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"Neuordnung"

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als Feinde Europas

als Feinde Europas

Geopolitik erzieherische Funktionen zu, die besonders "für die vom Raum minder begünstigten Volksstaaten, wie den deutschen" von größter W ichtigkeit w ären.189 Dabei galt es, "die zur Vergrößerung der staatlichen Lebensformen au f einen lebentragenden Raum notwendige große Raumvorstellung in die tragenden, breiten Schichten"190 zu überfuhren, da "Stärke oder Schwäche" eines Volkes letztlich im "Verhalten seines Volkes zu raumbewältigenden Ideen" lägen.191 Abgeleitet von dieser These stellte bereits Haushofer "Lebensraumforderung" dem traditionellen "Imperialismus" gegenüber, was später von der NS-Propaganda wiederholt aufgegriffen wurde: So sei es laut Haushofer "ein ungeheurer ethischer Unterschied, ob die raumüberwindenden K räfte eines Staats oder seiner Kemzelle aus dem Antrieb des Machtreizes, der Lockung, dem Reiz der Gegenküste heraus entfesselt" würden, "wie im französischen oder britischen Kolonialreich oder dem Druck der Not der Raumenge einer im eigenen Lebensraum nicht mehr zu bewältigenden Überbevölkerung, wie in Deutschland, Italien oder Japan".192 193 M it dem Prinzip der "Raumüberwindung" wurde also letztlich versucht, eine expansive Politik im Rahmen der postulierten "Neuordnung" des europäischen Kontinents als "natürliches" Charakteristikum von Staaten zu legitimieren, das aus den dynamischen Beziehungen zwischen "Volk" und "Raum" resultiere. Basierend auf gleichen ideologischen und gesellschaftlichen Wurzeln waren Geopolitik und Nationalsozialismus eine harmonische Beziehung eingegangen,15 ohne dabei völlige Übereinstimmung in den propagierten Zielen zu erreichen. Trotzdem wurde die offizielle geopolitische Schule der dreißiger und vierziger Jahre zum Apologeten des "Lebensraum"-Konzeptes, das den grundlegenden Faktor der "Neuordnungs"-Idee ausmachte.

Die beginnende praktische Umsetzung geopolitischer Theorien in der nationalsozialistischen Außenpolitik führte dann zur Herausbildung der R aum forschung und der darauf aufbauenden Raumordnung, die sich der Erforschung und Optim ierung der räumlichpolitischen Verhältnisse widmeten, sowie der A uslandsw issenschaften, die diese Erkenntnisse auf den gesamten Kontinent anwendeten.

1.2.3. Raumforschung und Auslandswissenschaften im Dienste der "Neuordnung"

Die sogenannte "Raumforschung" erarbeitete die theoretischen Grundlagen für die praktischen Eingriffe in die räumlichen Strukturen, die im Rahmen der "Raum ordnung"

189 Vgl. ebenda, S. 70. 190 Vgl. ebenda, S. 71. 191 Vgl. ebenda, S. 72. 192 Vgl. ebenda, S. 84f. 193 Vgl. D. Diner: Grundbuch des Planeten, a.a.O., S. 1.

