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1.1.3. Entwicklungsetappen der NS-"Neuordnungsidee"
Weitgehend unberührt von diesen teilweise schon sehr konkreten Plänen, die die militärisch eingeleitete, nationalsozialistische "Neuordnung" des europäischen Kontinents festschreiben sollten, erwies sich die Idee dieser "europäischen Neuordnung" zeitweise als äußerst tragfähige ideologische Basis. Sie machte es möglich, die militärischen Maßnahmen Deutschlands ideell abzusichem und so die letzte Konsequenz der deutschen Kriegsziele zu verschleiern. Zwar war Hitlers Politik weder "europäisch", wenn es darum ging, die Interessen und Traditionen anderer Nationen zu achten und eine echte "europäische Gemeinschaft" herzustellen,117 noch bildeten Paneuropa oder eine irgendwie geartete europäische Union das deutsche Kriegsziel. Dieses lag allein in der Eroberung von neuem "Lebensraum" für Deutschland.118 Trotzdem bot es sich dabei an, die traditionelle Idee von "Europa" permanent als propagandistisches Kriegsmittel einzusetzen, sie als mögliche Alternative anzubieten, ja, sie sogar als integrativen Faktor gegenüber scheinbar gemeinsamen Feinden zu nutzen. Dieses Potential griff die nationalsozialistische Wissenschaft auf, um zwar durchaus Erkenntnisse für die weitere deutsche Politik zur Verfügung zu stellen, vor allem aber um diese Politik durch "europäische" Theorien "salonfähig" zu machen. Dabei entstanden dann Modelle einer politischen und wirtschaftlichen "Neuordnung" des Kontinents, die die Kriegszielpläne, die in den offiziellen Friedensvorbereitungen der verschiedenen Regierungs- und Wirtschaftsstellen entstanden, aber keineswegs für propagandistische Zwecke geeignet waren, bei den verbündeten und besetzten Staaten publik machen sollten. Während die Grundstrukturen dieser wissenschaftlichen Propaganda mit den Begriffen vom "Lebensraum" und "Großraum Europa", von der "europäischen Völkerfamilie" und dem autarken europäischen "Großwirtschaftsraum" unter deutscher Führung bereits vorgegeben waren, erwiesen sich die Grenzen zwischen reiner Propaganda und anklingender echter Vision teilweise durchaus als fließend. Aber ungeachtet dieses Potentials verdeutlicht die Entwicklung der "Neuordnungs "-Propaganda letztlich eindeutig ihre pragmatischen Bezüge, die den nationalsozialistischen Europagedanken eben doch nur zu einem reinen Kriegsmittel degradierten.
1.1.3. Entwicklungsetappen derNS-"Neuordnungsidee"

So wurde die ursprüngliche "Lebensraum"-Forderung nach dem Machtantritt zunächst zurückgestellt, während das NS-Regime bemüht war, europafreundlich und vor allem friedlich zu erscheinen, um die notwendige Ruhe für die innenpolitische Stabilisierung
117 Vgl. M. Bloch: Ribbentrop, New York 1992, S. 340. 118 Vgl. M. Salewski: Europa: Idee und Wirklichkeit in der nationalsozialistischen Weltanschauung und Praxis, a.a.O., S. 89.
zu gew ährleisten.119 Erst mit dem Übergang zur aktiven Außenpolitik wurde "Europa" dann immer m ehr zu einem Lippenbekenntnis,120 das versuchte, die deutschen Revisionsansprüche in den Rahmen einer notwendigen gesamteuropäischen "Neuordnung" zu integrieren. D a die nationalsozialistische Regierung gleichzeitig begann, alle internationalen Bindungen zu verlassen und die Versailler Verträge einseitig zu revidieren,121 erhielt die Europaideologie eine ständig wachsende Bedeutung, die zunehmend die
Beschwichtigungspolitik der Westmächte bediente. Der Europagedanke wurde zu einem
Vorw and, der die eigentlichen "Lebensraum"-Forderungen, die jeglicher europäischer
E inheit diametral widersprachen, überdecken sollte und - wie die Praxis zeigte - auch konnte, so daß Hitler sein "Lebensraum"-Programm planmäßig verfolgen konnte.122
Nachdem Deutschland nicht daran gehindert wurde, einen erneuten Krieg zu entfesseln, kam es im Verlauf der unmittelbaren Kriegsvorbereitung und der ersten P hase des
K rieges zunächst darauf an, den europäischen Kontinent von potentiellen Eingriffen außerkontinentaler Mächte freizuhalten, um die anstehenden militärischen Auseinandersetzungen zu begrenzen. Während das Dritte Reich längst begonnen hatte, seine wirtschaftlichen und politischen Einflüsse in Mittel- und Südosteuropa zu intensivieren,123 um damit einem deutschen "Großwirtschaftsraum" näherzukommen,124 verkündete die offizielle Propaganda deshalb die Id ee einer deutschen "M o n r o e d o k t r i n Hitler betonte Ende der dreißiger
Jahre, daß man den kontinental-europäischen Raum als deutsches Einfluß- und Interessengebiet betrachte, und stellte damit dem USamerikanischen Anspruch "Amerika den
Amerikanern" die Forderung "Europa den Europäern" entgegen. Gleichzeitig versicherte er, daß Deutschland den europäischen "Lebensraum" gegen fremde Einflüsse schützen würde und bereitete so faktisch die Erklärung des deutschen Führungsanspruches auf dem Kontinent vor. Da die wachsende wirtschaftliche Konkurrenz der U SA zunehmend die Entw icklung des Kontinents beeinträchtigte, bediente H itler m it dieser Forderung durchaus die Interessen einer Reihe von west- und nordeuropäischen Ländern, obwohl


