FREILICH Ausgabe 15

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POLITIK

Interview: Frank Böckelmann über ’68er, das große Rauschen und die Unruhe, die es braucht. S. 10 AUSLAND

Dänen lügen nicht Was wir von Migrations- und CoronaPolitik der Dänen lernen. S. 50 ÖSTERREICH

Der schwarze Faden Zwei Polit-Autoren decken die Netzwerke von Kurz & Co. auf. S. 86

DAS MAGA ZIN FÜR SELBSTDENKER Ausgabe No 15 / 2021

freilich-magazin.at � Ö & DE: € 13,00 / CHF 13,00

DEZEMBER 2021

SCHWERPUNKT

Links. Rechts. Die einen denken so. Die anderen so. Leider gibt mehr solche. Wie sich Linke und Rechte umkreisen. Und warumwir mit dem Spiel mehr Spaß haben sollten. Seite 10

BBC Wildlife Photographer of the Year – Die besten Naturfotos des letzten Jahres S. 66



EDITORIAL

Werte Leser! Z

u Sebastian Kurz wollen wir hier vorerst keine Worte verlieren. Es bleibt abzuwarten, was die Ermittlungen der österreichischen Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen den ehemaligen österreichischen Bundeskanzler zutage bringen. Sicher ist, dass innerhalb kurzer Zeit die fällige Entzauberung eines über alle Maßen kampagnengestützten Berufspolitikers stattfand. Der fälschlicherweise als Konservativer bezeichnete 35-Jährige scheint jedenfalls das besonders signifi kante Exemplar eines Berufsstandes zu sein, der allein durch seine Existenz das demokratische System ad absurdum führt. Denn die Personalauswahl in den Parlamenten der sogenannten „Mediendemokratie“ wird nahezu ausschließlich durch das Instrument der Wahlliste bestimmt. Das etablierte Parteiensystem, dominierende Einflusscliquen und Seilschaften sorgen für die Personalauslese der häufig selten genug vorhandenen Kompetenten. Hans Herbert von Arnim stellt dazu fest: „Ein Ausbildungsgang für Berufspolitiker scheiterte bisher […] an einem Dilemma: Was für die Karriere von Politikern am wichtigsten ist, kann man offiziell nicht lehren, ohne das sorgfältig abgedunkelte innere Wesen des Systems aufzudecken. Und das, was man lehren könnte, also die Bedingungen und Konsequenzen rationaler, am Gemeinwohl orientierter Politik, ist für das persönliche Fortkommen eines Politikers nicht wirklich wichtig, sondern oft geradezu hinderlich.“ Im österreichischen Nationalrat mit seinen 193 Plätzen sind 83 Abgeordnete hauptberuflich in der Politik, und im Deutschen Bundestag, der nach der letzten Wahl 736 weiche Sessel bietet, sind es in jedem Fall mehr als die Hälfte. Doch eigentlich sitzen ausschließlich Berufspolitiker in den deutschsprachigen Parlamenten, denn mit der Vollalimentation als Abgeordnete sind Bezüge aus einem Arbeitsverhältnis oder aus Beraterverträgen normalerweise nicht nötig. Diese Versorgungssituation bringt den Nachwuchs in den Parteien häufig dazu, die Berufslaufbahn des Politi-

Meine Leseempfehlungen:

U LR ICH NOVA K Chefredak teur

kers zu wählen. Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung sieht in der Abgeordnetensoziologie des Deutschen Bundestages Merkmale einer zunehmenden Professionalisierung und Verfestigung des Mandates. Dies komme der Kommunikation des Parlamentes gegenüber der Wählerschaft nicht zugute. Zusätzlich konstatiert der Publizist Wolfgang J. Koschnick, dass sich der Parteienstaat als monopolistisch agierendes Machtkartell vom „Volk – immerhin dem Verfassungssouverän – völlig entfremdet hat“. Und: „Wer einmal im Parlament ist, kommt immer wieder hinein, wenn er will und in der Zwischenzeit keine silbernen Löffel gestohlen oder gegen die Fraktionsdisziplin verstoßen hat. Die Strukturen verfestigen sich von Wahl zu Wahl.“

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as schon von Plato erhobene Postulat, dass nur die Besten in die regierende Gruppe kommen sollten, scheint so neutralisiert. Einen Eliteanspruch, der über herausragende Leistungen oder eine Askeseforderung legitimiert ist, kann das politische Personal weder in Berlin noch in Wien für sich beanspruchen. Schlimmer noch, es sind deutliche Zeichen des Verfalls erkennbar. Arnold Gehlen sieht die Dekadenz selbst ernannter Eliten auf immer gleiche Weise zustande kommen: „Hat eine Gruppe Autorität und Geltung erlangt, so pflegen sich damit Privilegien und alle möglichen Chancen bevorzugten Erwerbs einzustellen, und nun liegt es nahe, die Gruppe zu schließen und diese Chancen zu monopolisieren. Dann pflegen – um mit einem biblischen Wort zu sprechen – die Füße derer, die sie heraustragen werden, schon vor der Tür zu stehen.“ Frohe Festtage und ein erfolgreiches, gutes neues Jahr!

Seite 10 / INTERVIEW / Frank Böckelmann

„Bei mir schrillen die Alarmglocken“ Seite 34 / ESSAY / Benedikt Kaiser

Der kommende Konservatismus N °15 / D E Z EM B ER 2021

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„Bei mir schrillen die Alarmglocken …“: Frank Böckelmann über die nötige gesellschaftliche Unruhe.

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Editorial

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Inhalt

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Impressum

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Ansichtssache: Wiener Coronaknaben Global gerade nicht mehr im Einsatz, dafür aber sicher lokal getestet: Das Bundesheer bohrt in den Nasen der Sängerknaben.

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Kurz & bündig: aktuelle Neuigkeiten Green Jobs? Und ein gutes Geschäft: Neue Politische Studie dokumentiert den lohnenden Marsch der Grünen durch die Institutionen – Der schwarze Faden: Ein neuer POLITIKON-Band untersucht das Netzwerk der ÖVP.

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Der kommende Konservatismus

I N T E RV I E W

E S S AY

10 „Bei mir schrillen die Alarmglocken …“ „TUMULT“-Herausgeber Frank Böckelmann über kritisches Denken, ’68er und darüber, warum es jetzt mehr Unruhe braucht.

34 Der kommende Konservatismus Benedikt Kaiser über den Nationalstaat, die soziale Frage und Europa.

R E P O R TAG E

22 Die vertriebene rechte Intelligenz Kulturelle Hegemonie von rechts? War einmal. Gesellschaftlicher Wandel bewirkt das Aus –oder führt in den Widerstand. I N FO G R A F I K

32 Der Waldgang Das ist Deutschland rechts der Mitte, vom freiheitlichen Lager bis in den Dschungel der Extreme.

MEINUNG

44 Frisch gekeult Erkenntnis der letzten Jahre: Die Faschismuskeule wirkt beinahe immer. AU S L A N D

50 Dänen lügen nicht Einwanderung, Arbeitsmarkt oder „Corona“: Was können wir uns von den Skandinaviern abschauen? WIRTSCHAFT

62 Die große Enteignung Die jetzige Krise fördert eine gewaltige Umverteilung vom Individuum zum Staat hin.

IMPRESSUM: Freilich – Das Magazin für Selbstdenker. Erscheinungsort: Graz. Medieninhaber und Herausgeber: Freilich Medien Ges.m.b.H., Chefredakteur: Ulrich Novak, Redaktion & Verlag: Mandellstraße 7, A-8010 Graz, Österreich. Bankverbindungen: Steiermärkische Graz, IBAN: AT38 2081 5000 0009 8004, BIC: STSPAT2G; Postbank München, IBAN: DE44 7001 0080 0120 1628 06. Abonnement-Preise: Österreich Euro 85,–, Deutschland Euro 94,–, Schweiz SFR 102,–. Tel.: +43(0)316/32 70 09, Internet: freilich-magazin.at, E-Mail: redaktion@freilich-magazin.at

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F O R M AT

AU S DE R R E DA K TI ON

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Wildlife Photographer 2021

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„Kurz hat System“

FOTO S T R E C K E

LESESTÜCK

66 Wildlife Photographer of the Year 2021 Das britische Natural History Museum will jedes Jahr die weltbesten Naturfotografen finden. Wir zeigen die exzellenten Bilder.

92 Europa im Umbruch Von großen Epochen und einer kleinen Hauptstadt – ein Streifzug durch Europa.

K U LT U R

78 Brot und Spiele Black shots (don’t) matter? Oder: Wie politisch ist der Ball? I N T E RV I E W

86 „Kurz hat System“ Türkise politische Realitäten in Österreich. Christian Hafenecker und Hans-Jörg Jenewein ziehen als Autoren am schwarzen Faden.

98 Kämpfer für den alten Kontinent Eberhard Straub hängt einer Welt nach, die vergangen scheint. MEDIA

100 Bücher 103 Kolumne: Das Letzte „Corona“ als politischer Untergang

„Her mit der Marie“, fordert die Sophie Schwieriger Vormittag heute im Büro. Die neue Redaktionsassistenz hat interessante Gehaltsvorstellungen. Gramschi, unser Redaktionskater, Sie erinnern sich, darf bei den Verhandlungen dabei sein. Während „die Sophie“ – wie sie genannt werden möchte – mit kaltem Blick aus fast Husky-ähnlichen Augen keinen Cent nach unten von ihrer Forderung abzuweichen gewillt ist, streicht Gramschi ohne Unterlass hin und her. Rilkes Panther kommt einem in den Sinn. Ich denke, Gramschi ist unschlüssig: Inwieweit kann eine hegemoniale Gruppe materielle Opfer an die Gruppierungen bringen, über die Hegemonie ausgeübt werden kann? Zugegeben, eine akademische Frage – zumindest für Katzen. Er schaut uns mit schiefem Kopf an. Die Entscheidung liegt am Tisch. Endlich wird Konsens erreicht, und zwar über das hohe Gehalt. Gramschi weiß, dass diese Form der Bestechung im „Fordismus“ ganz normale Methode war. „Beton-Sophie“ – wie wir sie nun heimlich nennen – rauscht mit High Heels bewaffnet aus dem Raum. Das gefällt unserem Kater. Er streckt sich und zeigt den nach oben gestreckten Katzenhintern. Sicher nicht der tollste Anblick, aber Katzologen wissen: Diese Heckpräsentation gilt als Kompliment.

redaktion@freilich-magazin.at freilich-magazin.at

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ANSICHTSSACHE

„Wie tief dürf ma denn bohren?“ – Diese Frage stellen nur sensibelste Tester. Bei den Wiener Sängerknaben, einem Stück österreichischer Hochkultur, ist das Bundesheer persönlich angerückt, um den Infektionsstand zu messen. Mit „Corona“ verkommt dieser musikalische Paradeexportartikel zum Lokalkolorit: Es gibt kaum Auftritte.

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Foto: Bundesheer/Pusch

ANSICHTSSACHE

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Foto: Tetra Images / Alamy Stock Foto

AKTUELL

Grüne Geschäfte

Gebt den Kindern das Kommando! Solange es noch welche gibt …

Gesellschaft ohne Kinder Alle wollen Spaß. Und Kinder können da ziemlich lästig sein. Werner Reichel untersucht im neuen POLITIKON „Die kinderlose Gesellschaft“. Das fängt an bei der politischen Klasse: Wie viele Politiker und -innen, die über die Zukunft des Landes entscheiden sollen, glauben noch selbst an die Zukunft und haben Kinder? Weiter geht das mit einem seltsamen Klima, in dem Menschen auf Kinder verzichten, weil sie das Klima retten wollen. Oder wo Abtreibung und Sterilisierung verklärt werden. Kann man machen, meint Werner Reichel mit spitzer Feder, aber dann muss man sich nicht wundern, wenn das Land keine Zukunft hat. Der Autor selbst, darf man sagen, hat mehrere Kinder und freut sich, Vater zu sein.

Die neue FREILICH Politische Studie beobachtet den Marsch der Grünen durch die Institutionen. Die Grünen waren schon weg vom Fenster und gespalten, dann sind sie wieder ins Parlament zurückgekehrt und haben sich schnell und machtpragmatisch Bundeskanzler Kurz als Regierungspartner angeboten. Einem, der auch den Mund hält, dafür aber seine Leute versorgt. „Marsch durch die Institutionen“ nennt man das, und den kann man bei den Grünen genauso gut wie bei allen anderen österreichischen Parteien beobachten, wenn sie durch Wahlen „an die Macht kommen“ und damit an die Pötte: Posten, Vorstände, Förderungen für Freunde. Die Grünen treiben es bunt. Die FREILICH Politische Studie will das dokumentieren und zeigt damit auch auf, worüber die etablierten Medien nicht so gern berichten, weil dort ja die Freunde der Grünen vermehrt sitzen.

FREILICH Politische Studie 13 „Grüne Geschäfte“ – Gratis-Download: freilich-magazin.at/studien

FREILICH-Buchladen: freilich-medien.buchkatalog.at

Dipl.-Ing. Piet¼ & Ing.Dr. Weindorfer Prüfge\ell¼a× m.b.H. Ingenieurbüro für Maschinenbau www.dieaufzugspruefer.at

Hebeanlagen

Behördenverfahren

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Aufzugswärterschulungen Wiederkehrende Prüfungen Vor- und Abnahmeprüfungen

ÖSTERREICHWEIT. SICHERHEIT. EINFACH. KOMPETENT. ZUVERLÄSSIG.

Prüfungen

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Qualitätsmanagement EN ISO 9001 Akkreditierte Stelle für Aufzüge

Arbeitsmittel

Pressen und Stanzen

Tore, Türen, Schranken Krane, Seil- und Kettenzüge Hebebühnen, Ladebordwände

Inspektionen zur CE- Kennzeichnung

Sportplätze, Turngeräte, Schultafeln

Inspektion von Brandfallsteuerungen

Betriebsanlagenprüfung §82b GewO

4910 Ried, Brauhausg. 4, www.dieaufzugspruefer.at , info@dieaufzugspruefer.at

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AKTUELL

Foto: Sipa USA / Alamy Stock Foto

Impfen ist wichtig, aber es ist eine individuelle Entscheidung.