einen wesentlichen Aspekt der Gestaltung des "Lebensraumes" ausmachen sollten. Ausgehend von rein statistischen Erhebungen entwickelte sich die Raumforschung zu einem interdisziplinären Forschungsansatz, der die breit angelegten Untersuchungen der Geopolitik unter Vermeidung politischer Überlegungen auf einen konkreten Ausschnitt von Territorien oder Staaten bezog. Dabei wurden die Begriffe "Raumforschung" und "Raumordnung" häufig synonym verwendet, da die Verbindung von Theorie - also der Raumforschung - und Praxis - in Gestalt der Raumordnung - angesichts der eindeutigen Praxisorientierung der Untersuchungen sehr eng war. Das daraus resultierende Verhältnis von Geopolitik und Raumforschung wurde anhand ihrer Aufgabenverteilung mit den Beziehungen zwischen Generalstab und Truppenfüh- rung oder zwischen Strategie und Taktik verglichen.194 Ein Beitrag von E w ald Liedecke unterschied Raumordnung und Geopolitik somit vor allem hinsichtlich ihres Wirkungsbereiches: Er stellte fest, daß Raumordnung und Geopolitik "offensichtlich verwandt" wären, da sich beide mit der "Planung im Raum" befaßten. Während die Raumordnung "in ihrem Wirken auf den eigenen Volks- und Staatsraum" beschränkt bliebe, beziehe die Geopolitik dagegen den "ganzen Erdball in ihr Wirken ein."195 Diese geographische Einschränkung wurde allerdings spätestens mit dem Beginn des Krieges und der damit verbundenen Ausdehnung des deutschen "Staats- und Volksraumes" relativiert. Raumordnung und Raumforschung dehnten ihre Untersuchungen auf das wachsende deutsche Einflußgebiet aus, um die geplante "Neuordnung" effektiv vorzubereiten. In Anbetracht dieser Aufgabenstellung lag es - wie ein Beitrag von Bruno Kuske beschrieb - nahe, "der, Raum auch unter der Fragestellung nach seinen Menschen ins Auge zu fassen und diese dabei gegenüber seinem nur naturgegebenen sachlichen Inhalt zu betonen, aufzuklären und darzustellen". Das schloß "ihre physische oder geistige Eigenart, ihr Volkstum und ihre Lebensweise, ihre Sprache, Literatur, Wirtschaft, Technik, Rechtsverhältnisse, Politik, Religion, Kunstformen und sonstige geistige Leistungen, ihre Geschichte" - also den "ganzen Inhalt ihrer Zivilisation und Kultur" ein.196 Damit schuf erst das Zusammenwirken geographischer Untersuchungen mit geologischen, historischen, bevölkerungs- und staatswissenschaftlichen Disziplinen die Grundlagen für die Raumordnung197, die laut Liedecke "ein Wirken im Raume mit dem Ziel, eine bestimmte Ordnung zu schaffen und ihren Sinn gestalterisch zum Ausdruck zu bringen",198 darstellte. Aber da anerkann-

194 Vgl. Vermerk des Herausgebers und der Schriftleitung, in: Zeitschrift für Geopolitik, 1941, S. 481. 195 Vgl. E. Liedecke: Raumordnung und Geopolitik, in: Zeitschrift für Geopolitik, 1941, S. 481496, S. 494. • - h 196 Vgl. B. Kuske: Der Raum als Forschungsaufgabe, in: Raumforschung und Raumordnung, 1942, S. 323-327, S. 323. 197 Vgl. E. Liedecke: Raumordnung und Geopolitik, a.a.O., S. 483. 198 Vgl. ebenda, S. 481. r jg

termaßen nur der "politische Wille mit seinen Zielsetzungen" die praktische Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse199 bestimmte, wurde die W issenschaft erneut den politischen Erfordernisse untergeordnet. Dieser Beziehung entsprach auch das grundlegende Verständnis vom "Raum", das bereits die grenzüberschreitenden Am bitionen der deutschen Politik bediente. So betonte beispielsweise K uske das Prim at der "Raumerscheinungen" gegenüber den politisch festgesetzten Grenzen und stellte fest, daß der "Raum" nicht "restlos identisch mit einem 'Gebiet'" sei. Er müsse "wissenschaftlich in der allgemeinsten, politisch nicht begrenzten Form Vorbehalten bleiben, dam it die Forschung Bewegungsfreiheit" für die Fälle habe, "in denen sich ihre Tatsachen nicht an politisch vorgezeichnete Abschnitte binden, sondern sich von anderen als den politischen Kräften aus im Raum versammeln"200 würden. Diese "anderen Kräfte" w ären Kategorien wie Sprache, Religion, Wirtschaft oder Lebenshaltung, die die "Raumausdehnung" von "Rassen" oder Völkern bestimmten.201 Im Rahmen dieser U ntersuchungen galt es dann, den "Raum" in seinen "Funktionen" und seinen "Beziehungen" zu anderen "Räumen" zu erforschen.202 Die Grenzen zu dem Gegenstand, den die Geopolitik beanspruchte, waren damit fließend.

