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126. Deutscher Ärztetag
126. Deutscher Ärztetag
BundesärztekammerPräsident Dr. K. Reinhardt Ende Mai wurde beim 126. Deutschen Ärztetag eine Woche lang Gesundheitspolitik in Bremen gemacht: 250 ärztliche Abgeordnete aus ganz Deutschland, darunter 31 aus Baden-Württemberg, setzten gesundheitspolitische Impulse, berieten wichtige gesundheits- sowie berufspolitische Themen und fassten weitreichende Beschlüsse. Das Treffen des Ärzteparlamentes fiel in politisch besonders herausfordernde Zeiten: Die Corona-Pandemie geht in ihr drittes Jahr; hinzu kommen die humanitären Folgen des Ukraine-Krieges. Eröffnet wurde Foto: Jürgen Gebhardt der Ärztetag von Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhardt im Beisein von Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach. In ihren Ansprachen ging es unter anderem um alte Baustellen: Den Ärztemangel, die lahmende Digitalisierung, die Krankenhausfinanzierung oder den Pflegenotstand. An vielen Stellen konnte Minister Prof. Lauterbach bei der Ärzteschaft punkten: „Wir brauchen mehr Medizinstudienplätze“, „weniger Bürokratie“ und eine Digitalisierung des Gesundheitswesens, die auch wirklich in der Praxis funktioniere.
Aber er musste auch Kritik von der Ärzteschaft hinnehmen, die sich mehr Mitspracherecht bei großen Veränderungen wie etwa der anstehenden Krankenhausreform wünscht, betonte Dr. Reinhardt. Ein weiteres Anliegen konnte Prof. Lauterbach kaum abwehren – denn es wurde ihm persönlich als „Gastgeschenk“ überreicht: Ein dickes Buch mit der Aufschrift „GOÄ“, dem Entwurf einer Novelle der Gebührenordnung für Ärzte – ein Dauerstreitpunkt schon seit Jahren. „Geschehen ist bisher nichts und wir empfinden das als Affront“, bemängelte Dr. Reinhardt unter großem Beifall. Der Minister dämpfte allerdings die Hoffnung, dass sich daran bald etwas ändert, da er das „filigrane Gleichgewicht“ zwischen gesetzlichen und privaten Versicherungen nicht verschieben wolle. Er nahm den Wälzer entgegen, schmunzelte und sagte: „Ich werde das vorurteilsfrei prüfen.“

Zahlreiche Beschlüsse
Die Debatten und Beschlüsse des Ärztetags widmeten sich einer überaus breiten Themenpalette, die im Rahmen dieser Berichterstattung allenfalls angerissen werden kann. Alle Beschlüsse im Wortlaut sowie dazugehörige Begründungen sind im Online-Portal der Bundesärztekammer nachzulesen: 126daet.baek.de
Reformen im Gesundheitswesen
Im Leitantrag wurde der Gesetzgeber aufgefordert, wichtige Reformen im Gesundheitswesen jetzt umzusetzen. Insbesondere seien die ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen patientengerecht, sektorenverbindend und digital vernetzt auszugestalten. Zudem sei die Gesundheitskompe tenz der Bürgerinnen und Bürger zu stärken sowie die Forschungsförderung zur Pandemieprävention auszubauen. Der Mensch müsse der Maßstab des politischen Handelns sein. Die Ausgestaltung der ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen, die Versorgungsplanung, die Vergütung sowie die digitale und personelle Vernetzung der Versorgungsbereiche müssten sich am tatsächlichen Bedarf der Patientinnen und Patienten orientieren und nicht ausschließlich an ökonomischen Parametern oder an einem überkommenen Sektorendenken ausrichten.
Gesundheit von Kindern und Jugendlichen
hier vor allem mit den körperlichen, psychischen und seelischen Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche. Die Ärzteschaft hatte seit jeher darauf aufmerksam gemacht, dass junge Menschen extrem unter dem Pandemiegeschehen zu leiden hatten und dass deren Bedürfnisse zu wenig im Fokus waren. Nun widmete der Ärztetag dem Thema einen eigenen Tagesordnungspunkt – auch, um Kindern und Jugendlichen „eine Lobby zu geben“, wie Dr. Reinhardt betonte. Den Abgeordneten ging es darum, die Pandemiefolgen, die Kinder und Jugendliche mit am härtesten getroffen hatten, aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und Gegenakzente zu setzen.