Gegen den Impfzwang

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lexander Schallenberg (ÖVP) und Wolfgang Mückstein (Grüne) machen die Österreicher zu Versuchskaninchen der Impflobby. Zwangsimpfungen mit einem experimentellen Gen-Impfstoff sind mit dem Grundrecht des Menschen auf körperliche Unversehrtheit nicht vereinbar – zumal ohne Anspruch auf möglichen Schadenersatz. Deshalb fordern die Unterzeichner dieser Petition von der Bundesregierung die Rücknahme des geplanten Impfzwanges, einen sofortigen Stopp der Impfung von Kindern und die Garantie der Entscheidungsfreiheit bei den angebotenen Impfungen gegen COVID-19. Gleichzeitig betonen die Organisatoren: „Wir Freiheitliche sind weder Impfgegner noch Corona-Leugner und schon gar keine Fortschrittsverweigerer. Wer allerdings weiß, wie komplex ein Zulassungsverfahren für Impfstoffe bisher war und wie viele Testreihen für die Genehmigung eines Impfstof-

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fes bislang nötig waren, und nunmehr hört, dass etwa der COVID-Impfstoff des Pharmakonzerns Moderna im Jänner in nur zwei Tagen entwickelt wurde, bei dem sollten alle Alarmglocken schrillen.“ Plan B soll Österreich erfolgreich aus der Pandemie führen: „Deshalb haben wir Freiheitliche einen Plan B entwickelt. Das B steht für eine Besserung im Bereich der derzeitigen Behandlung sowie für die Bewahrung der Grundund Freiheitsrechte und die Befreiung aus einem System der Unterdrückung und des Zwangs, das die Regierung ausgerollt hat unter der Schutzbehauptung der Gesundheit.Die zentralen Punkte des Plans sind eine flächendeckende Antikörperstudie, eine darauf basierende Abkehr vom bestehenden Zwangsregime sowie eine frühzeitige medikamentöse Behandlung von Corona-Positiven durch Ärzte. Dies ist besonders wichtig, um schwere Verläufe zu verhindern.“

Eine Petition richtet sich gegen den CoronaImpfzwang, der ab Februar 2022 eingeführt werden soll.

Unterzeichnen Sie die Petition für Freiheit, Selbstbestimmung, Menschenwürde – und gegen jede Form des Impfzwanges. impfzwang.at/ jetzt-dagegen-unterschreiben

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Foto: IMAGO / teutopress

INTERVIEW

Ein großer Intellektueller und ein kritischer Geist: Frank Böckelmann dirigiert „TUMULT“.

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INTERVIEW

„Bei mir schrillen die Alarmglocken“ Denken im Unruhestand: FREILICH spricht mit „TUMULT“-Herausgeber Frank Böckelmann über kritisches Denken, ’68er und darüber, warum es Unruhe braucht.

INTE RVIE W: ULRICH NOVAK

FREILICH: Herr Böckelmann, vor allem die deutsche Medienlandschaft wirkt zurzeit seltsam überdreht. Erleben wir die Hysterie einer überinformierten, im Kommunikationswahnsinn orientierungslos taumelnden Gesellschaft, die sich um sich selbst dreht, oder sehen wir Frontlinien ideologischer Kämpfe zwischen links und rechts?

Frank Böckelmann: Bekanntlich sympathisieren mehr als 90 % der deutschen Journalisten mit Grünen, SPD, Linker oder FDP – und aus ebendiesem Grund lieben sie Merkel. Seitdem eine Bundesregierung unter Ausschluss von CDU/ CSU zu erwarten ist, gebärden sich die Moderatoren und Kommentatoren des Fernsehens und der großen Tages- und Wochenblätter, als stünden sie unter Strom – nur die „FAZ“ schmollt. Der Zeitgeistjournalismus lebt davon, Orientierungslosigkeit in Euphorie zu übersetzen. Von allen Bindungen an die eigenen Leute befreit, wähnt er sich in einer Art von Lehramt für die Verbreitung von Wahrheit und Menschlichkeit. Das hat die Wirkung eines täglichen Dopings. Die Schwärmerei für Toleranz und Vielfalt, Entgrenzung und Weltoffenheit macht fortschrittstrunken, aber auch schwindlig. Es gilt ja nun als schäbig, noch irgendwie zu unterscheiden zwiN °15 / D E Z EM B ER 2021

schen verschiedenen Gesichtern und Herkünften und Verhaltensweisen und sexuellen Vorlieben. „Vielfalt“ ist politischer Kitsch und ein Werbeslogan für Einkaufszentren. Alles wird austauschbar. Man gerät in eine Art von Schleudertrauma – woran kann man sich noch halten? Orientierung bringt allein der Kampf gegen das Böse, gegen rechtsextreme, völkische, nationalistische Brut, das Gesindel, das noch Unterschiede macht. Kommunikationshysterie und Wiederbelebung der alten ideologischen Kämpfe zwischen links und rechts schließen sich also nicht aus. Sie schüren sich gegenseitig. Vielleicht sollten wir im Sinne der Konsensstörung auch mal die Grundsatzfrage stellen: Taugt Links-rechts noch was? Und was ist vorn und hinten?

Aus den alten weltanschaulichen Gegensätzen ist in Deutschland und Österreich ein Spektakel der Anzüglichkeiten und Ressentiments geworden. Ein Wolkenkuckucksheim steht gegen das andere. Die sogenannte Linke ist nicht mehr gesellschaftlich geerdet, und ebenso wenig sind es die Haltungen der sogenannten Konservativen. „Rechts“ nennt sich sowieso fast niemand mehr, und auch das Attribut „neurechts“ wird meist als

Schimpfwort gebraucht, als Selbstkennzeichnung meines Wissens nur beim Antaios-Verlag und in der „Sezession“. Meiner Auffassung nach ist die Linke als eigenständige politische Kraft verschwunden. Was soll das für eine Linke sein, die kein sozialrevolutionäres Programm hat, nicht mehr die Umwälzung der Produktionsverhältnisse anstrebt und sie Vermögensverwaltern und Indexfonds wie BlackRock überlässt, deren Geschäftsmodell es ist, alle Menschen zu Aktionären zu machen? Das Etikett „links“ war spätestens 1968 verschlissen, als klein- und großbürgerliche Radikalinskis sich per Sprechakt zu Feinden des „Systems“ ernannten, klassenkämpferisch kostümierten, auf der Woge des Zeitgeistes schwammen und Individualisierung predigten. Versteht man „links“ als egalitär, verliert sich das Prädikat in der Forderung nach Chancengleichheit, einem Stereotyp aller sozialen Bewegungen und Milieus und Medien und aller auf ihre „Identität“ bedachten Gruppen. „Links“ zu sein ist nur noch ein abgegriffenes humanitäres Gütesiegel. Diejenigen, die im Weltnetz zappeln, legen mehr Wert auf Dabeisein und Beachtung und Subventionen als auf eine andere Verteilung des Mehrwertes. Auch die als „rechts“ diffamierten, verlegenheitshalber „konservativ“ ge-

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INTERVIEW

„Der in Deutschland herrschende Konsens sagt den Deutschen nicht, dass und auf welche Weise sie zusammengehören.“

nannten Personen sind, bei Lichte besehen, Herren und Damen ohne Unterleib. Früher saßen in den Parlamenten Würdenträger, die auf einer ständischen Gesellschaftsordnung und auf Elitenherrschaft beharrten. Beides beruhte auf Traditionen, auf solchen wohlgemerkt, die sich aus eigener Kraft fortpflanzten. Heute sind hierzulande sämtliche kulturellen Überlieferungen, auch die christlichen und raumgebundenen, ausgehöhlt und ausgelaugt. Manche werden noch künstlich beatmet. Streng genommen entfällt damit die Bedingung der Möglichkeit einer politischen Rechten. Aber damit kein Missverständnis entsteht: Anders als die Überlieferungen, die Rituale, Sitten und Gebräuche, wären die europäischen Errungenschaften durchaus noch lebenskräftig und widerstandsfähig, wenn sie von den Europäern nicht preisgegeben würden: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Sinn für Fair Play, Meinungsfreiheit, Arbeitsethos und Gemeinwohlorientierung, Streben nach Erkenntnis, Fähigkeit zur Selbstkritik, Nationalstaat, Ausdifferenzierung des Politischen, ja selbst Institutionen wie Stadt, Staat, Heer und Universität, kurzum all das, was Rolf Peter Sieferle das „soziale“ und „kulturelle Kapital“ genannt hat. Dieses Kapital wiederum ist abhängig von „der Eindeutigkeit der Gruppenzugehörigkeit“.

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Mit Ihrer Zeitschrift „TUMULT“ betrieben Sie lauter Konsensstörungen. Sie halten, wenn man Ihnen lautere Motive unterstellt, Konsens offenbar für einen zu störenden faulen Kompromiss. Aber ist Konsens nicht eine demokratisch zustande gekommene Form der volonté générale, des allgemeinen Willens?

Der heute in Deutschland herrschende Konsens, die Berufung auf die sogenannten europäischen Werte, sagt den Deutschen nicht, dass und auf welche Weise sie zusammengehören. Er ist weder sinngebend noch handlungsleitend. Man behauptet, er sei eine globale volonté générale, aber auch das ist er nicht, und träfe es zu, wäre er ein Allerweltsmerkmal und nichts Besonderes. Dieser Konsens gilt in Deutschland als höchste Staatsräson und darf nicht angefochten werden. Er postuliert Entgrenzung um der Entgrenzung willen. Damit entspricht er dem Tauschprinzip: Alles ist konvertierbar. Und er entspricht dem technokratischen Machbarkeitswahn, der alle Gegenstände und die Beziehung zwischen ihnen gleichgültig werden lässt. Das wachsende Interesse an Verfügbarkeit macht uns blind für die Außenwelt. Die sogenannten westlichen Werte – Chancengleichheit, Selbstbestimmung, Toleranz, Vielfalt und Weltoffenheit – sind längst zu bloßen Teilnahme- und Verkehrsregeln he-

runtergekommen. Trotzdem werden sie aufgerufen, als seien sie Konzentrate unanfechtbarer Programme. Ich zitiere aus dem Editorial der „TUMULT“-Ausgabe vom Herbst 2014: „Man schwärmt von Vielfalt und Offenheit; doch hat man dabei wohl ein Stelldichein verträglicher Passagiere im Sinn – eine Art universale Autobahnraststätte.“ In Wirklichkeit sind diese „europäischen Werte“ unverträglich, denn sie dulden keinen Eigensinn. Aber jede Lebensart, jede Gesinnung und jede Daseinsordnung grenzt sich gegen andere ab – und ist daher von einer gewissen Unduldsamkeit geprägt. Ganz persönlich gefragt: Wie geht es dem Projekt „TUMULT“? Erzeugt es den Aufruhr, den es produzieren soll?

Halten zu Gnaden, Herr Novak, unter „Tumult“ verstehen wir keinen Aufruhr, sondern einen unbeabsichtigten Auflauf oder, sagen wir, ein unwillkürlich entstandenes Durcheinander. Tumulte kann man nicht anzetteln. Die Vierteljahresschrift „TUMULT“ war nicht meine Idee. Der Wiener Lektor Horst Ebner und ich haben im Jahr 2012 den Vorschlag eines Verlegers aufgegriffen, der, kurz nachdem er ihn gemacht hatte, nichts mehr von ihm wissen wollte. Alles am „TUMULT“Magazin ist unwillkürlich entstanden. FR E I L I CH


Foto: IMAGO / Michael Schick

Foto: IMAGO / IPON

INTERVIEW

Konsensstörung, Buchmesse 2018: Manchmal reicht ein Verlag wie Antaios, um die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.

Menschlichkeit über alles – aber wenig Toleranz für Andersdenkende.

Ich habe nie Stellenanzeigen aufgegeben oder nach Mitarbeitern herumtelefoniert. Redakteure, Helfer, Rat- und Stichwortgeber, Unterstützer und die meisten Autoren haben sich von selbst eingefunden. Und „TUMULT“ ist kein Lagerorgan und hat kein politisches Programm. Wir erkunden die toten Winkel der öffentlichen Wahrnehmung – das Ausgesonderte, Übersehene, zur Seite Geschobene, Missachtete, Vergessene. Weil die historische und kulturelle Dimension der Massenzuwanderung seit 2015 beschwiegen wird und wir sie ausleuchten, wird uns nachgesagt, wir produzierten ein „neurechtes“ Organ. Aber zweifellos haben wir seit dem Herbst 2015 vom Kulturkampf profitiert. Er hat „TUMULT“ gleichsam zum zweiten Mal gegründet. Die Zeitschrift hatte im Frühjahr 2014 eine Auflage von 1400 Exemplaren, heute werden 4000 gedruckt. Außerdem bieten wir PDFs der einzelnen Ausgaben an und präsentieren aktuelle Stellungnahmen im „TUMULT“-Blog. Aber Ihre Frage zielt auf das Ausmaß der von „TUMULT“ ausgelösten Unruhe. Die Grenzen eines Theorie- und Kunstmagazins sind uns bewusst. Wir haben nicht die Breitenwirkung der großen Blogs und kommen an die Auflage von „Tichys Einblick“ bei Weitem nicht heran. Aber „TUMULT“ ist in Deutschland ein fesN °15 / D E Z EM B ER 2021

„Der Anspruch grüner Parteien auf überparteiliche Weltfürsorge macht misstrauisch.“ ter Begriff für Konsensstörung geworden, und ein Magnet für Autoren, die sich an der großen Vergleichgültigung nicht beteiligen wollen. Die Organe der konzertierten öffentlichen Meinung tun einiges, um uns schlechtzumachen, doch „TUMULT“ hat sich stets einen Nimbus von Uneindeutigkeit bewahrt und ist immer gut für Überraschungen. Und immer wieder melden sich bei mir Autoren, von denen ich das niemals erwartet hätte. In den letzten vier Jahren haben sich Anpassungsdruck und Unterwürfigkeit im Kulturbetrieb enorm verstärkt. Man denke nur an die Groteske, die sich jüngst auf der Frankfurter Buchmesse ereignet hat, als der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. Die Fronten haben sich verhärtet, und gleichzeitig hat sich der Wettbewerb verschärft. Die Zahl der gedruckten und digitalen Angebote im Marktsegment der alternativen Medien hat deutlich zugenommen. Die publizistische Reichweite von „TUMULT“

wächst heute langsamer als 2016, aber sie wächst immer noch. Und vergessen wir nicht, dass die Faktoren, die über Zuspruch und Resonanz auf dem Medienmarkt entscheiden, von uns selbst nur in geringem Ausmaß zu beeinflussen sind. Den Ausschlag geben die plötzlichen Wendungen in der politischen und kulturellen Großwetterlage. Klimareligion, Energiewende, „Green Deal“ der EU-Kommission – Erscheinungen, die Sie einem globalmoralischen Kurzschluss zuordnen. Wer die Welt retten will, will auch die Deutschen retten. Was haben Sie gegen diese Art der Weltfürsorge?