Die Raumforschung, die in den dreißiger Jahren zunächst weitgehend au f das deutsche Staatsgebiet beschränkt blieb, wurde 1935 auf Erlaß des Führers zu einer "staatlichen Hoheitsaufgabe" erklärt und der Reichsstelle f ü r R aum o rd n u n g übertragen, deren Leitung Hans Kerrl übernahm. Die Reichsstelle sollte gewährleisten, daß "die Verteilung des Bodens und die Art seiner Nutzung sowie der Einsatz aller wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte im deutschen Raum... in einer Weise" erfolge, "die einen zweckmäßigen, bodenverbundenen Siedlungs-, Wirtschafts- und Volksaufbau" sicherstelle und gleichzeitig den "Ansprüchen nach militärischer Sicherheit" gerecht werde.203 Um diesen Zielen gerecht zu werden, suchte die Reichsstelle f ü r R a u m o rd n u n g kurz nach ihrer Einrichtung die Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Forschung, deren Vertreter in der am 27. Januar 1936 gegründeten Reichsarbeitsgem einschaft f ü r Raum forschung zusammengefaßt wurden. Die engste Verbindung zwischen W issenschaft und Politik galt dabei als entscheidendes Kriterium der deutschen Raumforschung.204 Zum wichtigsten Publikationsorgan der Reichsarbeitsgemeinschaft entwickelte sich neben der ebenfalls genutzten Zeitschrift fü r Geopolitik die Zeitschrift R a u m fo rsch u n g u n d Raum -

199 Vgl. ebenda, S. 484. 200 Vgl. B. Kuske: Der Raum als Forschungsaufgabe, a.a.O., S. 324. 201 Vgl. ebenda, S. 324. 202 Vgl. ebenda, S. 325. 203 Vgl. H. Kerrl: Die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, in: Zeitschrift für Geopolitik, 1936, S. 130-134, S. 131. 204 Vgl. BA Abt. Potsdam, R 49.02, Nr. 1133, Bl. 5.

Ordnung. Unter der Leitung der Reichsstelle arbeiteten in diesem Rahmen Volkswirtschaftler, Geographen, Historiker, Anthropologen und Ingenieure nach geopolitischen Gesichtspunkten in Forschung und Lehre zusammen.205

Mit dem Übergang zur aktiven Außenpolitik der Hitlerregierung, durch die das deutsche Einflußgebiet schrittweise ausgedehnt wurde, nahmen auch die Aufgaben der Raumforschung zu. Sie begann zunehmend, auch die "überaus beschwingte europäische Problematik" einzubeziehen, der man sich "bei der politischen Aktivität des deutschen Staates" nicht entziehen könne.206 Folgerichtig wurde die Reichsarbeitsgemeinschaft fü r Raumforschung im Herbst 1939 mit der "kriegswichtigen" Erforschung des Ostens beauftragt.207 Die neuen Themen zielten darauf ab, "der Raumforschung im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Kräfte und Hochschulinstitutionen diejenige Gleichrichtung mit den politischen Zielsetzungen und aktuellen Erfordernissen und diejenige Ausweitung der für ihre Forschung richtunggebenden Gesichtspunkte zu sichern, deren sie bedarf, um ihrerseits der Dynamik des großdeutschen Geschehens... gerecht zu werden."208 Die Raumforschung wurde endgültig in den Dienst des deutschen Expansionsprogrammes gestellt. Ihre Untersuchungen über Aussiedlungsmöglichkeiten und die "Tragfähigkeit" der dafür in Frage kommenden Ostgebiete, über Perspektiven der "raumpolitischen Neugestaltung" hinsichtlich der regionalen Verteilung der Produktion und der verkehrspolitischen Entwicklung209 bildeten nur einen Aspekt in der Vorbereitung der geplanten "Neuordnung" des europäischen Kontinents.

