DIE JUGENDZEIT
Die Einsicht, dass man arbeiten muss, um etwas zu werden, stand schon in früher Jugendzeit zu oberst auf der Liste. Dass es im Leben auch eine andere Seite gibt: ein Gefühlsleben zum Beispiel, Liebe, Anerkennung, Herzenswärme, Verbundenheit, – und wie wichtig all diese Dinge sind, um das zu lernen, brauchte ich längere Zeit. Nachdem ich die Schulferien während der Primarschulzeit in der Heimat meiner Mutter, in Altstätten im Riet und als Tankboy in Marbach verbracht hatte, änderte sich mein Ferienort mit dem Eintritt in die Sekundarschule wesentlich.
Im Welschland
Anfang Mai 1957, mit knapp 12½ Jahren, trat ich in die Sekundarschule Thusis ein. Natürlich hatte ich mir unter den Fittichen meiner Mutter eine gute Aufnahmeprüfung erarbeitet. Gegen Ende Juni, nach kaum zwei Monaten Schule, begannen die zehnwöchigen Sommerferien. Bis dahin brachte uns Lehrer Cajöri im Französisch unterricht ein paar wenige, einfache Sätze bei. Monsieur, Madame, Bonjour oder merci – ein paar Wörter eben. Nach dem Frühjahrsschulschluss, an einem Montagmorgen früh, lief ich, mit meiner Mutter auf die Bahnstation in Thusis. Versehen mit einem kleinen Koffer, einem Bahnbillett nach Vevey am Genfersee und einer Adresse von Mont Pèlerin bestieg ich den Zug der RhB, vorerst in Richtung Chur. Was mich erwartete, wusste ich nicht so recht. Einzig: Jetzt geht’s ab ins Welsche, an einen fremden Ort zu fremden Leuten, die eine fremde Sprache sprechen. An den Abschied von meiner Mutter am Bahnhof Thusis kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber an die Bahnfahrt via Disentis–Brig mit der damaligen Furka-Oberalp-Bahn. Natürlich gab’s den Furka-Basistunnel noch nicht, die Fahrt ging hinauf zum Scheiteltunnel und auf der Walliser Seite wieder hinab nach Gletsch. Zum ersten Mal bekam ich einen richtigen Gletscher zu Gesicht, den aus den Schulbüchern bekannten Rhonegletscher. Seine Zunge endete damals wenig oberhalb der Talsohle von Gletsch. Nach einer langen Bahnfahrt stieg ich am späten Nachmittag in Vevey aus dem Zug, begab mich vor die Bahnhofshalle, schaute mich um: Niemand erwartete mich. Ich fühlte mich einsam und verlassen. Endlich – nach langem Warten vor dem Eindunkeln fuhr ein alter Militärjeep vor. Ein Mann trat auf mich zu, schaute mich an. In seiner Frage war mein Name Silvio enthalten. Er hiess mich aufsitzen und los ging die Fahrt. Zuerst durch die Stadt Vevey, dann einen Hügel hinauf. Die Wege wurden immer schmaler, endlich hielten wir vor einem Bauernhof. 20