119 Vgl. ebenda, S. 89. 120 Vgl. P. Kluke: Nationalsozialistische Europaideologie, a.a.O., S. 245f. 121 Vgl. u.a. J.K. Hoensch: Nationalsozialistische Europapläne im Zweiten Weltkrieg, in: Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, a.a.O., S. 307-325, S. 31 Off. 122 Vgl. J.K. Hoensch: Hitlers "Neue Ordnung Europas". Grenzveränderungen, Staatsneugründungen, nationale Diskriminierung, in: N. Frei/H. Kling (Hg.): Der nationalsozialistische Krieg, Frankfurt/New York 1990, S. 238-254, S. 238ff. 123 Vgl. A. Kube: Außenpolitik und "Großraumwirtschaft", in: W irtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1984, S. 185-211, S. 190ff. 124 Vgl. B.-J. Wendt: Großdeutschland, a.a.O., S. 134ff; sowie M. Salewski: Ideas o f the National Socialist G ouvem m ent and Party, in: Documents on the history o f European Integration, Bd. I, Berlin 1985, S. 37-54, S. 38.

der immanente Anspruch auf eine deutsche Hegemonie diesen eigentlich widersprach. Langfristig bildete die deutsche "Monroedoktrin" letztlich den Versuch, die Vereinigten Staaten als potentiellen Verbündeten Großbritanniens im Zeichen einer kontinentaleuropäischen "Solidarität" aus den militärischen Auseinandersetzungen in Europa herauszuhalten:125
So beantwortete Hitler in seiner Rede vom 28. April 1939 die Forderung Roosevelts, weitere Annexionen126 zu unterlassen, mit dem Verweis auf die "Monroedoktrin" und beanspruchte das deklarierte Nichteinmischungsprinzip sowohl für die Belange des Großdeutschen Reichs als auch für den europäischen Kontinent insgesamt.127
Angesichts der ersten militärischen Erfolge in Polen und Nordeuropa und des weitgehend passiven Verhaltens Englands und Frankreichs im "Seltsamen Krieg" konnte Außenminister Ribbentrop diese Positionen am 1. März 1940 gegenüber dem amerikanischen Unterstaatssekretär Sumner Welles entsprechend präzisieren: Er betonte, daß Deutschland es analog zur amerikanischen Monroedoktrin nicht zuließe, "daß sich andere Länder in seine vitalen Angelegenheiten einmischen" wollten. Die "deutsche Monroedoktrin" bedeute also, "daß es ein deutsches Interessengebiet im Osten Europas gebe, daß England, Frankreich und andere westliche Länder nichts angehe und über das sich Deutschland nur mit einer einzigen Macht, Sowjetrußland, mit der ein Ausgleich bereits gefunden sei, auseinanderzusetzen" habe.128 129 130
Allerdings erwies sich diese "Indienstnahme" der Monroedoktrin sehr schnell als zweischneidiges Schwert, da die beginnenden historischen Untersuchungen der Monroedoktrin von 1823 zu erheblichen Interpretationsschwierigkeiten führten: So stellte R.A. Berger129 1939 fest, daß die amerikanische Monroedoktrin keine feststehende Lehre sei, sondern ein politisches Programm, das je nach Interessenlage der USA ausgelegt werden konnte. Hinzu kam, daß die Anerkennung der amerikanischen Einflußsphäre auch Deutschlands Beziehungen zu lateinamerikanischen Ländern in Frage stellen würde. Ein Beitrag von Friedrich Berber130 versuchte, diese Interpretationsschwierigkeiten 1942 auszugleichen, indem er die Doktrin auf die historische Situation im Jahr ihrer Entstehung beschränkte. Eine etwaige Präzedenzwirkung der Doktrin für andere geographische Bereiche lehnte Berber deshalb grundsätzlich ab, zumal mit der Idee vom "Lebens-

