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«Squid Game» zum Znüni

Nichts für Kinderaugen

Die südkoreanische Brutaloserie Squid Game sorgt für Hektik an den Schulen und für Aufruhr bei den Eltern: Was soll man tun? Verbieten? Mit den Kindern darüber reden? Zwei Medienexperten geben Auskunft.

Text: Benita Vogel

Eine überdimensionale Roboterpuppe im orangen Kleidchen mit zwei Zöpfchen steht vor einem Baum. Neben ihr wachen zwei Figuren in roten Overalls mit schwarzen Masken. Hinter ihr lauern 456 Frauen und Männer im grünen Trainingsanzug mit Nummern auf dem Rücken. Schaut die Puppe zum Baum und singt, dürfen sich die Menschen im grünen Trainingsanzug bewegen. Dreht sie sich aber um, müssen alle Grünen stillstehen.

Das Spiel «Green Light – Red Light», besser bekannt als «ZeitunglesenStopp», ist eine der ersten Szenen der südkoreanischen Netflix-Serie «Squid Game». In fünf weiteren Kinderspielen wie Seilziehen, Murmelspiel und Himmel und Hölle müssen die Teilnehmenden gegeneinander antreten. Sie sind alle hoch verschuldet und wegen des versprochenen Millionengewinns für die Gewinner mit von der Partie. Auf dem Spiel steht aber nicht nur Geld. Wer verliert, bezahlt mit dem Leben. Der Plot ist nicht «nur» brutal, er wirft auch einen kritischen Blick auf die Leistungsgesellschaft und den kapitalistischen Wettkampf – und liefert sozusagen eine Metapher für den Killerkapitalismus.

Die Serie mit Altersfreigabe ab 16 stürmt die Netflix-Charts, die Berichte darüber führen die Meistgelesen-Ranglisten auf Newsportalen an. Seit bekannt wurde, dass Kinder Spiele aus «Squid Game» auf den Pausenhöfen nachspielen und Verlierer verprügeln, sind viele Eltern in Aufruhr und die Schulen alarmiert. Viele Gemeinden haben die Schulleitungen in Rundschreiben zu Wachsamkeit aufgerufen.

Wir haben Kim Gray, Fachmitarbeiterin von zischtig.ch*, und Philippe Wampfler, Medienpädagoge, Sekundarlehrer und Kulturwissenschaftler, gefragt, wieso «Squid Game» fasziniert, was gefährlich daran ist und wie Kinder und Jugendliche damit umgehen könnten.

*Der Verein zischtig.ch, spezialisiert auf Medienbildung und Prävention, schult jährlich Tausende Schülerinnen, Schüler und Eltern. Mehr Infos: klicktipps.net, saferinternet.at und www.migmag.ch/squidgame

Bild: Netflix

Warum fasziniert «Squid Game»?

Das Design, die Uniformfiguren, die Melodie – die Serie ist gut gemacht, wie ein buntes Computergame. Sie nimmt vielschichtige aktuelle Themen auf. «Der Erfolgsdruck oder der Wettbewerb, in dem man steht, spricht Erwachsene an», sagt der Medienpädagoge Philippe Wampfler. Und der Hype bei den Erwachsenen färbe auf Jugendliche und Kinder ab. Diese seien neugierig. «Gewalt fasziniert Jugendliche per se – das muss nicht negativ sein.» «Jüngere Kinder knüpfen bei den Kinderspielen an, die sie nachspielen», wie Kim Gray vom Verein zischtig.ch ergänzt. Die können sie einfach nachspielen. «Die Serie eignet sich mit den Maskenfiguren und den weissen Symbolen auch gut, um sie beispielsweise als Filter auf anderen Kanälen wie Tiktok weiterzuverwenden», so Gray. Bei vielen Kindern und Jugendlichen gehe es auch darum, auf dem Pausenplatz mitreden zu können, um den Kick,

etwas Verbotenes zu tun, oder darum, Gspänli mit den Bildern zu schocken. «Auch wenn einige Jugendliche gezielt nach Inhalten von ‹Squid Game› suchen, stossen die meisten Kinder auf Kanälen wie Tiktok, Youtube oder Roblox unabsichtlich darauf», so Gray. Dort gibts inzwischen unzählige Kurzvideos und Spiele zur Serie.

Gemäss den Experten haben denn auch die wenigsten die Originalserie auf Netflix wirklich gesehen, wo sie erst ab 16 Jahren freigegeben ist.