Mehrere Referate präsentierten Daten, brachten Erkenntnisse vor und führten dem Ärzteparlament Zusammenhänge vor Augen. So stellten sie unter anderem Faktoren heraus, die Kinder und Jugendliche gesund bleiben lassen (Bewegung, Begegnungen in verschiedenen sozialen Settings etc.) und machten deutlich, wie die Lockdowns positive Entwicklungen unterminiert beziehungsweise sogar teils zu psychischen Abhängigkeiten und körperlichen Einschränkungen geführt hatten. Die Experten kritisierten, dass viel über die Köpfe junger Menschen hinweg entschieden
Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. K. Lauterbach mit GOÄ„Gastgeschenk“


worden war. Zudem berichtete die Generalsekretärin der Bundes-Schülerkonferenz in einem Videogrußwort aus erster Hand von Pandemieerfahrungen der Betroffenen.
Nach der Debatte unterstützen die Abgeordneten aus dem Südwesten mit Entschließungen und Anträgen das Vorhaben von Dr. Reinhardt, einen „Schutz- und Rettungsschirm für Kinder und Jugendliche“ aufzuspannen und die Politik zum Handeln zu bewegen. Die baden-württembergischen Delegierten beteiligten sich maßgeblich mit daran, mit breiter Mehrheit Maßnahmen auf den Weg zu bringen – darunter die Aufforderung, eine fundierte Evaluation der Corona-Maßnahmen anzustoßen und Gemeinschaftseinrichtungen beispielsweise durch bessere digitale Infrastruktur und Einbau von Luftfiltern „pandemiefester“ zu machen.
Ebenfalls großen Anklang fanden die Aufforderungen an den Bundesärztekammer-Vorstand, sich für die Absicherung und Erweiterung therapeutischer Angebote für Kinder und Jugendliche starkzumachen und die Einführung des Unterrichtsfaches „Gesundheit“ an Schulen zu forcieren – dies vor dem Hintergrund, junge Menschen möglichst früh in puncto Gesundheitskompetenz und Krankheitsprävention fit zu machen.
Triagegesetz
Die Ärzteschaft hat ihre Forderung bekräftigt, in die aktuellen Beratungen über ein sogenanntes Triagegesetz im Gesundheitswesen eingebunden zu werden. In der Debatte über eine gesetzliche Regelung müsse berücksichtigt werden, dass sich die behandelnden Ärztinnen und Ärzte im Fall einer pandemiebedingten Triage in einer extremen Entscheidungssituation befinden, heiß es dem Beschluss. Dafür müsse sichergestellt sein, dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden werde. Unabdingbar sei es, dass Ärztinnen und Ärzte sich keinen rechtlichen Risiken aussetzen, wenn sie eine einzelfallbezogene Entscheidung zur priorisierten Allokation medizinischer Ressourcen treffen.
Gesellschaft des langen Lebens
Der Ärztetag appellierte an die Bundesländer, die Zahl der staatlich finanzierten Medizinstudienplätze in Deutschland kurzfristig um mindestens 6.000 zu erhöhen. Dies sei notwendig, um den steigenden Versorgungsbedarf in einer Gesellschaft des langen Lebens zu decken. Zudem stehe die Ärzteschaft in Deutschland vor einer enormen Ruhestandswelle. Rund zwanzig Prozent der Ärztinnen und Ärzte schieden in den kommenden Jahren altersbedingt aus dem Berufsleben aus.
Streichung des § 219a
Die von der Bundesregierung angestrebte Streichung des § 219a StGB wurde begrüßt. Dieser regelt bislang das Verbot, für Schwangerschaftsabbrüche zu werben. Durch diese Regelung konnte schon die sachliche Ankündigung, in einer ärztlichen Institution Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, zu Strafverfolgung führen.