Wenn politische Frömmelei mit Utopie und Hypermoral verschweißt wird, schrillen bei mir die Alarmglocken. Der Anspruch grüner Parteien auf überparteiliche Weltfürsorge macht misstrauisch, weil er mit hartnäckiger Realitätsblindheit einhergeht. Fast völlig ausgeblendet werden die wachsende Uneinigkeit zwischen den großen Welthandelspartnern, auch was gemeinsame Anstrengungen zur Bewältigung des Klimawandels betrifft, die erbitterten Verteilungskämpfe um unersetzliche Ressourcen, das Bevölkerungswachstum in Afrika als ökologischer Faktor und die expansive Grundausrichtung der großen islamischen Konfessionen.

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INTERVIEW

„Die Selbstbestimmung hat ja einen Ehrenplatz im spätdeutschen Fortschrittsbewusstsein. Sie ist ein Fetisch aus Stroh.“

Zugleich werden uns Weltstaatsillusionen serviert. Als Medienforscher weiß ich, wie man Aufmerksamkeit erzeugt und Plausibilität suggeriert. Gruselig ist das Zusammenwirken von politischen Direktiven, uniformer Medienmeinung, beflissener Wissenschaft, spendablen Konzernen und eifernden Nichtregierungsorganisationen. Alle diese Akteure bestätigen sich gegenseitig und profitieren politisch und ökonomisch von ihrer Allianz. Auf diese Weise ist eine reißende Eigendynamik entstanden. Also zweifle ich zunächst einmal an den lauteren Absichten der Umerziehungsprogramme und stelle die Objektivität der Ergebnisse opulent finanzierter Studien infrage. Ich behaupte nicht, es besser zu wissen, aber ich will schon die eine oder andere begründete andere Meinung hören und den Schlagabtausch der Argumente erleben – wenn es doch um planetarische Lebensfragen geht. Statt einer richtigen Auseinandersetzung aber erlebe ich moralinsaure Zurechtweisungen. Letzteres macht mir besonders zu schaffen. Das Tremolo der Weltklimarettung, die Propaganda der Energiewende und der „Green Deal“ der EUKommission sind gesinnungsethischen Prinzipien verpflichtet, ebenso wie die Klimakonzepte der drei Parteien in der absehbaren neuen Bundesregierung. Man erhebt Wahrheitsansprüche und fertigt Zweifel als wahnhaft ab. Die politische Auseinandersetzung, die Willensbildung des Volkes, scheint nur eine Nebenrolle zu spielen, und auch das nur insofern, als sie dem großen Konsens zupasskommt. Sie wird eher als Störfaktor betrachtet und als eine Sache der Volkserziehung. Meine Skepsis erhält weitere Nahrung durch die Missachtung alternativer Bewirtschaftungsmethoden in der Land- und Forstwirtschaft. Lokale Feld-

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versuche in Europa und Nordamerika führten durchaus zu verheißungsvollen Ergebnissen, soweit ich das beurteilen kann. Sie lassen hoffen, dass man mit ihrer Hilfe die Emission klimarelevanter Spurengase wie Kohlendioxid, Methan und Lachgas weit wirkungsvoller eindämmen könnte als mit einem Totalverzicht auf fossile Energieträger. Ich erlaube mir, auf die Beiträge von Jörg Gerke, Christoph Becker und Thomas Hoof in unserer Vierteljahresschrift und im „TUMULT“-Blog hinzuweisen. Wenn wir das selbstbestimmte Leben vorhaben, wie sollen wir das führen – vor allem mit Blick auf solche Großprobleme?

Ja, wie führt das Individuum ein selbstbestimmtes Leben, wenn doch große Einigkeit darüber herrscht, was wir zu tun und zu lassen haben? Die Selbstbestimmung hat ja einen Ehrenplatz im spätdeutschen Fortschrittsbewusstsein. Sie ist ein Fetisch aus Stroh, das unablässig gedroschen wird. Von der Dressur des Verhaltens abgesehen, treibt das Individuum in die Orientierungslosigkeit. Es pocht auf seine Selbstbestimmung, aber diese ist gewöhnlich nicht herangereift, sondern Ausdruck einer Haltung des Ausweichens, Hinhaltens und Aufschiebens. Statt sich festzulegen, bemüht sich der Einzelne um immer mehr Selbstverfügbarkeit, indem er Wahlmöglichkeiten sammelt. Das gilt auch für das Streben nach einem singulären Lebensstil. Der Einzelne trainiert seine Selbstbestimmung mit Sozialtechniken der Optimierung, der Distanzierung und der Selbstdarstellung. Zugleich bekommt er Hilfestellung durch Angebote, die er nicht ablehnen kann. Es wird ihm eingepaukt, was der Gesundheit zuträglich ist, wie er dem Infektionsrisiko aus dem Weg geht und wie er seine Weltoffenheit unter Beweis stellt – wie

er sich noch besser kontrolliert als bisher, damit die Welt gerettet wird und die Digitalisierung vorankommt. Mit Ihrer letzten Sachbuchveröffentlichung vermitteln Sie einen klaren Blick auf die deutschsprachige Medienlandschaft. Was ist da wirklich los? Was ist vom „Haltungsjournalismus“ und den Denunziationsjournalisten, die nicht nur Ihnen das Leben schwer gemacht haben, zu halten? Was muss sich ändern?

Schon aus beruflichen Gründen hat mich Sprache immer interessiert. Politischen Handlungen gehen in der Regel Sprachhandlungen voraus; bestimmte Wörter werden plötzlich in Umlauf gebracht, um gesellschaftspolitische Veränderungen vorzubereiten. In Deutschland waren es 2015 Wörter wie „Willkommenskultur“ und „Kulturbereicherung“ (durch „Schutzsuchende“), die sich viral in den Medien ausbreiteten und den Eindruck erweckten, die Deutschen hätten nur auf die zuvorkommende Bewirtung und Alimentierung von Millionen Orientalen gewartet. Das Gegenteil ist der Fall. Man spricht heute von einem Putsch der Zivilgesellschaft, die sich damals über eine gleichgeschaltete, human-sozialistische Presse als „Mehrheitsgesellschaft“ aufspielen durfte. Auch hier waren bestimmte Sprachhandlungen – vor allem moralische „Framings“ – spielentscheidend gewesen. Denn halb Afrika sitzt inzwischen auf gepackten Koffern, der sogenannte Familiennachzug dürfte sich schon bald als „ethnische Säuberung mit vorwiegend friedlichen Mitteln“ entpuppen. Doch solche Formulierungen von Gedanken dürften sich im deutschen Blätterwald nicht mehr finden. Alles klingt gleich. Besonders schmerzlich empfinde ich die vielen Begriffsumdeutungen und Täuschwörter, die aus einer der präzisesten Sprachen der Welt einen nebulösen

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INTERVIEW

Alles eine Frage des Klimas: Die gute Mobilisierung bringt schulfrei. Die Probleme des Landes bleiben.

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INTERVIEW

Alles im Griff? Nichts im Griff? In der Krise rächt sich vor allem das Vertrauen auf die Politik. Das Virus führt sie vor.

„Wir kommen nicht mehr heraus aus dem Schutz-und-VorsorgeKorsett, das uns im Krisenspektakel angelegt worden ist.“ Sound aus Euphemismen und AirbagRhetorik gemacht haben. Nimmt man dann noch die Flatulenzen der Gendersprache und der Political Correctness hinzu, wird klar, dass es sich um Anschläge auf das schöpferische Potenzial unserer Sprache handelt. Als Schriftsteller ist man dann gefragt, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu handeln. Henryk Broder hält die Corona-Bekämpfung für eine Art Intelligenztest. Sind die Deutschen durchgefallen? Wie halten Sie es mit dem Virus und seiner Bewältigung – vor allem durch den Staat?

Sie haben Nerven, mich auf dieses Thema anzusprechen. Es löst bei allen, die ich kenne, nur noch Abwehrreflexe aus. Der Überdruss erklärt sich nicht nur daraus, dass der Kampf gegen COVID-19 seit 20 Monaten mediales und privates Dauerthema ist. An ihm teilzunehmen, laugt aus. „Corona“ ist ein aufdringliches

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Politikum des Alltags. Jeder hat mit sich selbst eine vorläufige pragmatische Corona-Politik ausgehandelt, sie mit Freunden abgestimmt und gegenüber Andersdenkenden verteidigt, aber sie immer wieder leicht abgewandelt und dabei zwischen Theorie und Praxis gewisse Kompromisse geschlossen. Seit Frühjahr 2020 haben sich die deutsche Bundesregierung und die Landesregierungen und die beratenden und ausführenden Organe x-mal selbst widersprochen und unglaubwürdig gemacht. Sie haben große Branchen des Wirtschaftslebens und ganze Regionen stillgelegt. Sie haben die Hauptrisikogruppen und die Schulkinder und Lehrer willkürlichen Zerreißproben ausgesetzt. Ihre Gegenmaßnahmen waren nach wissenschaftlich haltlosen Parametern ausgerichtet – insbesondere nach dem „Inzidenzwert“, der zur Gleichsetzung von Infektion und Erkrankung verleitet – und haben überhaupt jede klare Linie vermissen lassen. Insofern überzeugt Broders Fazit: durchgefallen. Aber die Corona-Krise war und ist eben viel mehr als ein Intelligenztest. Der Bundesregierung kam es vor allem darauf an, Rückendeckung bei der Weltgesundheitsorganisation und der Welthandelsorganisation zu erhalten und, was fast das Gleiche ist, im Einklang mit den Interessen der Pharmakonzerne und der Schaltstellen in Brüssel zu handeln. Gleichzei-

tig jedoch – und das macht die Sache zu einem grandiosen Verwirrspiel – hat sich das Bund-Länder-Direktorium bemüht, dem Wahlvolk weiszumachen, es habe die Lage unter Kontrolle. Deshalb müssen immer auch die falschen Weichenstellungen von früher nachträglich gerechtfertigt werden. Wir kommen nicht mehr heraus aus dem Schutz-und-Vorsorge-Korsett, das uns im Krisenspektakel angelegt worden ist. Das „Bevölkerungsschutzgesetz“ ist nur der Auftakt zur Verabschiedung von Klimaschutzgesetzen, die unser Alltagsverhalten regeln. Oft ist von Leuten wie Baerbock, Merkel, Steinmeier und anderen zu lesen, dass sie den „Eliten“ zuzurechnen sind. Bitte sagen Sie uns, dass der in diesem Zusammenhang verwendete Elitenbegriff pervertiert ist …

Die Genannten nehmen Spitzenpositionen ein, in die sie durch demokratische Wahlverfahren gelangt sind. Ob sie aber eine Auslese mit Vorbildcharakter darstellen, muss man bezweifeln. Arnold Gehlen sah den Eliteanspruch noch durch eine „Askeseforderung“ legitimiert und warnte die Regierenden davor, auch noch Geschäfte machen und reich werden zu wollen, weil das ja alle wollten – und was alle wollen, ist das Gegenteil von Auslese. Unsere SpitzenFR E I L I CH


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INTERVIEW

„In Deutschland herrscht das Duckmäusertum. Das ist das Gegenteil von Einfalt.“

Spitzenpositionen haben längst nichts mehr mit irgendeiner „Elite“ zu tun.

politiker werden auch nicht der Elitendefinition von Pierre Bourdieu gerecht: der Synthese von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. Merkel, Steinmeier und Baerbock sind typische Angehörige der Funktionselite, so wie viele leitende Angestellte ebenfalls, bilden sich aber höchstwahrscheinlich ein, auch in kultureller Hinsicht herauszuragen. Da irren sie sich. Sie sind durch die harte Schule täglicher Auftritte in elektronischen Medien gegangen und dabei große Phrasendrescher geworden. Hier muss ich mich aber korrigieren. In der Ära von Globalisierung und Hyperkultur ist die Zugehörigkeit zur Elite ganz wesentlich auch eine Sache der Selbstzuschreibung. Liberale Kosmopoliten, die auf exklusive Selbstentfaltung und Unbefangenheit bei Begegnungen mit Leuten aus aller Welt und jeder sexuellen Orientierung großen Wert legen, zählen sich auch dann zur globalen Elite, wenn sie ein niedriges Gehalt beziehen, denn sie halten sich für Verkörperungen des Fortschritts. Ein entgrenzter Lebensstil gilt heute mehr als Bildung und Einkommen. Auch Videospielentwickler, Bordellbesitzer mit SUV und prominente Rapper sehen sich als Teil der Elite und werden häufig auch so behandelt. Vielleicht liegt es auch am Land und seinen Wählern. Man sagt ja, dass es N °15 / D E Z EM B ER 2021

bekomme, was schlichtweg gewählt würde. Woher kommt die deutsche Einfalt?

Den Ausschlag bei der letzten Bundestagswahl gaben Millionen von Wählern – ein bis zwei Dutzend Millionen –, die sich nicht von politischen Überzeugungen leiten ließen, sondern unbedingt auf der Seite des Siegers stehen wollten. Anders sind die gewaltigen Auf- und Abschwünge bei den Antworten auf die „Sonntagsfrage“ in den letzten beiden Jahren nicht zu erklären. Daher nenne ich Deutschland das Land der Überläufer. Aber machen Sie bitte nicht den Begriff der Einfalt schlecht! In Deutschland herrscht das Duckmäusertum. Das ist das Gegenteil von Einfalt. Weil wir gerade dabei sind: Ist es ehrlich vorstellbar, dass das aktuell leitende politische Personal Europas wirklich komplexe „Great-Reset“-Pläne im Rahmen der CoronaKrise ausgebrütet hat? Ist das nicht eine ungeheure Überschätzung?