Antreten zum Spiel um Geld und Leben. Die Mitspielerinnen und spieler in roter Uniform sind die Maskenfiguren.

Wie gefährlich ist die Serie für Kinder und Jugendliche?

Die Gesellschaftskritik der Serie bekommen Kinder und Jugendlichen laut Kim Gray meist nicht mit: «Die Zusammenhänge sind zu komplex.» Sie sehen unter Umständen nur die Pistolen, das Blut und angstverzerrte Gesichter. Gewalt per se sei nicht nur negativ, so die Experten. «Es ist eine Form, Aggressionen auszuleben und damit umzugehen», sagt Philippe Wampfler. Viele Jugendliche können sich recht gut abgrenzen. Bei Jüngeren ist es anders. «Brutalität kann Kinder überfordern und ihnen Angst machen», sagt Gray. Es sei wichtig, Kinder mit ihren Gefühlen nicht alleine zu lassen. «Gespräche anbieten und Trost und Geborgenheit spenden ist das Beste, was Eltern tun können.»

Auch wenn die Verbreitung von «Squid Game» auf Pausenplätzen sehr unterschiedlich ist, ist das Nachspielen nicht per se schlecht. «Die Kinder leben Fantasien aus», so Wampfler. Heikel werde es, wenn die Empathie verloren gehe und Kinder geschlagen würden. «Die Uniformfiguren der Serie, schwarze Masken und ritualisierte Gewalt können dazu führen, dass Kinder meinen, dass alle Maschinen sind.» Man müsse erklären, dass es sich um Menschen handle, die man weder schlage noch ihnen Schmerzen zufüge. Gewalt werde aber nicht einfach eins zu eins von der Serie auf den Pausenplatz übersetzt, sagen beide Experten. «Wenn Gewalt ins Spiel kommt, ist das oft nicht wegen einer Serie oder eines Computergames. Ursachen sind eher Mobbing, angespannte Gruppenkonstellation oder Kinder, die ihre Impulse nicht kontrollieren können», so Wampfler.

Was sollen Eltern tun?

Die beiden Experten gehen einig: Die Serie mit Kindern gemeinsam zu schauen, ist nicht die richtige Lösung. «‹Squid Game› ist nichts für Kinderaugen», sagt Gray klipp und klar. Bei Jugendlichen, die knapp 16 Jahre alt seien und die Altersfreigabe damit erfüllten, könnten Eltern es in Betracht ziehen, die Serie gemeinsam zu schauen. Der Vorteil: Die Jugendlichen haben jemanden, der ihnen hilft, das Gesehene einzuordnen. «Eltern kennen ihre Kinder meist am besten und merken, wenn etwas überfordert.» Es empfiehlt sich für Eltern, die Serie erst einmal allein zu sehen und krasse Passagen beim gemeinsamen Schauen zu überspringen.

Jüngeren Kindern soll man die Serie und das Thema trotzdem nicht vorenthalten. «Eltern können ihre Kinder und Jugendlichen nicht vor Hypes wie ‹Squid Game› schützen», betont Wampfler. «Wenn Eltern das Thema tabuisieren, machen sie einen schlechten Job.» Ein achtjähriges Kind sollte wissen, dass es eine koreanische Serie gebe mit Kinderspielen, die verstörend sein könnten. «Eltern müssen Kindern klarmachen, dass es wichtig ist, auch im Umgang mit Medien auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und Wege zu finden, damit umzugehen», so Experte Wampfler. Denn Hypes wie «Squid Game» werde es noch einige geben.

Gray empfiehlt, jüngere Kinder zu fragen, ob sie neuerdings in der Schule «Zeitunglesen-Stopp» oder Seilziehen spielen und was mit den Kindern geschehe, die verlieren. «Es lohnt sich, genau nachzufragen: Hast du davon gehört, hast du Serieausschnitte selbst gesehen oder nur davon gehört?» Vielen Kindern und Jugendlichen helfe es, wenn Eltern klar sagten: «Wir finden es nicht gut, wenn du dir solche Sachen anschaust, aber wir sind jederzeit für dich da, wenn du Fragen dazu hast, Angst, oder dich etwas belastet.»

«Hypes wie ‹Squid Game› bieten immer auch Chancen, gemeinsam über Werte zu sprechen. Die sollte man ergreifen», so Gray.