Ärztliche Weiterbildung
Ärztinnen und Ärzte können während ihrer Weiterbildungszeit mit verschiedenen Lebenssituationen konfrontiert sein, die Auswirkungen auf die zu absolvierende Weiterbildungszeit haben. Die Abgeordneten haben daher die Muster-Weiterbildungsordnung flexibilisiert. Nach entsprechender Verabschiedung dieser Regelung auch auf Landesebene können künftig individuelle Sachverhalte und Anliegen der Ärztinnen und Ärzte für die Weiterbildung Berücksichtigung finden sowie flexiblere, sachgerechte und einzelfallbezogene Entscheidungen getroffen werden. Ferner haben die Delegierten eine bundeseinheitliche, regelmäßige anonymisierte Evaluation der Weiterbildung gefordert, aus deren Ergebnissen Konsequenzen gezogen werden sollen, um die Weiterbildung stetig zu verbessern.
Novellierung der Berufsordnung
Baden-Württembergs Kammerpräsident Dr. Wolfgang Miller und sein saarländischer Amtskollege Dr. Josef Mischo berichteten über jüngste Entwicklungen in einem Bereich, der Ärztinnen und Ärzte unmittelbar im Berufsalltag betrifft: Formen der Zusammenarbeit. Im Wesentlichen geht es um Auswirkungen einer Reform des Gesellschaftsrechts und die Frage, wie sich Personen
Foto: Jürgen Gebhardt
zusammenschließen und beruflich zusammenwirken können. Rechtsformen wie OHG, KG oder GmbH – eher mit Begriffen wie Handel, Gewinn und Profit assoziiert – sollen für freie Berufe geöffnet werden. Hiervon wäre auch die Ärzteschaft betroffen, sofern sich das Berufsrecht nicht dagegenstellt. – Kommt das für den Arztberuf infrage? Dr. Miller informierte hierüber als Co-Vorsitzender des zuständigen Ausschusses Berufsordnung das Ärzteparlament und führte den Delegierten das Spannungsfeld vor Augen: Die badenwürttembergische Ärztetags-Delegation
BadenWürttembergs Kammerpräsident Dr. W. Miller
Plenum des Deutschen Ärztetags
Die Öffnung im Gesellschaftsrechts sei eine Chance für Ärztinnen und Ärzte, selbst als Gesellschafter ihre Tätigkeit in einem Rechtsrahmen auszuüben, der bisher beispielsweise Apothekern und steuerberatenden Berufen vorbehalten war. Allerdings müsse dabei die vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung gewahrt werden. Dabei sind die Regeln im Gesellschaftsrecht, im Sozialrecht und auch länderspezifische Regelungen zu beachten. Der Landtag von Baden-Württemberg war hier mit seinem Heilberufe-Kammergesetz von 2021 vorangegangen und hatte bereits einige Grundsätze formuliert. Ziel müsse jetzt sein, möglichst sinnvolle und abgestimmte Regeln zu formulieren. Möglicherweise könne es so auch besser gelingen, etwa den MVZs in Hand von Finanzinvestoren Strukturen in ärztlicher Trägerschaft entgegenzustellen.
Baden-Württembergs Kammerpräsident verwies auf bereits heute gelebte Realitäten des Arztberufs: Arbeiten im MVZ, tätig sein als niedergelassener Arzt und parallel angestellt in der Klinik, Ärztinnen und Ärzte, die Kolleginnen und Kollegen anstellen, auch über Fachgruppengrenzen hinaus. Dem müsse die Berufsordnung Rechnung tragen. Dr. Miller machte klar, dass es letztlich darum gehe, Entwicklungen nicht zu verpassen, sondern dem eigenen Kontext anzupassen. „Wir müssen unsere Berufsordnung sozusagen danebenlegen, Chancen und Risiken abwägen“, sagte er. Wichtig sei, ein unbelastetes Arzt-Patienten-Verhältnis sicherzustellen.
Parallel soll die Systematik der Muster-Berufsordnung in den betreffenden Paragrafen neu gefasst werden. Aktuell befinde man sich im Abstimmungsprozess auch mit den anderen Landesärztekammern, damit die Abgeordneten kommender Ärztetage gut informiert eine Richtungsentscheidung hinsichtlich der (Muster-)Berufsordnung treffen könnten. Auch in der anschließenden Aussprache wurde der Wunsch nach einer zeitgemäßen Berufsausübung unter Wahrung der ärztlichen Unabhängigkeit bekräftigt.