RISIKOGESELLSCHAFT

Vom Abschluss einer Versicherung bis zum Besuch einer Vorsorgeuntersuchung, vom Ehevertrag ohne Gütertrennung bis zur Altersvorsorge nach Riester, von der Buchung des Feriendomizils per Internet bis zur Wahl der Geldanlage – der moderne Mensch ist permanent Risiken ausgesetzt. Frank Böckelmann: Risiko, also bin ich. Von Lust und Last des selbstbestimmten Lebens Galiani Verlag, Berlin 2011. ISBN 978-3-86971-034-1 A € 20,90 / D € 19,95

Es ist fatal, aber auch ein bisschen komisch, dass gerade diejenigen, die verborgene Machenschaften enthüllen und das leichtgläubige Volk aufklären wollen, die Lage verharmlosen. Da saß also im Jahr 2019 – so stellt man sich das vor – in New York oder Genf eine Runde von Konzernherren, UNO- und EU-Chargen, Medien-

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INTERVIEW JARGON DER WELTOFFENHEIT

Eine politische Linke gibt es nicht mehr. Als historisch eigenständige Kraft ist sie längst verschwunden. Unsere wohlklingenden Forderungen wie „Selbstverwirklichung“, „Authentizität“, „Emanzipation“, „Gleichberechtigung“ und „Vielfalt“ sind alles andere als links. Sie verhindern eben das, was sie versprechen: Begegnung, Entschiedenheit, Verwirklichung, Individualität, Welthaltigkeit, Anwesenheit, Gemeinsamkeit. Sie leiten uns in ein Dasein ohne Herkunft, Heimat, Nachkommenschaft und Transzendenz. Der Jargon der Weltoffenheit hält uns in der Vorläufigkeit gefangen: Alles erscheint greifbar, nichts ist erreichbar. Frank Böckelmann: Jargon der Weltoffenheit. Was sind unsere Werte noch wert? Manuscriptum Verlag, Waltrop u. Leipzig 2014. ISBN 978-3-937801-96-4 A € 10,90 / D € 9,80

moguln, Influencern und Investmentbankern zusammen und hat geplant, mithilfe einer Pandemie die Weltbevölkerung an die Kandare zu nehmen und/oder einem drohenden Zusammenbruch auf den Finanzmärkten zuvorzukommen. Ja, wenn es nur das wäre – nichts einfacher als das! Man müsste die Beteiligten und ihre Helfershelfer nur entlarven und ausschalten, und die globale Intrige wäre gescheitert. Aber auch den Enthüllungsakteuren muss klar sein, dass kompromittierte Strippenzieher sofort durch Komplizen ersetzt werden würden – somit starke politische und wirtschaftliche Kräfte mit im Spiel sind, und das seit vielen Jahren. Wir erleben einen klassischen Fall von Schattenboxen. Auch diejenigen, die sich über „Verschwörungstheorien“ lustig machen, können erkennen, dass die globalen Gouvernanten den Pandemiefall zum Anlass genommen haben, Bemächtigungskonzepte zu erproben, die zum Einbläuen von Klimaschutztugenden bereitliegen. Der „Great Reset“ muss nicht erst verabredet und in PR-Schriften von Klaus Schwab und anderen schmackhaft gemacht werden. So wie der „Große Austausch“ im Sinne eines politisch begrüßten Bevölkerungswandels ganz ohne Verschwörungen stattfindet. Begünstigt wird er von der Auflösung landsmannschaftlicher Bindungen und der Verwandlung der Völker in Humankapital und Konsumentenherden. Jan Grossarth schrieb nach dem Tod Rolf Peter Sieferles: „Wir drehen derzeit fast alle nach rechts.“ Sieferle selbst „war schon viel früher in der Lage, die Zeichen der Zeit, die Fakten, die blauäugige, verfrühte Freude über den liberalen Endsieg zu begreifen, zu deuten und skeptisch zu hinterfragen oder gar zurückzuweisen“, wie Götz Kubitschek festhielt. Sie selbst drehten vor Jahren nach rechts, was war los?

In meinem Fall gab es keine Wendung von links nach rechts. Ich bin kein Re-

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negat – nur eben die Gesamtlage hat sich radikal geändert, und ich mich mit ihr. Was mich in den Sechzigerund Siebzigerjahren angetrieben hat, war die Sehnsucht nach Grenzüberschreitung: aus der Borniertheit der festgelegten Laufbahn ins Offene zu kommen, den bildungsbürgerlichen Biedermeier zu verlassen, die ganze Wirklichkeit zu entdecken. So wie mir ging es vielen. Wir lechzten nach existenzieller, sexueller, künstlerischer, exotischer, schwelgerischer Intensität, nach Formenwandel, dem Unbekannten. Symptomatisch für diesen Wunsch ist der Titel eines vielgelesenen Buches von Michael Rutschky: „Erfahrungshunger“. Die Erwartung eines erfüllten Taumels jedoch wurde im Laufe der Jahre seltsam enttäuscht. Warum eigentlich? Die Antwort fällt gar nicht so leicht. Es gab ja immer noch etwas Neues zu erkunden. Vermutlich ist Offenheit nur so lange anziehend, wie ich mich abstoßen, eine besitzergreifende Realität hinter mir zurücklassen kann. Aber von einer Offenheit in die andere zu gelangen, ermüdet rasch. Jedenfalls mündete die Entfesselung immer häufiger in die Fadheit, die Öde, die Verdrossenheit. Es war die Beliebigkeit, die Schalheit des Wählerischen, die das Erleben austauschbar machte. Mit Entgrenzung assoziiere ich heute Monotonie und Gleichgültigkeit. Multikulti ist Daseinsschwund. Im angedrehten Exzess ging das Wichtigste verloren: die Anwesenheit im Hier und Jetzt, das Unverwechselbare, die Realitätsgewissheit und mit ihr das Staunen über die Unfassbarkeit der Welt. Daher änderte meine Sehnsucht die Richtung. Das Wertvollste, das einzig wirklich Wertvolle, ist nicht das, was gewählt wird, sondern das, was mich wählt. In der Ära der Beliebigkeit polen sich die Taten und die Tagträume zum Ziel der Rückverortung um. Ist das konservativ? Nein, gerade nicht. Denn dieser Wunsch kommt aus der VerlustFR E I L I CH


erfahrung. Wir haben die Heimat verloren. In den Achtzigerjahren habe ich die großen deutschen Komponisten entdeckt, vor allem Richard Wagner, den ich vorher sterbenslangweilig gefunden hatte. Und ich lauschte stundenlang – jetzt werden Sie lachen – der bayerischen Volksmusik. Ich bin jährlich wochenlang durch die deutschen Mittelgebirge gewandert, mit Vorliebe durch Laubwälder. Dabei bin ich alles andere als ein Romantiker. Mein Spürsinn für Herkunft kräftigt sich am Horror vacui. Beide Sehnsüchte – die nach Entgrenzung und die nach Zugehörigkeit – haben etwas gemein: den Hunger nach Wirklichkeit. Als Marxist wollte ich erkennen, was eigentlich gespielt wird. Und das Gleiche will ich als Betreiber des „TUMULT“-Projektes. Vertrat in ihrer Zeit als Linker jemand wie Ernst Niekisch eine für Sie relevante Spielart des Linksseins mit nationalen Untertönen? Und wenn ja, haben Sie sich intellektuell redlich gefühlt, wenn Sie die „Konservative Revolution“ mit dem Berkeley-US-Import der ’68er-„Revolte“ verglichen?

In keiner Phase meines politischen Lebens habe ich mich auf der Linksrechts-Achse verortet. An der Subversiven Aktion in den frühen Sechzigerjahren habe ich mich nicht beteiligt, um für Gerechtigkeit und die Emanzipation bestimmter Gruppen zu kämpfen, sondern weil der Wachstumsfetischismus alle Beziehungen austrocknete und die Welt versiegelte. Und heute sehe ich mich nicht als rechts und nicht als konservativ, sondern als „neoreaktionär“. Weil ich reagiere. Ich reagiere auf den Wirklichkeitsschwund, der durch Entgrenzung forciert wird, durch Machbarkeitshybris, Massenzuwanderung, die Digitalisierung der Gehirne. Unter diesem Aspekt lese ich heute Ernst Niekisch und die Einzelgänger der sogeN °15 / D E Z EM B ER 2021

nannten Konservativen Revolution. Sie ahnten vieles voraus. Sie tasteten bereits nach Nothilfe in Erwartung von Verhängnissen, die uns heute bevorstehen. Gibt es für Sie die „linken Leute von rechts“, die mit den „rechten Leuten von links“ etwas gemeinsam haben? Und sei es nur, Angst vor einer „Querfront“ zu produzieren?

Aber ja. Der einzige Erfolg versprechende und zugleich ermutigende Ausweg in verzweifelter Lage ist die Solidarität unter denen, die sich zugehörig sehen. Tätige Nächstenliebe statt gleichgültiger Fernstenliebe! Aus gemeinsamer Gegenwehr gegen expansive Bedrohungen – durch Islam, Vereinigte Staaten, China, Russland, Despoten der Plattformökonomie – erwächst notwendige, von der Not genährte Volkssolidarität, im nationalen Rahmen und als wiederentdeckte Nähe zwischen den europäischen Völkern. Der vielgerühmte deutsche Sozialstaat ist ein System der Ausplünderung – das wurde in „TUMULT“ ausführlich erläutert. Wir benötigen den auf Anspruch und Zuneigung beruhenden Zusammenhalt unter den Teilhabern eines Erneuerungsprojektes. Stand die unheilvolle Auswirkung der ’68er-Bewegung nicht in einem deutlichen Missverhältnis zu ihrem theoretischen, intellektuellen Potenzial und war Ergebnis ideologiebehafteter Borniertheit? Oder auf den Punkt: Wie konnten diese Leute derart viel Schaden anrichten?

Diese Leute waren nicht die Urheber des Verhaltens- und Wertewandels in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sie haben ihn allenfalls beschleunigt. Was später „Kulturrevolution“ und „Fundamentalliberalisierung“ genannt wurde, die Aushöhlung der bürgerlichen Institutionen und Lebensformen, die ständige Propaganda

INTERVIEW

„Der einzige Erfolg versprechende und ermutigende Ausweg ist die Solidarität unter denen, die sich zugehörig sehen.“

für Selbstverwirklichung, Emanzipation, Gleichberechtigung und Vielfalt, entsprach dem Interesse an Massenproduktion und Massenkonsum. Die alten Rollenbilder und die alte Prüderie standen im Weg und wurden abgeräumt. Die Protestbewegung hat nur offene Türen eingerannt. Sie ist die nützliche Idiotin der großen Umerziehung von traditionsgeleiteten Angehörigen zu versprengten Arbeitskräften und Verbrauchern. Wenn es die „Achtundsechziger“ nicht gegeben hätte, wären irgendwelche anderen Bewegungen losgetreten worden. Sie zählten seinerzeit mit Dieter Kunzelmann, Herbert Nagel und Günter Maschke zu den führenden Köpfen der Subversiven Aktion. Werner Olles schreibt, diese verstanden die spätkapitalistische Realität trotz intensiver MarxSchulung nur rudimentär, führten Kämpfe der Vergangenheit und zersplitterten sich. Ihr Gesellschaftsbild war jedoch angeblich durchdrungen von Siegesgewissheit, der „Erziehung eines neuen Menschen“ und der blanquistischen Utopie der Diktatur. Dies mündete in die Entstehung grüner und linker Pöbelparteien, die bis heute die politische Agenda bestimmen. Ist das eine nachvollziehbare Linie von Olles oder eine bösartige Abwertung?

Ich vermute, Werner Olles hat das auf die Neue Linke insgesamt und nicht speziell auf die Subversive Aktion bezogen – oder vielleicht auf deren Berliner Gruppe um Rudi Dutschke. Wir Münchner jedenfalls schreckten davor zurück, die Kämpfe der Vergangenheit fortzusetzen. Ich spreche von den Jahren 1962 bis 1965. In Dieter Kunzelmanns Keller in Schwabing gaben wir uns einer zügellosen Traumtänzerei hin. Wir sahen uns als Pioniere einer künftigen Menschheit, die nicht mehr

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INTERVIEW

arbeiten muss. Den neuen Menschen wollten wir nicht erziehen, sondern durch Verführung herbeilocken. Allerdings gab es Gruppenzwänge und „Psychoamoks“. Die Verlockung der sozialistischen Orthodoxie mit „Kapital“-Kursen und nostalgischer Betriebspraxis kam später. Sie hat die Subversive Aktion gespalten und ihr ein rasches Ende bereitet.

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„TUMULT – Vierteljahresschrift für Konsensstörung“ ist eine von Wissenschaftlern und (im weitesten Sinne) Künstlern betriebene Plattform, aber keine wissenschaftliche und keine Kunstzeitschrift. Mainstreamkundig und randständig versteht sich „TUMULT“ als unabhängiges Organ der Gegenwartserkundung fernab akademischer und volkspädagogischer Sprachregelungen. Lesenswert! Wir empfehlen ein Abo. tumult-magazine.net

Was halten Sie davon, wenn etwa die metapolitische Hegemoniemethodik Gramscis von „Neurechten“ wiederbelebt wird und man in diesen Kreisen „Marx von rechts“ liest? Eitle Mode oder sinnvolle geistige Okkupationsbemühungen?

Marx von rechts zu lesen – oder auch wieder von links – ist nicht mehr möglich, weil Marxens Kritik der politischen Ökonomie eine praktische Theorie war. Sie setzte auf die unvermeidliche Empörung eines revolutionären Proletariats. Diese Zeiten sind vorbei. Ich sehe derzeit auch keine Möglichkeit, in der öffentlichen Meinung die Oberhand zu gewinnen – obwohl der westliche Universalismus und die linksgrüne Welterlösungslehre Utopien reinsten Wassers sind. Wir Neoreaktionäre inspizieren die Untiefen des Gutmenschentums und achten darauf, ob dem Zeitgeist demnächst nicht doch ein ordentlicher Schreck eingejagt wird. Dann kann sich das, was als plausibel und human gilt, von heute auf morgen völlig ändern. Können Denkschulen allgemein noch was? Manchmal ist man geneigt zu denken, dass nur mehr der Sound von TikTok, das Gezwitscher von Twitter und ähnliche individualistische Massenmedien das Grundrauschen beherrschen und jede Form von Diskurs zersetzen. Wie sehen Sie das?

Es gibt ja beides: den Hang zur Infantilisierung, zum auftrumpfenden Schwachsinn und Stumpfsinn in allen

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Lebenslagen, und zugleich die Gegenbewegung, aufkeimende Freude an der Schulung eines strengen Erkennens und Sprechens. Ich erlebe beides. Infantilisierung provoziert Disziplinierung. Sie sehen, ich glaube nicht an die Rettung der Kultur durch Bildungsreform. Denken Sie an die seelische Verfettung der Mehrheitsbevölkerung in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Kollaboration der amerikanischen und chinesischen Videoclip- und SmartphoneKonzerne, den Zustand der christlichen Kirchen, die globale politische Regression durch gehätschelte Protestbewegungen mit drei Buchstaben. Das Desaster ist nicht aufzuhalten. Aber ebenso wenig die Konterrevolution. Wir Jüngeren sind allemal Kinder von ’68, der von dort aus- und darüber hinausgehenden gesellschaftlichen Veränderung. Ist nicht genau das der großväterliche Konsens, den wir heutzutage stören müssen?