In dem Maße wie die deutsche Expansion die Landesgrenzen überschritt und die "Neuordnung" immer größerer Gebiete in greifbare Nähe zu rücken schien, gerieten auch die zu erobernden und besetzten Länder verstärkt in den Blickpunkt der deutschen Forschung. Die neubegründeten Auslandswissenschaften dehnten die geopolitisch angelegten Forschungen nun auch auf andere Staatsgebiete aus und wendeten den beschriebenen interdisziplinären Ansatz an, um landeskundliche und politische Eigenheiten der Staaten zu untersuchen und so ihre effektive Eingliederung in das "neuzuordnende Europa" zu ermöglichen. Raumforschung und Raumordnung erhielten eine "europäische Komponente" und wurden von detailliertem Wissen über die anderen Staaten ergänzt.

Die Idee einer zentralisierten auslandswissenschaftlichen Forschung war bereits Mitte der dreißiger Jahre entstanden. Eine Denkschrift von Anton J. Palme verwies schon im

205 Vgl. H. Kerrl: Die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, a.a.O., S. 132. 206 B. Kuske: Der Raum als Forschungsaufgabe, a.a.O., S. 325. 207 Vgl. F. Bülow: Zum neuen Forschungsprogramm der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, in: Raumforschung und Raumordnung, 1940, S. 148-150, S. 148f. 208 Vgl. ebenda, S. 149. 209 Vgl. ebenda, S. 149f.

April 1935210 211 auf die Notwendigkeit, die verschiedenen, im w eitesten Sinne "auslandswissenschaftlich" tätigen Einrichtungen zusammenzufassen bzw. sie angesichts der deutlich werdenden außenpolitischen Vorhaben systematisch aus- und aufzubauen. Palme begründete seine Forderungen mit dem wachsenden B edarf an fachspezifischen Kennern der verschiedenen Staaten, die zur Lösung wirtschaftlicher, politischer und militärischer Aufgaben unverzichtbar seien und letztlich auch im Dienste der Politik "als Waffe" instrumentalisiert werden könnten.

Der Begriff der Auslandswissenschaften bezeichnete dabei laut einem grundlegenden Beitrag von Karl Heinz Pfefferi! 1 "die Anwendung der einheitlichen politischen Wissenschaft auf das 'Ausland'", was immer nur "ein konkretes Land" beträfe.212 Unter dieser Aufgabenstellung faßte man die beschriebenen geopolitischen Untersuchungen mit der kultur- und landeskundlichen Erforschung konkreter Staaten zusammen. Dabei erhielten die Auslandswissenschaften für die Entwicklung der "Neuordnungs"-Idee eine zweifache Bedeutung: Zum einen lieferten sie die notwendigen Kenntnisse für die künftige Positionierung der betreffenden Staaten und formulierten gleichzeitig die propagandistisch verwertbaren "wissenschaftlichen" Begründungen für diesen Schritt. Zum zweiten bildeten sie die künftigen deutschen und einheimischen K ader für die Verwaltung des "neugeordneten" Europa, aber auch für den Einsatz in Propaganda oder Spionage heran.