Foto: OE
Südwest-Abgeordnete sehr aktiv
Die 31 Ärztetags-Abgeordneten aus dem Südwesten zeigten starke Präsenz beim Ärztetag, beteiligten sich intensiv mit Redebeiträgen an den Plenardebatten und legten zahlreiche eigene Anträge zur Abstimmung vor. Beispielhaft seien einige Überschriften genannt: Medizinische Versorgung besser koordinieren; Feststellung und Heilbehandlung übertragbarer Krankheiten gehört ausschließlich in ärztliche Hand; Bürokratieaufwand in Arztpraxen reduzieren; Forderung nach Einführung fächerübergreifender Module zur Sucht-/ Abhängigkeitsmedizin im Hauptstudium; Familienfreundlichkeit für alle; Aktive Nachwuchsförderung auch in der Weiterbildung dringend notwendig; Krankenkassen sollen für nicht gerechtfertigte Regresse zahlen; Impfen gehört nicht an den Verkaufstresen; Zuständigkeit und Verantwortung der interprofessionellen Zusammenarbeit; Integration von Praktikern in die Kommission Krankenhaus; Intensivierung der Fortbildung zu potenziellen Gefahren der Digitalisierung; Coronaprämie für Medizinische Fachangestellte und ambulant tätige Assistenzberufe; MFA-Bonus: Gewährung eines staatlich finanzierten Bonus; Imagekampagne Berufsbild Medizinische Fachangestellte; Gegenfinanzierung der Lohnentwicklung für MFA und ambulant tätige Assistenzberufe; Reaktivierung berenteter Medizinischer Fachangestellter; Cannabislegalisierung – effektive Prävention; Gebührenordnung für Ärzte jetzt umsetzen; Finanzielle Mittel zur Transformation der Einrichtungen des Gesundheitswesens zur Klimaneutralität bereitstellen; Aktive Nachwuchsförderung auch in der Weiterbildung dringend notwendig.
KBV-Vertreterversammlung
Einen Tag vor Eröffnung des Deutschen Ärztetags trat die 60-köpfige Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zusammen, darunter fünf Mitglieder aus Baden-Württemberg. Der Vorstandsvorsitzende Dr. Andreas Gassen appellierte an den Bundesgesundheitsminister, bei den Digitalisierungsvorhaben der gematik strategisch umzusteuern: „Wenn Sie Ihre Aussage ernst meinen, dass es bei der Digitalisierung erstens um Versorgungsverbesserungen gehen muss, zweitens, dass Funktionalität wichtiger ist als ein Stichtag und drittens, dass Betroffene zu Beteiligten gemacht werden sollen, dann bedarf es einer kompletten Neuausrichtung dieses Prozesses – und eines Machtwortes des Bundesgesundheitsministeriums in Richtung gematik“, sagte Dr. Gassen. Und zum Beifall der Delegierten: „Es darf hier nicht länger der Schwanz mit dem Hund wedeln!“
Die Vertreterversammlung beschloss eine Resolution zur Telematikinfrastruktur, die ein „Schnellprogramm“ fordert. Demnach brauchen die Praxen funktionierende Anwendungen; hierfür seien ein verbindliches Testkonzept für sämtliche Komponenten und Anwendungen sowie ein kontrollierter Rollout-Prozess notwendig. Gefordert wurde auch ein Herstellergipfel im Bundesgesundheitsministerium, in dem sich insbesondere die Anbieter der Dienste und Anwendungen auf eine reibungslose Implementierung der Anwendungen verpflichten.
Diese und zahlreiche weitere Elemente der Resolution machen deutlich, dass die Praxen von den bisherigen Erfahrungen mit der Telematikinfrastruktur frustriert sind und sich eine Digitalisierung wünschen, die sie bei der Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten unterstützt. Alle Beschlüsse, auch zu weiteren Themen, sind online zu finden: www.kbv.de