125 Vgl. M. Salewski: Europa: Idee und Wirklichkeit in der nationalsozialistischen Weltanschauung und Praxis, a.a.O., S. 94. 126 Gemeint war der erfolgte Bruch des Münchner Abkommens und die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren. 127 Vgl. L. Gruchmann: Nationalsozialistische Großraumordnung, Stuttgart 1962, S. 11. 128 Zit.n. ebenda, S. 11. 129 Vgl. R.A. Berger: Die Geschichte einer Doktrin, in: Wir und die Welt, 1/1939, S. 23-25. 130 Vgl. F. Berber: Der Mythos der Monroedoktrin, in: Auswärtige Politik, 1942, S. 287-300.
raum " nunm ehr eine echte Alternative bzw. eine wahre Umsetzung ihrer Prinzipien entw ickelt w orden w äre.131 ^

D as K onzept vom "Lebensraum" schien in der wissenschaftlichen Bearbeitung weitaus tragfähiger als die zumindest mißverständliche Monroedoktrin, deren deutsches bzw. europäisches Pendant nichtsdestotrotz auch im weiteren V erlauf des Krieges von Hitler beschw oren w urde, während sich die wissenschaftliche Publizistik verstärkt mit der E ntw icklung des Lebensraum -Gedankens befaßte. Zwar durften die eigentlichen deutschen Kriegsziele nach einer W eisung Goebbels' vom 18. März 1940 nicht mehr in der Presse erörtert w erden,132 aber folgerichtig brachten die militärischen Anfangs- erfolge Deutschlands 1940/41 eine wahre Flut von wissenschaftlichen Beiträgen hervor, die die nunm ehr mögliche "Neuordnung" mit "europäischen" Gedanken und "Großraum"-Konzepten unterlegten.
D abei standen zunächst die "Vorzüge" sowie die wirtschaftlichen und politischen
Notwendigkeiten der geplanten Umgestaltung im Vordergrund.133 Die entsprechenden
Theorien sahen eine "vernünftige Abgrenzung der Interessensphären zwischen den
Großmächten" in Gestalt von "Lebensräumen" vor, die vordergründig "völkisch", also nach biologisch-rassischen Gesichtspunkten definiert wurden, aber dabei die politischen und wirtschaftlichen Erfordernisse autarker Gebilde berücksichtigten. A uf dem Höhepunkt der militärischen Erfolge konnte das nationalsozialistische Deutschland dabei seinen Führungsanspruch voraussetzen. Analog zu dieser Überzeugung ersetzte der
B egriff des "Reiches", der die hegemonialen Ansprüche Deutschlands besser transportieren konnte, zeitweise den "Europa"-Gedanken.134 Ausgehend von den Erfahrungen des mittelalterlichen deutschen Reiches wurde dabei eine Traditionslinie entwickelt, die den deutschen Führungsanspruch auch auf dieser Ebene begründen sollte.135 Dem trugen auch die Vereinbarungen mit Italien und Japan Rechnung, die mit dem Dreimächtepakt vom 27. September 1940 gegenseitig ihre "Großräume" abgrenzten.136 Nachdem
Deutschland die Chancen für eine echte "Neuordnung" nach dem Sieg über Frankreich