So ist es. Die Debattenlage ist paradox. Die Achtundsechziger sind die wahren Ewiggestrigen. Unser Widerstand hingegen, den man als „ewiggestrig“ diffamiert, antwortet auf die Entwicklung von heute und morgen. Kann man in der heutigen Welt noch irgendwo zu Hause sein? Wenn die Welt ein Ort ist, dürfen wir es noch etwas konkreter haben?

Wer sich heute an Ort und Stelle die rosarote Brille absetzt und sich umsieht, wird untröstlich. Er weiß dann, dass er nirgendwo mehr zu Hause ist. Abfi nden kann er sich damit nicht. Wieder heimisch aber wird er nicht durch Heraufbeschwören des Vergangenen, sondern allein durch Neugründung – im tätigen Widerstand gegen das Diktat der unbegrenzten Konvertibilität: alles und nichts zu sein.

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Zur Person

Aus der Borniertheit ins Offene „Wer sich heute an Ort und Stelle die rosarote Brille absetzt und sich umsieht, wird untröstlich.“

Der Blick Frank Böckelmanns auf die aktuelle Lage ist klar, unbestechlich und gnadenlos. Seine Abneigung richtet sich vor allem gegen Utopismus, politische Frömmelei und eine Hypermoral, die doch nur in die repressive Implementierung von Weltstaatsillusionen mündet.

u e a e e e , eF a e a bs a o e e e, ge e es o seinerzeit aufsehenerregende Studie über die gegenseitige Wahrnehmung und Fremdheit von „Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen“. 1998 in Hans Magnus Enzensbergers „Die Andere Bibo e e s e e , a s e a ge e e g e u eg u e e e e e e Neuausgabe von der Manuscriptum Verlagsbuchhandlung vor. Im gleichen Verlag, der dem ManufactumGründer und früheren -Eigentümer Thomas Hoof gehört, erschien jüngst Böckelmanns erste osa e e u g D e u ge e a s eb o o : D ese osaba […] handelt von unseren – meist gar nicht bewussten – Ausweichmanövern und der verborge e Ne gu g u e a , u e e e u e s e e u e asse e ein wenig den Schleier, der über dem Vertrödeln nicht wiederkehrender Lebenschancen liegt. Die Tüchtigen bahnen sich ihren Weg durch die Stickluft der Saumseligkeit – und erliegen am Ende den inneren Skrupeln, die sie dabei verleugnen.“ In einer Besprechung in der „Sezession“ schreibt Erik Lommatzsch völlig richtig, dass „insbesondere denjenigen, die mit dem Feld der Publizistik vertraut sind“, vieles in dem Buch bekannt vorkommen werde. Doch Böckelmanns eigene Trödeleien müssen sich in vertretbaren Grenzen gehalten haben, denn der 1941 in Dresden geborene studierte Philosoph und Kommunikationswissenschaftler, der in den 1960er-Jahren an der Subversiven Aktion mit Dieter Kunzelmann, Rudi Dutschke und Bernd Rabehl beteiligt war, wurde Anfang der 1970er-Jahre promoviert. Danach a e e g a e a g e e Au aggebe e ee e e o s u g g Das mit dem Historiker Hersch Fischler verfasste Buch „Bertelsmann. Hinter der Fassade des Medienimperiums“ (2004) erlaubt erhellende Einblicke in die Geschichte des BertelsmannKonzerns und seine Praktiken.

Heute warnt Böckelmann davor, dass der ideologische Milieuwortschatz der Linken als a e su u o ge e osu ge ue e A e e , so e sN s E u s e e us a e o u g e ge a ge : A es e s e g e ba , s s erreichbar“. Die politische Linke als historisch eigenständige Kraft sei, so Böckelmann, verschwunden: „Wer sich heute ‚links‘ nennt, kündigt lediglich an, noch hartnäckiger zu fordern, as a e a e e au s o o e E s e , e so o e ba u e s o e b e be e , e ugs u e e a e F a u e A ge e e e u g u dieses Jahres zum Ideologen der neuen nationalen Revolution (P. Bahners) erhoben. Doch e a s ea ss b e b u ge b , au e Feu e o s a e e e H e im gleichen Blatt schon 2018 behauptete, Wirklichkeit sei „nicht jene ontologische Festgröße, as ese o F a e a b s No be o e e gege u ebsa e o s e eg e des linksliberalen Spektrums in Stellung gebracht wird“.

Der Achtzigjährige ist heute als Vorsitzender des Fördervereins „Freunde der Vierteljahresschrift TUMULT e. V.“, Chefredakteur der „Vierteljahreszeitschrift für Konsensstörung“ und Herausgeber der gleichnamigen Schriftenreihe ungebrochen aktiv.

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Kulturelle Hegemonie von rechts? War einmal. Gesellschaftlicher Wandel bewirkt das Aus – oder führt in den Widerstand. VON NIKLAS E. HARTMANN

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Die vertriebene rechte Intelligenz

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Deutschland im Wandel: vom freiheitlichpluralistischen Rechtsstaat zu einem „fortschrittlich-antifaschistischen“ Ideologiestaat.

it der Einstufung des Institutes für Staatspolitik (IfS) in Schnellroda als „erwiesene extremistische Bestrebung“ im sachsen-anhaltischen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020 hat die geistig-politische Auseinandersetzung mit der rechten Intelligenz in Deutschland eine neue Stufe der Stigmatisierung erreicht. Zuvor war das Institut bereits durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bf V) als „Verdachtsfall“ geführt worden. Damit darf das IfS mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht werden, die Behörden können VLeute einsetzen oder die Kommunikation auswerten. Erik Lehnert, Wissenschaftlicher Leiter des Institutes für Staatspolitik, mutmaßte in einem Interview mit der „Tagesstimme“, dass es sich hier um eine „konzertierte Aktion gegen die ,Neue Rechte‘“ handele, „zu der Thomas Haldenwang, der Präsident des Bf V, im letzten Jahr den Startschuss gegeben“ habe. „Er konnte dabei allerdings auf die Arbeit seines Vorgängers“ – Hans-Georg Maaßen – „aufbauen, der für die Beobachtung der Identitären Bewegung gesorgt hatte.“ Ziel sei es, „Kritiker mundtot zu machen“. Wenn Lehnert im Weiteren den Verdacht äußert, daß die Einstufung des IfS als „extremistische Bestrebung“ auch deshalb erfolgt sei, weil die „Landesämter [für Verfassungsschutz] offensichtlich Munition für das Großvorhaben ,Beobachtungsfall AfD‘ liefern“ müssten, dürfte er nicht ganz falsch liegen.

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Festzuhalten ist jedenfalls, dass die Austreibung und Ausgrenzung der rechten Intelligenz aus dem öffentlichen Diskurs mit immer restriktiveren Mitteln betrieben wird. Mitte Juni dieses Jahres hatte Haldenwang bei der Vorstellung des Bundesverfassungsschutzberichtes in Berlin für eine unmissverständliche Einordnung gesorgt, als er die Neue Rechte als „geistige Brandstifter“ der „rechtsextremen Szene“ und als „Superspreader von Hass, Radikalisierung und Gewalt“ bezeichnete. Der Bf V-Präsident nannte in diesem Zusammenhang unter anderem die „Identitäre Bewegung Deutschland“, das „Compact“-Magazin, den Verein „Ein Prozent“ und das IfS. Die „Neue“ oder intellektuelle Rechte wird damit in die Rolle eines hostis humani generis gedrängt, dessen Bekämpfung oberste Pflicht des Staatsbürgers ist. Der bereits im Dezember 2000 im „DeutschlandMagazin“ von dem Politikwissenschaftler Klaus Hornung getroffenen Feststellung, „wir“ erlebten „in diesen Monaten einen tiefgreifenden ‚stillen‘ Verfassungswandel vom freiheitlich-pluralistischen Rechtsstaat des Grundgesetzes von 1949 zu einem ‚fortschrittlich-antifaschistischen‘ Ideologiestaat“, kommt damit eine neue analytische Qualität zu. Dieser Wandel hat seine Wurzeln unter anderem in der „Kulturrevolution von 1968“, die Deutschland nachhaltig verändert hat. So wies der 2008 verstorbene Sozialphilosoph Günter Rohrmoser in seinem Buch FR E I L I CH


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Neben der Gewalt der Straße die Gewalt der Gedanken: Der Verfassungsschutz ist auch ein Instrument der herrschenden Politik – hier BfVPräsident Thomas Haldenwang mit Innenminister Horst Seehofer.

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„Der Ernstfall“ (Berlin 1994) darauf hin, dass die „Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft und die Selbstauflösung der Deutschen als Nation“ „nur eines der Spätprodukte dieser Kulturrevolution“ sei. Diese gehe „aber in ihren Auswirkungen viel weiter“. Die „etablierte liberalkonservative Kultur“ im Ganzen sei „durch diese im Kern anarchistisch-nihilistische Kulturrevolution einem Prozess der Veränderung, ja, der Auflösung ausgesetzt worden“. Klassische konservative Werte stehen seither mehr oder weniger in dem Ruch, „präfaschistisch“ zu sein; sie sollen durch den „Faschismus“ – gemeint ist der Nationalsozialismus – kompromittiert sein. „Die politischen Siege der Linken in Deutschland“, so konstatierte Rohrmoser, „wären ohne diese Gleichsetzung von konservativ mit faschistisch oder präfaschistisch nicht möglich gewesen.“

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Der Aufstand der Anständigen mutiert zur Dauerveranstaltung Die Dynamik des von Hornung angesprochenen „Verfassungswandels“ hat unterdessen erheblich an Fahrt gewonnen. Hinzu kommt die Perpetuierung des „Aufstandes der Anständigen“, den der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Oktober 2000 ausrief. Er hat sich in Form aller möglichen „zivilgesellschaftlichen“ Organisationen und Antifainitiativen N °15 / D E Z EM B ER 2021

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Tradition, gelagert in Museen: Artefakte aus Kaiserreich und Erstem Weltkrieg wirken wie aus einer anderen Welt.

zu einer Dauerveranstaltung gegen rechts entwickelt. Diese droht nun – kommt es in Berlin zu einer „Ampelkoalition“ – weiter verschärft zu werden. Das Gesetz zur Stärkung und Förderung der wehrhaften Demokratie, das in der abgelaufenen Legislaturperiode nur deshalb nicht verabschiedet wurde, weil die Unionsfraktion darauf bestand, dass Fördermittel nur derjenige erhalten könne, der sich schriftlich zur Demokratie bekenne, soll nach dem Willen der Sozialdemokraten „gleich nach der Bundestagswahl mit neuen Mehrheiten“ auf den Weg gebracht werden, wie die „tagesschau“ auf ihren Netzseiten berichtete. In Unionskreisen ging die Befürchtung um, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass auch linksextreme Organisationen von dem staatlichen Geldregen gegen rechts profitieren könnten. Eine Befürchtung, die die SPD in keiner Weise nachvollziehen konnte. So beklagte die damalige Familienministerin Franziska Giffey (SPD), die „Leidtragenden“ der Unions-„Dauerblockade“ des Gesetzes seien „die vielen Engagierten in ganz Deutschland, die sich Tag für Tag für unsere Demokratie und gegen jede Form von Extremismus“ einsetzten. Ziel des Gesetzes sei laut einer Pressemitteilung des Bundesfamilien- und Bundesbauministeriums von Mitte Mai 2021 „insbesondere die Schaffung eines gesetzlichen Auftrags des Bundes zur Erhaltung und Stärkung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und des zivilgesellschaftlichen Engagements für Demokratie, für Vielfalt und gegen alle Erscheinungsformen des Extremismus“. Das Gesetz ist Teil eines 89-PunktePlans gegen Rechtsextremismus und Rassismus, den das Bundeskabinett im Dezember 2020 vorgelegt hat. Bis 2024 soll hierfür eine Summe von einer Milliarde Euro

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Unionskreise befürchteten, dass auch linksextreme Organisationen von dem staatlichen Geldregen gegen rechts profitieren könnten. Eine Befürchtung, die die SPD in keiner Weise nachvollziehen konnte.

bereitgestellt werden. Damit steht die Gefahr eines „latent autoritären Gesinnungsstaates“ im Raum, den Christiane Hubo in ihrer Doktorarbeit „Verfassungsschutz des Staates durch geistig-politische Auseinandersetzung“ (Göttingen 1998) bereits Ende der 1990er-Jahren als Gefahr markierte. Hubo stellte damals fest, dass es dem demokratischen Verfassungsstaat gerade nicht obliege, „neue Denkverbote zu errichten und, verstärkt durch die Mechanismen der political correctness, geistig-politische Auseinandersetzung zugunsten interessegeleiteter Politikvisionen diskursethisch zur Ausgrenzung einzusetzen“. Die Entwicklung scheint aber, unter dem Deckmantel der Beschwörung der streitbaren oder wehrhaften Demokratie, beim Kampf gegen die rechte Intelligenz in diese Richtung zu gehen. Der „Neuen Rechten“ wird (immer wieder) vorgeworfen, dass sie sich auf die Protagonisten der „Konservativen Revolution“ berufe, die mittlerweile eine Art Chiffre für „antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“ (so der Politologe Kurt Sontheimer) geworden ist. Entsprechend ablehnend hätten sie den Werten der Aufklärung, Menschenrechten, Pluralismus oder Gleichwertigkeit gegenübergestanden. Diese „Konservativen Revolutionäre“ – wie Carl Schmitt, Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck oder Edgar Julius Jung – seien ein wesentlicher Faktor bei der Delegitimierung der Weimarer Republik und damit Wegbereiter der Nationalsozialisten gewesen. Die Lehren, die aus den behaupteten verfassungsrechtlichen Defiziten, der angeblich fehlenden Akzeptanz demokratischer Werte und der mangelnden Zahl aktiver Verfechter der Demokratie in der Zeit der Weimarer Republik gezogen wurden, fokussieren sich in FR E I L I CH


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dem Begriff „streitbare“ oder „wehrhafte Demokratie“. Ob und inwieweit diese Einschätzung der fehlenden Akzeptanz demokratischer Werte zutreffend ist, kann an dieser Stelle nicht vertieft werden. Häufig wird hier die massive Notlage, in die viele Deutsche zur Zeit der Weltwirtschaftskrise gerieten, ausgeblendet. Dass hierauf seitens der diversen Reichsregierungen in der Endphase der Weimarer Republik keine Antwort gefunden werden konnte, hat sicherlich entscheidender zu deren Scheitern beigetragen als das immer wieder beschworene Narrativ von der „Demokratie ohne Demokraten“.