In der Verbindung von Forschung und Lehre sahen die Auslandswissenschaftler ihre Aufgabe darin, aktiv "bei der geistigen Auseinandersetzung um die Einigung Europas und um die zukünftige Stellung Europas in der Welt"213 mitzuwirken. Diese Auffassung führte zu einer gleichsam missionarischen Funktionalisierung der deutschen Auslandswissenschaften im Rahmen der "Neuordnungs"-Vorhaben: Sie sollten "durch ihre Leistung der politischen Wissenschaft Europas die Augen öffnen für die ungeheuren Aufgaben dieser Jahre und durch ihren Einfluß in der politischen W issenschaft die Völker selbst an ihre echten Aufgaben heranführen"214 - eine Vorstellung, die das Prinzip der staatlichen Gleichschaltung auf die europäische Wissenschaft, ja letztlich au f die europäischen Länder insgesamt auszudehnen trachtete. Diese A usrichtung wurde nach dem Beginn des Krieges noch verstärkt, da es jetzt neben der vordergründigen Propagierung der deutschen "Europapläne" und ihrer militärischen Durchsetzung um die A usbildung des politischen und verwaltungstechnischen Nachwuchses ging, der die "Neu-

210 BA Abt. Potsdam, Reimi für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Nr. 1247, Bl. 70-84. 211 K.H. Pfeffer war Chef der Abteilung Großbritannien des DA WI. 212 Vgl. K.H. Pfeffer: Begriff und Methode der Auslandswissenschaften, in: Jahrbuch der Weltpolitik, 1942, S. 884-896, S. 895. 213 Vgl. ebenda, S. 887. 214 Vgl. ebenda, S. 891.

Ordnung" vor Ort realisieren und sie perspektivisch absichem würde. Ein entsprechender Beitrag von Bruno Kiesewetter2,5 verwies deshalb 1940 nachdrücklich auf die Notwendigkeit, "eine Generation zu erziehen, die das große Deutschland, das auf den Schlachtfeldern dieses Krieges geschmiedet worden ist, fest in ihren Händen zu halten" vermöge. Darüber hinaus müsse sie fähig sein, "Großdeutschland innerhalb des europäischen Großraumes in politischer, wirtschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Hinsicht einzubringen", da Deutschland "nach der siegreichen Beendigung dieses Krieges noch stärker als bisher als das bestimmende Land in die weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Zusammenhänge hineinwachsen" würde. Damit stünde die deutsche Wissenschaft nunmehr vor der Aufgabe, "ein geschlossenes wissenschaftlich fundiertes, und zwar sehr konkretes Weltbild zu vermitteln."215 216 Um diesen umfassenden Anforderungen gerecht zu werden, zählten die Auslandswissenschaften die Anthropogeographie, die Geschichte und die Wirtschaftswissenschaften, aber auch landes- oder "volkskundliche" Disziplinen wie die Sprach- oder Literaturwissenschaft zu ihren Arbeitsgebieten. 17 Nach einer grundlegenden Ausbildung in den politischen Wissenschaften ging es darum, diese Erkenntnisse auf ein konkretes Land anzuwenden, also sich im Rahmen "landes- und volkskundlicher" Untersuchungen mit "einem einzelnen Gebiet, einem Staat, einem Volk oder einem Kreise von Völkern"218 zu befassen, um letztlich eine "politische Geländekunde" für die späteren politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen zu entwickeln. Dazu wurden die Auslandswissenschaften organisatorisch in die deutschen Universitäten und Hochschulen eingegliedert. Die wichtigste Neugründung stellte in diesem Zusammenhang die Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Berlin dar,219 die Anfang 1940 aus der Zusammenlegung des ehemaligen Seminars für orientalische Sprachen und der Deutschen Hochschule für Politik hervorging. Im September 1935 war das Orientalische Seminar an der Universität Berlin, das noch aus der Zeit Bismarcks stammte, in "Auslandshochschule" umbenannt worden. Das jahrelange Tauziehen zwischen Auswärtigem Amt, Büro Ribbentrop, Propagandaministerium und dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung um die wissenschaftliche Ausrichtung der Hochschule fand erst Ende 1938 ein Ende, nachdem der Reichsführer-SS ein "starkes Interesse" am weiteren Schicksal der Einrichtung bekundet und sich für ihre Eingliederung an die