131 Vgl. ebenda, S. 299f. 132 Vgl. J.K. Hoensch: Nationalsozialistische Europapläne im Zweiten Weltkrieg, a.a.O., S. 314. 133 Vgl. z. B. die Reden des Wirtschaftsministers W. Funk: Wirtschaftsordnung im neuen Europa, 12. Juni 1941, Wien 1941 oder Wirtschaftliche Neuordnung Europas, Berlin 1940. 134 Vel. P. Kluke: Nationalsozialistische Europaideologie, a.a.O., S. 250; sowie H . - D . Loock. Zur "Grossgermanischen Politik" des Dritten Reiches, in: VHZ, 1960, S. 37-63, S. 39; und M. Salewski: Europa: Idee und Wirklichkeit in der nationalsozialistischen Weltanschauung und Praxis, S. 94. 13 5 Vgl. die Ausführungen zur "Neuordnung" als historisch-biologische Kategorie. 136 Vgl. L. Gruchmann: Nationalsozialistische Großraumordnung, a.a.O., S. 13.

zugunsten einer weiteren expansiven Politik aufgegeben hatte,137 gewann die wissenschaftliche Publizierung des "Lebensraum"-Gedankens enorm an Bedeutung. Mit dem deutschen Überfall a u f die Sowjetunion erhielten die "Europa"-Konzeptionen dann noch eine neue, durchaus tragfähige Dimension: Die deutsche Propaganda verwies jetzt verstärkt auf die "europäische Mission", die Deutschland mit dem Kampf gegen den Bolschewismus übernommen habe. Analog zu den deutschen Einbußen an der Ostfront rückte später zusätzlich die Idee eines gemeinsamen europäischen Abwehrkampfes in den Mittelpunkt, der gleichzeitig die ideologische Einheit des Kontinents fördern könne.138 Damit erhielten die deutschen Expansionsabsichten im Osten gleichsam den Deckmantel eines gesamteuropäischen Krieges, den das nationalsozialistische Deutschland für den Kontinent und die Rettung der westlichen Zivilisation fuhren würde.“ ’9 »
Auch der im November 1941 einberufene "Europäische Kongreß", auf dem der Antikomintempakt verlängert und durch eine Reihe von neu eintretenden Staaten erweitert wurde, entsprach dieser gemeinsamen Frontbildung.140
Erst die drohende deutsche Niederlage, die im Verlauf des Jahres 1943 immer deutlicher wurde, veränderte die Schwerpunkte der "Neuordnungs"-Propaganda noch einmal: Nunmehr wurde vor allem die "Krise Europas" betont, die auf den gemeinschaftlichen Angriff von Bolschewismus und "westlichen Plutoktatien" zurückzuführen sei.141 Während die wissenschaftliche Publizistik dabei zunehmend in stereotypen Beschwörungen der europäischen Solidarität im kontinentalen "Großraum" verharrte, entstanden unter der Leitung Ribbentrops im Auswärtigen Amt "Entwürfe einer Denkschrift die Gründung eines Europäischen Staatenbundes betreffend", die erstmals konkrete politische Regelungen für die "Neuordnung" beinhalteten.142 Der avisierte Staatenbund versprach den Ländern zwar einen "gebührenden Platz" im künftigen Europa, behielt aber die Vorrangstellung Deutschlands bei und betonte, daß Einschränkungen in der Souveränität im Interesse des künftigen Europa notwendig wären. Die differenzierten Ausarbeitungen des Auswärtigen Amtes blieben allerdings Planspiele, da weder Hitler noch die anderen europäischen Staaten weiterhin an ihnen interessiert waren.143 Im

137 Vgl. u.a. P. Kluke: Nationalsozialistische Europaideologie, a.a.0., S. 253f; sowie M. Salewski: Europa: Idee und Wirklichkeit in der nationalsozialistischen Weltanschauung und Praxis, a.a.O., S. 92. 138 Vgl. dazu die Ausführungen zum "jüdischen Bolschewismus" als Feindbild und zum "europäischen Bewußtsein". 139 Vgl. M. Salewski, Ideas of the National Socialist Government and Party, a.a.O., S. 48f. 140 Vgl. BA Potsdam, 09.01 Auswärtiges Amt, Nr. 58898, Bl. 2-21 und Nr. 58899. 141 Vgl. P. Kluke: Nationalsozialistische Europaideologie, a.a.O., S. 270. 142 Vgl. BA Potsdam, 09.01 Auswärtiges Amt, Nr. 5822, Bl. D 514456ff. 143 Vgl. M. Salewski: Europa: Idee und Wirklichkeit in der nationalsozialistischen Weltanschauung und Praxis, a.a.O., S. 105.