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10 | 22.11.2021 | INTEGRATION

«Der Laden war mein Schulzimmer» Raparen Mohammad ist unter Lebensgefahr aus Syrien geflohen. Heute arbeitet sie im Denner Rapperswil und geht der Filialleiterin tatkräftig zur Hand. Text: Michael West  Bild: Daniel Winkler

D

ie junge Frau in der leuchtend roten Denner-Jacke schliesst noch rasch eine Bestellung von frischen Tomaten, Kartoffeln und Gurken ab. Dann nimmt sie sich Zeit, um im kleinen Büro ihrer Filiale aus ihrem Leben zu erzählen. Raparen ­Mohammad (29) spricht makelloses Hochdeutsch und versteht sehr gut Mundart. Dabei hat sie erst vor sieben Jahren Zuflucht in der Schweiz gefunden. Den grössten Teil ihres Lebens hat sie im Nordosten Syriens verbracht. Aufgewachsen ist sie in der multikulturellen Stadt Qamischli nahe der Grenze zur Türkei. Ihre Eltern sind Kurden; der ­Vater arbeitete als Bäcker. ­«Beide wollten immer nur das Beste für mich und meine sechs Geschwister», sagt Raparen ­Mohammad. «Wir sollten in Freiheit leben und unseren eigenen Weg gehen.» Weil sie gute Noten hatte, konnte sie nach der Schule ein Studium anfangen. Sie träumte davon, Psychologin zu werden. Von Extremisten bedroht Als im Frühling 2011 der Bürger-

krieg in Syrien ausbrach, wurden alle Pläne hinfällig. Mohammads Eltern fürchteten, Qamischli

könnte von der Terrormiliz IS ­erobert werden, und h ­ atten entsprechend Angst um das Leben und die Freiheit ihrer ­Kinder. 2012 flüchtete darum die ganze Familie über die nahe Grenze. Ihr Ziel war Westeuropa, doch die Eltern und ihre sieben Kinder mussten zuerst ein Jahr lang ­unter schwierigen Bedingungen in der Türkei ausharren. Um ­etwas zum Lebensunterhalt beizutragen, schuftete Raparen ­Mohammad dort in e­ iner Kleiderfabrik. Schliesslich vertrauten die Familienmit­glie­der ihr Leben einer Schlepperbande an und mussten danach auf getrennten Wegen weiterreisen. Zusammen mit einer Schwester gelangte Raparen Mohammad

«Im Vergleich zu all den Flüchtlingen, die im Meer ertrunken sind, hatte ich grosses Glück.» Raparen Mohammad

zuerst nach Bulgarien. «Dort ­gerieten wir in Lebensgefahr», berichtet sie. «Zusammen mit etwa 50 anderen Flüchtlingen wurden wir in einem Lastwagen zusammengepfercht. Die Fahrt sollte nach Wien gehen, doch unterwegs wurde die Luft knapp. Ich hatte immer wieder Angst ­ zu ersticken. Die Türen des Lastwagens waren verriegelt, es gab kein Entkommen.» Mohammad sucht kurz nach Worten und sagt dann: «Es ist eine Erfahrung, die ich nie­man­ dem wünsche. Doch im Vergleich zu all den Flüchtlingen, die im Meer ertrunken sind, ­hatte ich grosses Glück.» Nach der Ankunft in Österreich traten die beiden völlig entkräfteten Frauen die letzte Etappe ihrer Reise an: Sie fuhren in die Schweiz und stellten hier einen Asylantrag. Sie und die Schwester besitzen inzwischen einen Ausweis F. Sie gelten also als vorläufig aufgenommene Ausländerinnen. Die übrige ­Familie hat in Deutschland Asyl erhalten und lebt heute im Bundesland Niedersachsen. Im Laden viel gelernt

Schon in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft prägte sich ­Raparen Mohammad möglichst viele deutsche Wörter ein. Und


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