215 B. Kiesewetter war Direktor der Abteilung Außenwirtschaftskunde im DAWI. 216 Vgl. B. Kiesewetter: Aufgaben und Ziele der Deutschen Außenwissenschaften, BA Abt. Potsdam, R 49.02, Nr. 4800, Bl. 55-59. 217 Vgl. K.H. Pfeffer: Begriff und Methode der Auslandswissenschaften, a.a.O., S. 889. 218 Vgl. ebenda, S. 894. 219 Vgl. dazu E. Siebert: Entstehung und Struktur der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Berlin (1940 bis 1945), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, 1966, S. 19-34.

Universität Berlin ausgesprochen hatte. Zu der neuzubildenden Fakultät trat dann noch die Hochschule für Politik hinzu, die mit Personen wie F ried rich B erber, K arl C. v. Loesch und Bruno Kiesewetter einige der wichtigsten Vertreter der "Neuordnungs". Planungen" einbrachte. Im Oktober 1939, zu einem Zeitpunkt als die m eisten deutschen Universitäten und Hochschulen wegen des Kriegsausbruches zunächst geschlossen wurden, erhielt SS-Standartenführer Franz A lfred Six als Leiter der A bteilung "Fremde Weltanschauung" des SD den Auftrag, die Gründung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Berlin vorzubereiten. Diese erfolgte dann au f Erlaß des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und V olksbildung am 5. Januar 1940.220 Schon die personelle Zusammensetzung des Lehrkörpers dieser Fakultät verdeutlichte den besonderen Stellenwert der Auslandswissenschaften im politischen Kalkül des NS-Staates: Mit 65 Prozent NSDAP-M itgliedem w ar dieser Anteil im Vergleich zum Universitätsdurchschnitt überdimensional hoch.221 D ie "Neuordnungs"- Expertokratie hatte ihr Domizil gefunden.

Die neue Auslandswissenschaftliche Fakultät bildete in fast allen größeren Weltsprachen aus und verband das Sprachstudium mit der jeweiligen Volks- und Landeskunde sowie einem grundlegenden Unterricht in den politischen W issenschaften. Das Studium konnte nach sechs Semestern mit einem Diplom der Auslandswissenschaften oder einem Dolmetschergrad, nach acht Semestern mit dem Doktor der Auslandswissenschaften abgeschlossen werden. Bis zum Frühjahr 1943 absolvierten ca. 4.000 Studenten diesen Ausbildungsgang.222 Der auszubildende Nachwuchs für den politischen Dienst, für Wirtschaft, Kultur oder Wissenschaft wurde mit dem "Bewußtsein der neuen politischen Geltung des Reiches" ausgestattet, um der Erhaltung der neuen deutschen Weltgeltung Sorge zu tragen.

Parallel zur Errichtung der lehr- und forschungsorientierten Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität wurde im Januar 1940 in Berlin au f W eisung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung das D eutsche Auslandswissenschaftliche Institut (DA WI) gegründet, das als wissenschaftliches D okumentations-, Forschungs- und Publikationszentrum fungieren sollte.223

Das DAWI war personell und strukturell eng mit der Auslandswissenschaftlichen

220 Vgl. einen Beitrag von F. Hilpert, 6. März 1940, BA Abt. Potsdam, R 49.02, Nr. 4800, Bl. 8f. 221 Vgl. dazu: Anteil NSDAP-Mitglieder im Lehrkörper, Stand Dezember 1941: Universität Berlin 38% Philosophische Fakultät 31 % (E. Siebert: Entstehung und Struktur der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Berlin, a.a.O., S. 33.) 222 Vgl. den Beitrag von A. Meuer, 14. April 1943, BA Abt. Potsdam, R 49.02, Nr. 4800, Bl. 3. 223 Vgl. Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Amtsblatt des Reichsministers filr Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 1940, S. 72f.