„Streitbare Demokratie“ als „Freiheitssicherung“ durch Planung Der Begriff „streitbare“ oder „wehrhafte Demokratie“ geht auf die während des Nationalsozialismus im Exil lebenden Emigranten Karl Loewenstein und Karl Mannheim zurück. Loewenstein gilt als Schöpfer des Begriffs „militant democracy“, den er im Juni 1937 in einem Beitrag für die „American Political Science Review“ einführte. Der kanadische Politologe Augustin Simard wies in einem Beitrag für den Sammelband „Die Weimarer Staatsrechtsdebatte“ (Baden-Baden 2011) darauf hin, dass das „Konzept der streitbaren Demokratie“ „in vielerlei Hinsicht“ eine „,offizielle‘ Antwort auf das Scheitern von Weimar“ darstelle. Es handele sich um die „öffentliche ,Doktrin‘ der Regierungsautoritäten, die ein klares Bild des ,Verfassungsfeindes‘“ zeichne, nämlich das des „Extremisten“, „des illoyalen Bürgers, der die Neutralität der liberalen Rechtsgarantien ausbeuten will, um die Werteordnung, auf die sie sich stützen, umzustürzen“. Das N °15 / D E Z EM B ER 2021

Scheitern Weimars wird häufig auch an der Weimarer Verfassung festgemacht, die als angebliche „Verfassung ohne Widerstandskraft“ – so zum Beispiel die Juristin Kathrin Groh – auf „Wertneutralität und Agnostizismus“ fußte. Loewenstein hatte bei seinen Ausführungen vor allem den Nationalsozialismus und den italienischen Faschismus vor Augen. Dennoch kann er nur sehr eingeschränkt als Stichwortgeber für das gelten, was heute in Deutschland unter dem Rubrum „wehrhafte Demokratie“ läuft. Wer Loewensteins Ausführungen liest, wird Simard zustimmen, wenn er feststellt, dass dessen Studie „einen funktionalistischen Blick auf den Faschismus“ werfe, weil „sie sich weniger für dessen ideologischen Inhalt, sondern vielmehr für das Funktionieren seines ,Verwaltungsstabs‘“ interessiere. Loewenstein fokussiert den „bis dahin unbekannten modus operandi“ des Faschismus, seine „politische Technik“. Entsprechend skizziert sein Verständnis von „militant democracy“ eine „gegensätzliche Technik“, die den „faschistischen modus operandi“ angreife. Mit anderen Worten: Loewenstein setzt sich nicht vorrangig inhaltlich mit dem Faschismus auseinander, sondern denkt über Gegenstrategien auf einer technischen Ebene nach. Demgegenüber verfolgt der Soziologe Karl Mannheim vor allem in seinem 1943 publizierten Buch „Diagnosis of our time“ (dt. Zürich, Wien u. Konstanz 1951) eine ganz andere Strategie, die dem nahekommt, was heute „streitbare Demokratie“ meint. Die „neue streitbare Demokratie“, wie sie Mannheim versteht, soll „eine neue Einstellung zu den Wertbegriffen entwickeln“ und „sich von der relativistischen laissez-faire-Gesellschaft der vergangenen Epoche unterscheiden“. Sie werde „den

Kleiner werdende Bühnen und mehr Druck auf Nonkonformisten: hier Verleger Götz Kubitschek und IfS-Leiter Dr. Erik Lehnert auf der Frankfurter Buchmesse 2017. Der Podcast aus Schnellroda titelt „Am Rande der Gesellschaft“.

HERRSCHAFT

Das Kernproblem der bundesdeutschen Herrschaftsordnung ist die Verkürzung der politischen Freiheit unter Berufung auf demokratische Werte. Josef Schüßlburner: Demokratie-Sonderweg Bundesrepublik. Analyse der Herrschaftsordnung in Deutschland Lindenblatt Media Verlag, Künzell 2004. ISBN 978-3-937807-00-3 A € 39,80 / D € 39,80

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Mut haben“, „über gewisse grundlegende Wertbegriffe Einigung zu erzielen, die sich jeder zu eigen machen kann, der an der Tradition westlicher Zivilisation teilhat“. Zu Recht stellt das „Deutschlandradio“ in einem Feature fest, dass Mannheims Überlegungen in einem „Regulierungscredo“ mündeten, wenn er feststellt: „Wir müssen alle gesellschaftlichen Beziehungen regulieren, um die kollektive Freiheit der Gruppe in Übereinstimmung mit einem demokratisch genehmigten Plan zu sichern.“ Die Menschen würden „von nun an eine höhere Form der Freiheit finden, indem sie viele Seiten ihres Eigenlebens der von der Gruppe bestimmten Gesellschaftsordnung unterordnen“. Und weiter: „Im höchsten Stadium kann Freiheit nur dann bestehen, wenn sie durch Planung gesichert ist.“

„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“: Trumpf im Kampf gegen rechts Hier wird „streitbare Demokratie“ zu einer Sozialtechnik, zu einem social engineering, das im Namen der Freiheit gesellschaftliche Beziehungen regulieren soll. Die Idee einer technischen, sprich: edukatorischen Steuerbarkeit der „Gesellschaft“, mit der die Erwartung verknüpft wurde, dass sie dem Menschen künftig den Fortschritt zu einer Daseinsweise eröffnen würde, die im Einklang mit den sozialen Gesetzen steht, hat ihren Ort in den Sozialwissenschaften der USA. Dahinter steht die Vorstellung, die Sozialwissenschaft könne die „gesetzmäßigen Beziehungen der Gesellschaft“ ermitteln und es dem Menschen ermöglichen, „seine Ziele sozialtechnologisch zu verwirklichen“, wie der Grazer Soziologe Bernhard Plé in seiner Disserta-

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Foto: Franz Perc / Alamy Stock Foto

Der legendäre Wiener Bürgermeister Lueger ist inzwischen ein Stein des Anstoßes und lebt im Kulturkampf weiter.

Die Entwicklung des Instrumentes „Antifaschismus“ hat immer mehr an Dynamik gewonnen und erfasst als „gemeinsames Feindbild“ die Diskurse der intellektuellen „Neuen Rechte“.

tion „Wissenschaft und säkulare Mission“ (Stuttgart 1990) ausführt. Entsprechend sind es Zuarbeitungen und Analysen aus den Sozialwissenschaften, die in Deutschland dem Kampf gegen rechts den wissenschaftlichen Anstrich geben. Sie liefern die Begriffswaffen der „wehrhaften Demokratie“. Eine dieser Begriffswaffen, die geradezu zum Trumpf gegen rechts aufgestiegen ist, ist das „Syndrom“ „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF), für das der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, Gründungsdirektor des Bielefelder Institutes für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG), das Urheberrecht beansprucht. Mit dieser Waffe meinen die Adepten Heitmeyers feindselige Einstellungen zu Menschen unterschiedlicher sozialer, religiöser und ethnischer Herkunft analysieren und bewerten zu können. Der Begriff GMF sei, so stellte zum Beispiel das Internetmagazin „Telepolis“ fest, „in den letzten Jahren […] in den Rang einer Richterskala zur Bestimmung der Stärke von Rechtslastigkeit aufgestiegen“. Dass der Einsatz eines immer weitergehenden Begriffswaffenarsenals, nun möglicherweise ergänzt durch das Wehrhafte-Demokratie-Gesetz, in der „geistig-politischen Auseinandersetzung“ staatsverändernde Konsequenzen nach sich ziehen könnte, hat Hubo bereits Ende der 1990er-Jahre in ihrer oben angesprochenen Doktorarbeit aufgezeigt. Diese Auseinandersetzung findet gemäß ihrer Ausführungen seitens staatlicher Instanzen vor allem durch die Veröffentlichung von Verfassungsschutzberichten und weiteren Publikationen sowie Maßnahmen der politischen Bildung statt. „Durch die Indienstnahme von gesellschaftlichen Gruppierungen für die Kampagnen FR E I L I CH


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Foto: Naturfoto-Online / Alamy Stock Foto

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Auch Otto von Bismarck wollen sie aufs Dach steigen.

des Staates, die subsidiär für den Staat tätig werden“, so Hubo, greife der Staat „in Verlängerung durch das Handeln dieser Gruppen tief in die freie Meinungsbildung ein und bekämpft gleichzeitig mutmaßliche Gegner mit Hilfe von gesellschaftlichen Kräften“. Im Ergebnis laufe der Staat damit Gefahr, „von den Interessen, Blickrichtungen, politischen Attitüden dieser Gruppierungen nicht nur beeinflusst zu werden in seinem staatlichen Handeln, sondern vielmehr auch zu Richtungshandeln im Sinne dieser Gruppierungen vereinnahmt zu werden“. Bei diesen Gruppierungen spielt der „Antifaschismus“ häufig eine zentrale Rolle. Bernd Posselt (CSU), Europaparlamentarier bis 2014, hat – um nur eine Stimme nur nennen – vorausgesehen, welche Konsequenzen diese „Vereinnahmung“ interessierter Gruppierungen im Kampf gegen rechts haben würde, als er feststellte, dass „einer zeitweise orientierungslos gewordenen Linken“ im Antifaschismus „ein geeignetes Instrument“ erwachse, „um Europa eine Seele, eine geistige Ausrichtung zu geben“, und zwar unter Einbeziehung der „Erben des Linkstotalitarismus“. „Wirkliche und vermeintliche Rechtsextremisten“ hingegen dienten als „gemeinsames Feindbild aller sozialistischen und demokratischen Kräfte“.

Merkel definiert das Grundgesetz zum „Programm für Zusammenhalt und Integration einer vielfältigen Gesellschaft“ um Die Entwicklung des Instrumentes „Antifaschismus“ hat seitdem immer mehr an Dynamik gewonnen und erfasst als „gemeinsames Feindbild“ die Diskurse der N °15 / D E Z EM B ER 2021

intellektuellen „Neuen Rechte“, die als angeblicher Stichwortgeber für Hetze, Rassismus und Ausgrenzung gebrandmarkt wird. Jeder „echte Demokrat“ verweigert sich deshalb einer argumentativen Auseinandersetzung, weil die unterstellte „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ aller rechtsintellektuellen Strömungen zum Widerstand verpflichtet. Die daraus folgende Ausgrenzungsstrategie gegen rechts hat unter anderem zur Folge, das wesentliche Fragen zur Zukunft des deutschen Gemeinwesens nicht mehr gestellt werden können. Zu nennen sich hier zum Beispiel Themen wie die Folgen der Massenzuwanderung für die Demografie, die Zukunft des Sozialstaates, das allmähliche Verschwinden von nationaler und kultureller Identität, die einseitige Erinnerungspolitik, basierend auf Schuld, Sühne und Dauerbuße, oder der Verfall der Bildung. Kritik an der Massenzuwanderung zum Beispiel, wie sie insbesondere von rechtskonservativen Kreisen erhoben wird, wird mit der Behauptung vom Tisch gewischt, diese nütze Deutschland. Statt einer inhaltlichen Auseinandersetzung wird den Kritikern von rechts unterstellt, aus einer rassistischen oder deutschtümelnden Grundhaltung heraus zu agitieren und damit „die Gesellschaft zu spalten“. Entsprechend ist die öffentliche Meinung weitgehend von dem Versuch bestimmt, mit moralischen Argumenten Positionen aus dem Diskurs auszugrenzen, die ethnischen Differenzen eine Relevanz zuschreiben. Mit welch perfiden Mitteln das Festhalten an einer ethnisch halbwegs homogenen Gesellschaft kontaminiert wird, dafür hat der einstige „Vordenker“ der Unionsparteien, Wolfgang Schäuble (CDU), aktuell Präsident des Deutschen Bundestages, ein schlagendes Beispiel ge-

FUSSBALL

Die Ausführungen in diesem Buch folgen einem positiven Verständnis von Volk, Nation und Vaterland – wie es einst üblich war. Eine sachliche Diskussion des Themas ist in Deutschland schwierig. Dabei wäre sie so einfach: Identität hat viele Facetten. Man muss nur tolerant sein. Martin Wagener: Kulturkampf um das Volk. Der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen Olzog Verlag, Reinbek 2021. ISBN 978-3-95768-228-4 A € 26,80 / D € 26,00

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R E P O R TAG E

Mit Arroganz und Verachtung steht die aktuelle politische Klasse in Deutschland dem eigenen Herkommen und der eigenen Geschichte gegenüber.

geben. Er erklärte im Juni 2016, die „Abschottung“ sei „doch das, was uns kaputt machen würde, was uns in Inzucht degenerieren ließe. Für uns sind Muslime in Deutschland eine Bereicherung unserer Offenheit und unserer Vielfalt“. Mit anderen Worten: Wer sich gegen Massenmigration wehrt – und das meint in Deutschland eine in weiten Teilen illegale Einwanderung, die 2015 mit der Grenzöff nung einen vorläufigen Höhepunkt erreichte –, steht nicht nur für „Abschottung“ – was immer das in einer grenzenlosen EU heißen soll –, sondern nehme „inzestuöse Degeneration“ in Kauf. Nichts zeigt mehr, mit welcher Arroganz und Verachtung die aktuelle politische Klasse in Deutschland dem eigenen Herkommen und der eigenen Geschichte gegenübersteht. Hier scheint eine Haltung durch, für die der britische Philosoph Roger Scruton den Begriff Oikophobie – „Heimatfurcht“ – als Pendant zu Xenophobie geprägt hat. Von „Heimatfurcht“ seien nach

Scruton jene befallen, die ihrerseits die Heimatliebenden der Xenophobie und des Rassismus bezichtigen. Wie diese „oikophobe“ Einlassung Schäubles zu bewerten ist, kann bei Hubo nachgelesen werden, wenn sie feststellt, dass die staatlich geförderte „Heterogenisierung des Staatsvolkes zum einen die Identität des Volkes als Träger des Staates und daraus folgend auch den Staat in seiner geschützten Identität als bestehender Staat“ zerstöre. An seine Stelle trete dann ein neuer Staat mit einem neuen Volk als Träger der Staatsgewalt. Zu einem in der Tendenz ähnlichen Befund kam jüngst auch der Berliner Politikwissenschaft ler Martin Wagener in seinem Buch „Kulturkampf um das Volk“ (Reinbek 2021), in dem er feststellt, dass die Bundesregierung das Projekt „der Ersetzung der deutschen Kulturnation durch eine multikulturelle strukturierte Willensnation“ betreibe. Die Reaktion auf diese These ließ in Gestalt des ehemaligen Verfassungsschutzmit-

