Ärzteblatt Baden-Württemberg 06-2022

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Editorial Medizin und Gesundheitsökonomie: Freunde oder Feinde?

Kein Preis zu hoch für Gesundheit?

D Prof. Dr. M. Schlander

ie „Ökonomisierung der Medizin“ gilt vielen Ärztinnen und Ärzten als wahre Horrorvision. Aber auch unter Gesundheitspolitikern sind die Ansichten darüber geteilt, welche Rolle der Ökonomie in der Medizin zukommen sollte. Geht es um gesundheitsökonomische Evaluationen, dann ist schnell die Rede von der drohenden „Rationierung“ medizinischer Maßnahmen. Bei begrenzten Ressourcen stellt sich in der Tat die Frage nach ihrer besten Verwendung. Und für Ökonomen ist es selbstverständlich, dem erwarteten Nutzen die damit verbundenen Opportunitätskosten gegenüberzustellen. Mit Opportunitätskosten gemeint ist jener Wert, der mit einer alternativen Verwendung der gleichen (im Rahmen von Evaluationen in der Regel finanziellen) Mittel erzielt werden könnte. Das Konzept ist ebenso plausibel wie elementar; wenigstens für alle, die nicht (implizit oder explizit) der etwas utopischen Auffassung anhängen, für Gesundheit sei kein Preis zu hoch – und die der Medizin zur Verfügung gestellten Mittel müssten deshalb grenzenlos sein. Nun leitet seit einigen Monaten ein als meinungsstark geltender, gelernter Gesundheitsökonom das Bundesministerium für Gesundheit. Vor dem Hintergrund absehbarer Finanzierungsengpässe nicht nur der Gesetzlichen Krankenversicherung sollte

Über den Autor Prof. Schlander studierte Medizin und Psychologie (im Nebenfach) an der Universität Frankfurt am Main, Wirtschaftswissenschaften an der University of Seattle in Washington und Gesundheitsökonomie an der Stockholm School of Economics und ist seit 2017 Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Heidelberg sowie Gründer und Leiter des Bereichs Gesundheitsökonomie am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg (DKFZ).

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also gesundheitsökonomisches Gedankengut zukünftig eine größere Rolle spielen. Was kann man sich davon erhoffen – oder was muss man befürchten? Zunächst muss festgehalten werden, dass das Streben nach „Effizienz“ gerade nicht gleichbedeutend mit einseitiger Kostenfixierung ist. Wenn damit ein angemessener Wert geschaffen werden kann, dann kann auch ein großer Ressourceneinsatz, mithin hohe Kosten, wohlbegründet sein. Für den Nachweis, dass dem so ist, braucht es ersichtlich eine adäquate Kosten-Nutzen-Evaluation – verzichtet man darauf, nimmt man in Kauf, in vielen Fällen gar nicht wissen zu können, ob eine Maßnahme wirtschaftlich ist oder eben nicht. Es gibt sehr viele – manchmal überraschende – Beispiele für positive Ergebnisse gesundheitsöko­no­ mischer Evaluationen. So zeichnet sich labormedizinische Diagnostik über sehr weite Strecken durch ein ausgezeichnetes Verhältnis von Kosten zu Nutzen aus, auch wenn – natürlich! – der Nutzen im konkreten Anwendungsfall von den Konsequenzen abhängt – also dem sich aus Vortest-Wahrscheinlichkeit (Prävalenz), klinischer Sensitivität und klinischer Spezifität ergebenden prädiktiven Wert im Zusammenspiel mit den Auswirkungen auf nachfolgende Entscheidungen und wiederum deren Wirkungen. Ein anderes Beispiel ist die aufwendige Versorgung von Krebs­patienten in zertifizierten Zentren, die nicht nur bessere Outcomes für die Patienten bietet, sondern für die wir erst unlängst – zunächst für Darmkrebserkrankungen – in Kooperation mit Wissenschaftlern am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Dresden zeigen konnten, dass die Kosten pro Patient selbst unter konservativen Annahmen sogar niedriger sind im Vergleich zur Versorgung in nichtzertifizerten Kliniken. Hier drängen sich weitergehende gesundheits­ ökonomische Analysen zur Verbesserung der medizinischen Versorgung geradezu auf. Weniger eindeutig ist dann schon die Interpretation des Verhältnisses

der krebsbedingten Krankheitslast (beinahe 20 Prozent der gesamten Krankheitslast der deutschen Bevölkerung) zu den direkten medizinischen Kosten (anteilig wenig mehr als 6 Prozent der deutschen Gesundheitsausgaben) der gemeinhin als teuer geltenden Krebsmedizin – denn damit alleine ist über ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis noch nichts ausgesagt. Noch schwieriger verhält es sich mit manchen (nicht allen!) Programmen zur Prävention und Früherkennung von Krankheiten. Schon der Nachweis des Nettonutzens ist nicht immer einfach zu führen angesichts des notwendigen Zeithorizonts. Dazu tritt, dass oft erst risikoadaptierte Zielgruppenstrategien zu einem vertretbaren Verhältnis der großen Anzahl einzubeziehender Personen zum erwarteten Gesundheitsgewinn für einige Wenige führen. Bislang hat in Deutschland gesundheitsökonomisches Denken eine eher geringe Rolle gespielt. Das mag mit der im internationalen Vergleich großzügigen Ausstattung des hiesigen Gesundheitssystems zusammenhängen, vielleicht auch mit historischen und kulturellen Konnotationen. Und doch ist es etwas überraschend, wenn man etwa die angelsächsischen Länder betrachtet. Von dort zu lernen sollte auch einschließen, dort gemachte Fehler nicht zu wiederholen. Denn reduktionistische Konzepte, wie sie konventionellen Berechnungen von Kosten je „qualitätsadjustiertem Lebensjahr“ (QALY) zugrunde liegen, sollten besser nicht kopiert werden. Vielmehr wird die gesundheitsökonomische Evaluationsmethodik vermehrt auch die soziale Dimension der Gesundheitsversorgung einbeziehen müssen. Daran, dass dies geschieht, sollten gerade Ärztinnen und Ärzte ein starkes Interesse haben – zumal es guten Grund zu der Annahme gibt, dass der „statistische (!) Wert“ eines Lebensjahres deutlich höher sein dürfte als in der angewandten Gesundheitsökonomie herkömmlicherweise angenommen. Prof. Dr. Michael Schlander


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