Fakultät verbunden, organisatorisch aber nicht der Universität, sondern direkt dem Reichsministerium unterstellt. Beamtete Hochschullehrer der Fakultät arbeiteten gleichzeitig als Abteilungsleiter des DAWI, dessen Gliederung den Fachgebieten der Fakultät entsprach. Zu den zentralen Abteilungen zählten die Bibliothek und das Pressearchiv; die Auslandsstelle, die ausländische Studenten betreute und Vortragsreihen für Ausländer organisierte; die Studienberatungsstelle; die Publikationsabteilung sowie die Forschungsabteilung, die sich in grund- und auslandswissenschaftliche Abteilungen untergliederte. Daneben war dem DAWI ein Institut für Sprachenkunde und Dolmetscherwesen angeschlossen.224 Die Leitung des DAWI übernahm ebenfalls Franz Alfred Six, der als Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität und ab 1943 zusätzlich als Leiter der Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes die personelle Verbindung von Wissenschaft und Politik besonders deutlich dokumentierte.

Die zentrale Aufgabe des DAWI bestand laut Satzung vom 29. Mai 1940 darin, "die Verbindung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Reiches herzustellen und an dem Ausbau bestehender und der Erschließung neuer wissenschaftlicher Beziehungen zum Ausland mitzuwirken."225 In diesem Rahmen stand es dem Auswärtigen Amt frei , das DAWI zur "Durchführung kulturpolitischer Auslandsaufgaben" heranzuziehen,226 was zu einer umfangreichen Vortragstätigkeit der Mitarbeiter im Ausland und zur Veranstaltung von Ausländerkursen am DAWI führte.227 Das DAWI diente damit im Selbstverständnis "den deutschen Aufgaben in Europa und den europäischen Aufgaben in der Welt."228 Dazu widmete es sich - getreu seiner politischen Aufgabenstellung - der "Erforschung fremder Völker und Staaten in ihrer rassischen und geschichtlichen Bedingtheit, ihrer konkreten gegenwärtigen Gestalt, ihrer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen" sowie der "Untersuchung der Grundlagen und Voraussetzungen für die mannigfachen Formen und Erscheinungen des Zusammenlebens der

Völker."229

Das umfangreiche Publikationsprogramm des DAWI bediente die Themen "Reich und Europa", "Europa und das Weltstaatensystem" sowie die Länderkunde. Zu seinen ständigen Veröffentlichungen zählten die Zeitschrift fü r Politik, die Jahrbücher der

Weltpolitik sowie Dokumentationen zur Weltpolitik, zur deutschen Politik und zur

224 Vgl. die Geschäftsordnung des DAWI, 15. August 1942, BA Abt. Potsdam, o.Bl. 225 Vgl. Satzung des DAWI, § 2, BA Abt. Potsdam, R 49.02, Nr. 1496, o.Bl. 226 Vgl. ebenda. 227 Vgl. BA Abt. Potsdam, R 49.02, Nr. 11490, Bl. 3-39. 228 Vgl. K.H. Pfeffer: Begriff und Methode der Auslandswissenschaften, a.a.O., S. 888. > 229 Vgl. Werbebroschüre des DAWI, BA Abt. Potsdam, R 49.02, Nr. 4800, Bl. 62-67

Länderkunde, sprachkundliche Lehr- und Wörterbücher, das Handbuch der Politik sowie eine Vielzahl von Einzelpublikationen im beschriebenen Them enkreis.230 D ie besondere Spezifik der politischen Einbindung der Auslandswissenschaften w urde in der Verbindung von "Lehre, Forschung und Einsatz in der praktischen Politik" deutlich, die die Arbeit des DAWI prägte.231 Daraus ergaben sich drei grundlegende Aufgaben, die Franz A lfred Six für das Jahr 1941 folgendermaßen beschrieb: An erster Stelle stand die Ausbildung "landeskundlicher Spezialisten", bei der sprachliches Können mit landeskundlichem und allgemein politischem W issen einherging - die künftigen "Spezialisten" also nicht nur mit der Kenntnis ihres späteren Einsatzortes, sondern auch mit der nationalsozialistischen Weltanschauung ausgestattet wurden.