Die Vierteljahresschrift T UMULT ist heute für rechte Intellektuelle das, was Enzensbergers KURSBUCH 1968 für die Linke war. Brillante Essays, Forschungen und Tiefengrabungen im Zeitgeist … Matthias Matussek, Tichys Einblick

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arbeiters Armin Pfahl-Traughber nicht lange auf sich warten: Er bescheinigte Wagener, dass seine Auffassung dem „,Große-Austausch‘-Diskurs, der von der AfD über die Identitären bis zur Neuen Rechten betrieben“ werde, entspreche. Auch Wagener wird damit unterstellt, „absonderliche Deutungen“ zur „Ersetzung der deutschen Kulturnation“ zu verbreiten und damit das Geschäft der als extremistisch apostrophierten rechten Intellektuellen zu betreiben. Mit keinem Wort geht Pfahl-Traughber darauf ein, dass es Merkel selbst war, die im Mai 2019 in einer Rede in aller Offenheit erklärte, Deutschland müsse „sowohl ein Einwanderungsland als auch ein Integrationsland sein“; sie defi nierte das Grundgesetz damit kurzerhand zum „Programm für Zusammenhalt und Integration einer vielfältigen Gesellschaft“ um. Da ist es nur konsequent zu behaupten, das Volk sei „jeder, der in diesem Land“ lebe; so Merkel im Februar 2017. Die angeblich „absonderlichen Deutungen“ Wageners stehen also auf einem festen Grund. Hand in Hand mit dieser Inkriminierung von Standpunkten, die im demokratischen Diskurs nicht anders als als legitim zu bezeichnen sind, geht die Entgrenzung des Extremismusbegriffes, die besonders in dem Theorem „Extremismus der Mitte“ deutlich wird. Der Begriff geht auf den US-Politikwissenschaft ler und anfänglichen Trotzkisten Seymour Martin Lipset zurück. Lipset wandte sich gegen die These, vor allem „Abgehängte“ hätten die NSDAP gewählt; vielmehr seien es Angehörige der (vor allem oberen) Mittelschicht gewesen. In der bundesdeutschen Extremismusforschung waren es die im Auftrag der SPD-nahen Friedrich Ebert Stift ung erstellten „Mitte-Studien“, die diesen Begriff bekannt machten. Federführend waren hier unter anderem Elmar Brähler und Oliver Decker, die 2018 das Buch „Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft“ herausgaben. Wie rasch man in diese „Dynamiken“ eingezeichnet werden kann, machen die Heitmeyer-Adepten Andreas Zick und Anna Klein deutlich, wenn sie in dem Sammelband „Fragile Mitte – Feindselige Zustände“ (Bonn 2014) bereits die Feststellung „Es gibt zu viele Ausländer in Deutschland“ als Ausdruck „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ einordnen.

Extremismusbegriff als Kampfmittel für Kräfte, die selbst dem Verfassungsstaat reserviert gegenüberstehen Ungeachtet der hier durchscheinenden begrifflichen Willkür hat dieser Begriff Eingang in regierungsamtliche Dokumente gefunden. So baut zum Beispiel der N °15 / D E Z EM B ER 2021

Nationale Aktionsplan gegen Rassismus der Bundesregierung von Juni 2017 geradezu auf diesem Begriff auf. Hubo weist darauf hin, dass die „Entgrenzung des Extremismusbegriffs“, die mit den Deutungsmustern der GMF einhergeht, besonders „in der Formel vom Extremismus der Mitte“ deutlich werde. Die Einordnung „aller derjenigen, die linken Bestrebungen ablehnend gegenüberstehen, als rechtsextrem, könnte letztlich dazu führen, daß solcherart begriffliche Ausweitungen benutzt werden, den demokratischen Verfassungsstaat zu delegitimieren. Der Extremismusbegriff würde dann zum offensiven Kampfmittel von Bestrebungen werden, die selbst dem Verfassungsstaat reserviert gegenüberstehen, die selbst (tendenziell) extremistisch sind“. In eine ähnliche Richtung argumentiert der Staatsrechtler Dietrich Murswiek, wenn er 1997 im Deutschen Verwaltungsblatt (DVBl) feststellt: „Die öffentliche Kritik, jemand sei ein Verfassungsfeind, dient nicht lediglich der geistigen Auseinandersetzung im politischen Willensbildungsprozeß. Sie dient vor allem dazu, den Betreffenden mit seinen politischen Positionen aus diesem Willensbildungsprozess auszugrenzen.“ Murswiek macht deutlich, dass die Ausgrenzung wirklicher Extremisten der Demokratie diene, die Ausgrenzung von Personen, Organisationen oder Meinungen indes, „die in Wirklichkeit mit der FDGO durchaus vereinbar“ sei, „würde der Demokratie größten Schaden zufügen“. Noch pointierter bringt es Hubo auf den Punkt, wenn sie konstatiert, dass der Entwurf einer multikulturellen Gesellschaft „in Verbindung mit der Aufgabe des Abstammungsprinzips im Staatsangehörigkeitsrecht und des Modells der Kulturnation zur Umwandlung des Staatsvolkes“ führe, das „nach der ,klassischen‘ Lehre selbst Bestandteil des Staates“ sei. Zugleich stelle „die Verbürgung eines Rechtsanspruchs auf Einreise und Einbürgerung für alle ,Bedürftigen‘ den Nationalstaat“ infrage und hebe „schließlich die Gebietshoheit auf “. Im Ergebnis werde „die wehrhafte Demokratie über die Definierung des Rechtsextremismus im Namen der Menschenrechte zur Auflösung des Staates verwendet und damit in ihr Gegenteil verkehrt“. Hubo sieht also die Gefahr eines backlash, einer Überdehnung der Instrumente der wehrhaften Demokratie, der mit der ständig weitergehenden Auslegung der Merkmale rechtsextremen Denkens einhergeht und schließlich das gefährdet, was es verteidigen soll. Diesem Punkt ist Deutschland in den letzten Jahren ein erhebliches Stück näher gekommen.

Niklas E. Hartmann geb. 1991 in Stade, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte. Lebt und arbeitet als freier Lektor, Publizist und Übersetzer in Hamburg.

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INFOGRAFIK

2020

2015

2010

Der III. Weg

Alternative für Deutschland

seit 2013

seit 2013

Kleinpartei, die mit konsequentem Extremismus und verbaler Radikalität von sich reden macht.

Von der Anti-Euro-Partei zum rechten Flügel der deutschen Parteienlandschaft – ein Ärgernis, das da ist und sich etabliert hat. Eingehegt auf 10 %, Potenzial für die Rechtspopulisten: sicher bis zu 25 %. Da muss man in der Mitte mit allen Mitteln dagegen ankämpfen.

2005

2000

1995

Nationaler Widerstand 1990er-Jahre

1990

Bund freier Bürger

Antwort auf das Verbot von Organisationen und Parteien; eine weite Szene an Grüppchen und Kameradschaften.

1985

1994–2000

Rechts wie die Österreicher, kurzzeitig von Jörg Haider unterstützt. Der hat dann gesehen: Mit Deutschland wird das nichts mehr.

Nationalistische Front 1985–1992

Nationalrevolutionäre „Neos“ mit maoistischen Kaderträumen. 1980

1970

1979–1995

Sammelbecken der Neonationalsozialisten um Michael Kühnen, dessen „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“ 1983 verboten wurde.

1971–2011

Zuerst ein Verein, dann eine Partei, immer der Privatbesitz von Verleger Gerhard Frey. Ging in der NPD auf.

seit 1964

Die Altpartei unter den extremen Rechten, über die Jahrzehnte mit vielen unterschiedlichen Ausrichtungen. Geblieben ist der Kalauer: Wenn der Staat will, dass sich die NPD auflöst, muss er es nur seinen V-Leuten sagen, sie sind in der Mehrheit …

1960

1955

RECHTSPARTEIEN

Wiking-Jugend

1950

1952–1994

Sozialistische Reichspartei 1949–1952

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Deutsche Volksunion

Nationaldemokratische Partei Deutschlands

1965

1945

gegr. 1983

Aus Bayern und vielfach von der CSU kommend kurzfristig erfolgreich: eine neue Rechtspartei für Deutschland.

Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei 1975

Die Republikaner

Erster Versuch, an das anzuknüpfen, was war. Scheiterte an sich selbst und an den Gesetzen der BRD. Als NSPartei verboten.

Zehntausende Jugendliche gingen durch den HJ-ähnlichen Verband, angeblich sogar ein späterer Minister. Beim Verbot ist die WJ allerdings nur mehr ein Schatten ihrer selbst.

Freie Demokratische Partei seit 1948

Deutschland fehlt ein freiheitliches Lager à la Österreich, dennoch war die FDP lange und immer wieder Heimat von Nationalliberalen.

Christlich-Soziale Union seit 1945

Lange die einzige rechte Partei in Deutschland: „Rechts von der CSU darf es nichts geben“. RE


INFOGRAFIK

2020

2015

Ein Prozent für unser Land Identitäre Bewegung

Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes

seit 2012

seit 2014

„Neurechte“ Jugendbewegung, die aus Österreich nach Deutschland kam. Plakative Kampagnenpolitik erregte das Establishment.

Breite Mobilisierung, die auf ganz Deutschland ausstrahlte, vor allem als Protest gegen die Große Wanderung 2015.

seit 2015

Arbeiten wie eine NGO: Die Initiative „Ein Prozent“ unterstützt andere Initiativen im „neurechten“ und AfD-Umfeld und baut so das Lager auf.

„Sezession“ seit 2003

Seit dem Niedergang des konservativen „Criticón“ übernimmt die Zeitschrift „Sezession“ eine zentrale Rolle bei der Formierung einer neuen, intellektuellen Rechten in Deutschland. Gegründet von Götz Kubitschek, gehört sie zum Bündel mit IfS und Verlag Antaios.

Institut für Staatspolitik

Verlag Antaios

seit 2000

seit 2000

Als konservative Denkwerkstatt bringt das IfS junge Menschen zu Tagungen nach Schnellroda. Thinktank und Nachwuchsschmiede.

Gegründet von Götz Kubitschek und Ellen Kositza. Der „neurechte“ Verlag in Deutschland.

2010

„COMPACT“ seit 2010

„COMPACT“ ist eine politische Monatszeitschrift. Chefredakteur Jürgen Elsässer kommt von links. Seit 2015 veröffentlicht „COMPACT“ als Sprachrohr der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland und der PEGIDA-Bewegung.

2005

2000

1995

1990

„Junge Freiheit“

„Junges Forum“ 1960er-Jahre

NEUE RECHTE

1985

seit 1986

Eine Zeitschrift der „neurechten“, nationalrevolutionär ausgerichteten Studenten um Henning Eichberg. Brachte aus Frankreich die Nouvelle Droite mit.

„wir selbst“ 1978-2002

Nationalrevolutionär und ökologisch: „wir selbst“ war lange Zeit die Heimat der „linken Leute von rechts“, darunter Henning Eichberg (1942–2017). Er war einer der Väter der „Neuen Rechten“ in Deutschland, ging selbst immer weiter nach links, lehrte später in Dänemark Kultursoziologie.

Aktion Neue Rechte 1972–1974

Das „Mutterschiff “ für viele Rechtskonservative und „Neurechte“ in Deutschland, gegründet von Dieter Stein. Vom Blättchen zur vollwertigen Wochenzeitung; von Chefredakteur Stein um alle Klippen geschiff t und stets so mittig in der Gesellschaft gehalten, wie es geht.

RECHTE MEDIEN

Die „Neue Rechte“ in Deutschland ist sozusagen auch ein Produkt der ’68er-Bewegung. Die nur kurz bestehende ANR war eine NPD-Abspaltung, die neue Wege gehen wollte.

1980

1975

1970

1965

1960

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Der Waldgang B

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1950

1945

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Die konservative Mannschaft stellt sich den Schrecken des Eises und geht gemeinsam dem Ziel zu. Schwierige Zeiten brauchen Mut und Einsatz.

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Foto: Archiv

— DER KOMMENDE KONSERVATISMUS

FR E I L I CH


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Die Zukunft ist nicht geschrieben. Es ist an uns, sie zu gestalten. Über den Nationalstaat, die soziale Frage und Europa VON BENEDIKT KAISER

Der zeitgenössische „Konservatismus“ in Westeuropa im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen wirkt oftmals als ein „leerer Signifikant“. Das heißt: Man kann in diesen Terminus mehr denn je zuvor unterschiedliche weltanschauliche Bestandteile eingliedern und unterschiedliche Haltungen unter ihn subsumieren. Auf der parlamentspolitischen Ebene in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) heißt dies beispielsweise: Die Alternative für Deutschland (AfD) gilt als „nationalkonservativ“ oder schlicht als „konservativ“. Die Christlich-Demokratische Union (CDU) der amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel ist gemäß der Ansicht vieler Linker und der Mainstreammedien „konservativ“. Und selbst den linksbürgerlich-antifaschistischen „Grünen“ wird nachgesagt, „konservative“ Akteure in ihren Reihen zu haben. Wenn aber die größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag – die rechte Sammlungspartei AfD – „konservativ“ ist, die mittig-liberale Union Merkels „konservativ“ regiert und die linksliberale Partei Bündnis 90/Die Grünen „konservative“ Politiker integriert – dann ist der Begriff parlamentspolitisch dienstunfähig geworden. N °15 / D E Z EM B ER 2021

Wer ist konservativ? Für die kulturellen, gesellschaftlichen und medialen Sphären jenseits der Parteienpolitik, in denen Vorbedingungen der Politik ausgehandelt werden, sprich: im Raum der „Metapolitik“, ist die Lage nicht besser. Auch hier werden unterschiedlichste, sich mindestens zum Teil widersprechende Positionen und Standpunkte als „konservativ“ etikettiert: Wirtschaftsliberale Publizisten, denen es allein um das Primat ökonomischer Kennzahlen und materialistische Glaubenslehren geht, werden massenmedial als „konservativ“ präsentiert; transatlantische Lobbyisten, die alles Weitere aus ihrer Nibelungentreue zu den USA ableiten, ebenso; und auch vulgär-populistische Islamgegner, die nur ein Thema auf ihre Schwarz-Weiß-Agenda setzen, werden oftmals als „konservativ“ beschrieben – oder beschreiben sich selbst so. Diese Regression des Denkens und der Verfall einer Begrifflichkeit kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht in extenso erklärt und historisch hergeleitet werden. Zusammenfassend sollte für den österreichischen Leser immerhin der Hinweis zweckdienlich sein, dass

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E S S AY

Der kommende Konservatismus ist solidarisch und patriotisch, er integriert rechten Ansatz und linke Elemente.

die Tendenz der Entwertung konservativer Substanz einer konsequenten Fortschreibung jener Entwicklung nach der deutschen Niederlage von 1945 entspricht, in der „Konservatismus“ lediglich noch als Surrogat mit den Pfeilern Biederkeit, Bürgerlichkeit und (apolitischer) Beharrenskraft geduldet wurde. Weltanschauliche Generallinien vom preußischen Konservatismus des 19. Jahrhunderts bis zu dem auf ihn folgenden revolutionären Konservatismus entlang der Maxime „Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt“ (Arthur Moeller van den Bruck) des frühen 20. Jahrhunderts wurden nach dem Zweiten Weltkrieg negiert bzw. offen bekämpft. Der „authentische Konservatismus“ (Felix Dirsch) nach 1945 sah und sieht sich also einem Nischendasein ausgesetzt und wird in der BRD heute fast ausnahmslos in nonkonformen, „neurechten“ Kreisen um die Zeitschrift „Sezession“ und die Verlage Antaios und Jungeuropa lebendig gehalten sowie entlang neuer Fragestellungen und Widersprüche weitergedacht – als metapolitische Strömung immerhin auch mit Ausstrahlung in Teile der parlamentspolitisch agierenden AfD und ihres Umfeldes.

