstbesümmung, in: K. Haushofer (Hg.): Raumüberwindende Mächte, Leipzig/Berlin 1934, S. 63-90. 188 Vgl. ebenda, S. 63f.

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