Die zweite Aufgabe lag in der selbständigen auslandswissenschaftlichen Forschung, die die politischen Entscheidungen mit vorbereiten sollte und die durch praktische politische Einsätze in den anderen Ländern stimuliert wurde.232

Zum dritten wollte das DAWI eine Ebene schaffen, "auf der sowohl im Reich als auch über die Grenzen des Reiches hinaus politische Fragen m it wissenschaftlichem Emst besprochen werden können."233 Dieser Aufgabe dienten vor allem die verschiedenen Periodika des DAWI, aber auch die Vortragsreihen zur Truppenbetreuung und vor allem die von ihm veranstalteten Ausländerkurse zu Fragen des "neuen Europa", an denen Vertreter aller europäischen sowie auch außereuropäischer Staaten teilnahm en,234 deren politische Einstellung sie zu Handlangem und Kollaborateuren, aber auch zu echten Interessenten einer europäischen Umgestaltung gemacht hatte.

Die deutschen Auslandswissenschaften leisteten damit in Zusam m enarbeit m it der Geopolitik und der Raumforschung einen entscheidenden Beitrag, um die nationalsozialistischen "Neuordnungs"-Pläne vorzubereiten und sie vor allem propagandistisch umzusetzen. Ausgehend von den theoretischen Untersuchungen der G eopolitik erhielt das "Lebensraum'-Konzept hier seine konkrete inhaltliche Ausformung, die exakt die Verhältnisse in den betreffenden Ländern zugrundelegte und so die spezifischen M öglichkeiten ihrer künftigen Einordnung in das deutsche "Europakonzept" auszuloten versuchte. In enger Verbindung von Forschung, Publikation und Lehre multiplizierten sich die so gewonnenen Thesen über die deutschen Grenzen hinaus und erhielten besonders bei der Organisation der Besatzungsstrukturen eine große W ertigkeit als Weg

230 Vgl. Bericht der Forschungs- und Publikationsabteilung, 4. April 1942, BA Abt. Potsdam, R 49.02, Nr. 4999, Bl. 3. 231 Vgl. F.A. Six: Das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut im Jahre 1941, in: Jahrbuch der Weltpolitik, 1942, S. 877-883, S. 877. 232 Vgl. ebenda, S. 878f. 233 Vgl. ebenda, S. 880. 234 Vgl. ebenda, S. 881.

bereiter der "Neuordnung".

Wissenschaft und Wissenschaftler waren weitgehend instrumentalisiert und den politischen Vorstellungen und Notwendigkeiten des deutschen Expansionsprogramms untergeordnet worden. Dessen ungeachtet entwarfen sie ein Bild von "Europa", das in seiner eindeutig propagandistischen Färbung unbestreitbare Wirkungen erzielte.

Die wissenschaftliche Ausgestaltung der "Neuordnungs"-Idee" bewegte sich dabei in einem sehr engen ideologisch und politisch bestimmten Rahmen, der ihre Entfaltung zwar erst ermöglichte, ihr aber von Anfang an deutliche Grenzen auferlegte. Allerdings entstanden auch in diesen Grenzen durchaus interessante Forschungsansätze, deren Wertigkeit aber nur an ihrer letztlich unbedingten Anerkennung der expansiven Politik des NS-Staates gemessen werden kann und darf. Die eigentliche Perversion der wissenschaftlichen Konzeptionalisierungsansätze lag weniger in ihren Argumenten, sondern vielmehr in der Verbindung der sachlich richtigen Widerspiegelung vorhandener Bedürfnisse und Entwicklungstendenzen mit den aggressiven und expansiven Elementen der nationalsozialistischen Diktatur, die von der "Expertokratie" vorbehaltlos anerkannt wurden.

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