Der kommende Konservatismus 2

Vgl. hierzu ausführlich Benedikt Kaiser: Solidarischer Patriotismus. Die soziale Frage von rechts, Schnellroda 2020.

3

Heinz Bude: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee, München 2019, S. 34 u. 25.

4

Volker Kronenberg: „Solidarischer Patriotismus heute – Zur Aktualität einer republikanischen Tugend“; in: Hans Zehetmair (Hrsg.): Zukunft braucht Konservative, Freiburg et al. 2009, S. 79–91, hier S. 84 u. 91.

5

Hans Zehrer: „Rechts oder Links? Die Verwirrung der Begriffe“; in: Die Tat. Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit 7/1931 (Oktober), S. 505–559, hier S. 559.

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Der authentische und – hoffentlich – kommende Konservatismus muss sich folglich nicht nur gegen seine klar erkennbaren weltanschaulichen Antagonisten wenden, sondern auch gegen jene, die unter falscher Flagge segeln und dem Konservatismus weltanschaulich antagonistische Standpunkte unterjubeln. Doch was macht den authentischen Konservatismus, der einen originären, kommenden, revolutionären (das heißt: gestaltenden, schöpferischen) Konservatismus verkörpert, aus? Der kommende Konservatismus ist erstens solidarisch und zweitens patriotisch.2 Solidarisches Denken und Handeln – das heißt: praktische, konkrete Solidarität – affirmiert er als „Einbezogenheit in ein soziales Geschehen“, für das man als Teil der Gemeinschaft, die den einzelnen gesetzmäßig umgibt, Verantwortung trägt. Abgeleitet wird dies vom lateinischen Wortstamm „solidus“ (fest, ganz) im

Sinne einer „Verpflichtung fürs Ganze“.3 Dazu kommt Patriotismus „als gemeinwohlorientierte Haltung und Handlung“, als Bekenntnis zum identitären und kulturellen Eigenen, das man verteidigen und erhalten möchte. Beide Formen bedingen einander: „Ohne Gemeinsinn kein Gemeinwohl. Ohne Solidarität der Bürger keine Bestandsgarantie von republikanischer Freiheit. Ohne Patriotismus keine Patria.“ 4 Heruntergebrochen: Wer als einzelner Mensch das „große Ganze“, seine Heimat, sein Vaterland, seinen Kulturkreis nicht schätzt, wird für die Angehörigen seiner Gemeinschaften keine wechselseitige Verantwortung empfinden, sondern kennt nur das Ich oder hybride Teil- und Ersatzidentitäten. So aber ist speziell in entsicherten Jahrzehnten, die vor uns liegen, kein Staat zu machen, der notwendig ist, um für das konfliktreiche Post-„Corona“-Morgen gewappnet zu sein. Indem der kommende Konservatismus solidarisch und patriotisch ist, stellt er ein Angebot an vernunftbegabte und gemeinwohlorientierte Kräfte aller Seiten der politischen Gesäßgeografie dar. Er hebt Widersprüche auf und lässt sich nicht auf Schlachten, Trennungen und vermeintlich „unüberwindbare“ Hürden von gestern ein. Er integriert als „rechter“ Ansatz auch (vermeintliche und tatsächliche) „linke“ Elemente, wo es nötig und unvermeidlich erscheint. Denn nur „einem Denken, das die Synthese zwischen beiden bejaht und in sich vollzogen hat, sind jene Probleme zugänglich, die uns die Zukunft stellen wird und an denen die Gegenwart verzweifelt“5, wie der konservative Vordenker Hans Zehrer in einem zentralen Schlüsselessay zeitlos aufzeigte. Weil Zehrers Beitrag 90 Jahre alt ist und sich die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Verhältnisse Deutschlands, Österreichs und Europas stark gewandelt haben, ist der kommende Konservatismus nicht nur solidarisch und patriotisch, sondern auch – drittens – europäisch. Man kann auch hier wieder die parlamentspolitischen und metapolitischen Sphären als Argumentsebenen heranziehen. Denn die Europäische Union (EU) wirkt in unser aller Lebensbereiche hinein: Etwa 70 % aller in den Mitgliedstaaten verabschiedeten Gesetze werden auf EU-Ebene angestoßen. Spätestens mit FR E I L I CH


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dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon im Jahre 2009 ist der Rechtsetzungsprozess „europäisiert“, und der Bürger von Budapest hat sich ihm ebenso zu unterwerfen wie jener in Berlin, Wien oder Prag. Wenn eine politische Kraft – etwa der Konservatismus – hier national engstirnig angreift, ohne eigene verlässliche und weltanschaulich einigermaßen kongruente Partner auf europäischer Ebene zu finden, ist man zu realpolitischer Wirkungslosigkeit verdammt. Aber auch die metapolitische Welt ist zu bedenken. Kulturelle Entwicklungen und Veränderungen machen an Landesgrenzen nicht halt, geistes- und ideenpolitische Prozesse ohnehin nicht. Wer sein Volk und seine Nation schätzt und ihre Besonderheiten bewahren will, kann dies wirkmächtig nur dann erreichen, wenn er tragfeste Allianzen mit jenen Akteuren einzugehen vermag, die in ihrem Land ebenfalls für Volk und Nation arbeiten. Zu dieser Ebene politischer Vernunft tritt die gefühlsbezogene Komponente eines positiven Europäertums hinzu. Für ein solches wird Europa gewiss nicht anhand der Grenzen der EU bestimmt. Positives Europäertum ist sich vielmehr bewusst, dass Europas Herz in Belgrad, Oslo und Bern ebenso schlägt wie in den Hauptstädten von EU-Mitgliedsländern. Europa war und ist mehr als die EU, Europa ist, was wir alle aus unserem Großraum machen, und Europas Zukunft ist grundsätzlich kontingent: Europa kann ein gemeinsam gestalteter Schutzraum für die autochthonen Europäer werden – oder als „EU-Europa“ ihr schrittweise erfolgender Untergang durch das Primat offener Grenzen, offener Gesellschaften, offener Märkte. „Der Schlüssel zu einem echten und grundlegenden Neubau unserer Gesellschaft“, so beschreibt es daran anknüpfend der in Posen lehrende Althistoriker David Engels, „liegt nicht auf nationaler, sondern auf europäischer Ebene.“6 Das ist, aufs große Ganze und à la longue gesehen, zweifellos richtig.

Soziale Fragen, nationale Antworten? Gleichwohl ist zu konstatieren, dass – wie die anhaltende und ihre finale Wucht erst noch N °15 / D E Z EM B ER 2021

entfaltende „Corona“-Krise infolge von SARSCoV-2/COVID-19 zeigt – die Handlungsebene Nummer eins trotz aller Souveränitätseinschränkungen der Nationalstaat bleibt. In ihm, dem konkreten Staat einer konkreten Nation in Europa, werden die Widersprüche sozialer, ökonomischer und ethnischer Natur zuallererst aufeinanderprallen. Lösungen sind dabei aus dem defizitären Brüsseler Apparat nicht zu erwarten; EU-Europa (also nicht: Europa an sich) ist ein gemeinsamer Markt mit Hunderten Millionen vereinzelter Marktteilnehmer – kein Sicherheitsschirm für die Völker, der handlungsfähig und politisch geschlossen die herandräuenden Verwerfungen bewältigen könnte. Diese Verwerfungen werden neben den wohl obligatorischen ethnokulturellen Konflikten in Westeuropa vor allem sozialer Natur sein. Wird indes von einem deutschen Autor über soziale Fragen in Zeiten der EU-basierten Europäisierung geschrieben, muss zunächst daran erinnert werden, dass der Nationalstaat als Schauplatz sozialen Ausgleiches sich zuvorderst in Deutschland und Österreich beispiellose (und doch oft verdrängte) Verdienste erworben hat. Gegen diverse Widerstände erkämpfte Errungenschaften des Sozialstaates (samt weitreichender Renten-, Kranken- und Pflegeleistungen) der letzten 150 Jahre sind bis heute für die Bevölkerungsmehrheit relevant und verschaffen etwa der BRD – trotz negativer bundesrepublikanischer Modifizierungen der letzten Jahre – weltweit einen beispiellosen Ruf des staatlich geleisteten und staatlich verantworteten Fürsorge- und Solidarprinzips. Dies festzustellen bedeutet im Umkehrschluss nicht, sich der Erkenntnis zu verschließen, dass das 21. Jahrhundert zum Teil erheblich andere Erfordernisse mit sich bringt als die beiden vergangenen Jahrhunderte. Wäre Europa eine Insel, könnte man davon ausgehen, dass die Gliederung in die klassisch bestehenden und handlungsautonomen Nationalstaaten von weiterer Dauer wäre. Europa ist aber keine Insel, sondern zentral eingebunden in globale Konstellationen politischer, wirtschaftlicher Art, die auf Europas Länder einwirken (et vice versa); eine Entwicklung, die an Bedeutung konsequent zunimmt. Ein zerklüftetes und in sich mehr gespaltenes Euro-

ZUSAMMEN SEIN

Die soziale Frage ist mit der nationalen Frage untrennbar verknüpft. Die politische Linke ahnt das, kann aber nicht mehr hinter ihren globalistischen Anspruch zurück. Die Rechte findet also Brachland vor. Kaiser nutzt den Freiraum und gibt in seinem Buch die erste umfassende Antwort von rechts auf die soziale Frage. Benedikt Kaiser Solidarischer Patriotismus Verlag Antaios, Schnellroda 2020, 296 Seiten. ISBN 978-3-944422-73-2 A € 18,50 / D € 18,00

Im FREILICH-Buchladen erhältlich: freilich-magazin.at/buchladen

6

David Engels: Was tun? Leben mit dem Niedergang Europas, Bad Schmiedeberg 2020, S. 203.

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E S S AY EUROPA SEIN

Ulrike Guérot, Gründerin des European Democracy Lab in Berlin, fordert uns auf, Europa neu zu denken. Die Brüsseler Institutionen in Form von Rat, Kommission und Parlament und die Nationalstaaten torpedieren die europäische Idee. Stattdessen sollten Europas Bürger eine gemeinsame politische Vertretung wählen dürfen, die ihnen, unabhängig von ihrer Staatenzugehörigkeit, die gleichen politischen Rechte zugesteht. Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss! Dietz, Bonn 2017, 304 Seiten. ISBN 978-3-8012-0479-2 A € 15,40 / D € 14,90

Im FREILICH-Buchladen erhältlich: freilich-magazin.at/buchladen

7

Andreas Wehr: Die Europäische Union, 2. Aufl., Köln 2015, S. 129.

8

Eberhard Straub: Zur Tyrannei der Werte, Dresden 2019, S. 92.

9

Till-Lucas Wessels: europaradikal. Konzepte einer europäischen Zukunft, Schnellroda 2019, S. 14–20.

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pa des 20. Jahrhunderts wäre wirtschaftlich, technologisch, außenpolitisch und militärstrategisch aber nicht überlebensfähig, zumindest nicht als souveräner und damit entscheidungsautarker Machtblock. Denn längst realisieren raumfremde Nationen das potenzielle Machtvakuum: China erschließt mit der „Neuen Seidenstraße“ Infrastruktur und Wirtschaftsfelder bis tief nach Europa hinein, die Türkei ist einer der externen Akteure auf dem Balkan (und im Gegensatz zum Wahhabismus-Exporteur Saudi-Arabien zumindest historisch mit ihm verwoben und kann einst Partner werden), Russland mischt traditionsgemäß in Osteuropa mit, die USA binden speziell die baltischen Staaten und Polen an sich, diverse Golfstaaten bemühen sich um Einfluss auf muslimisch-sunnitische Minderheiten usf. Damit aber geraten viele europäische Länder und Völker in zusätzliche, von außen potenzierte Interessenkonflikte, was Europa schwächt und die auswärtigen Mächte jeweils in einem besonderen Feld auf Kosten der innereuropäischen Kohäsion stärken könnte. Stattdessen müssen bei aller erhaltenswerten nationalen Souveränität in einigen zentralen Fragen – Sicherheit, Migration, Militär, Außenpolitik – gesamteuropäische Lösungen gefunden werden, damit Europa auf ebendiesen Feldern mit einer einheitlichen Stimme spricht und nicht zusätzlich von außen gespalten werden kann. An inneren Widersprüchen ist Europa reich; mit ihnen wird man ringen müssen. Externe Widersprüche jedoch gilt es aus dem ureigenen Interesse des Selbsterhaltes gemeinschaftlich vom Kontinent fernzuhalten. Diese Widersprüche von außen treten leichter auf, wenn sich europäische Länder und Völker durch inneren Zwist voneinander entfernen und so zur potenziellen Beute dritter Mächte werden.

Innere Front im EU-Europa Erschwert wird die „innere Front“ zusätzlich dann, wenn die klassischen „Zuerst!“-Parolen nicht nur als populistische Wahlmobilisierung genutzt werden, sondern das alleinige

Programm einer rechten Formation ausmachen, die dem eigenen Volk ein zeitgeistiges „Mehr“ von allem verspricht. Man belässt es zu oft beim „Zuerst“, ohne über ein notwendiges „Danach“ zu grübeln. Das liegt nicht immer nur an tiefsitzenden, genuin nationalchauvinistischen Überzeugungen; das liegt oft an einem großen Missverständnis. Viele Rechte und Konservative, ob in der Bundesrepublik Deutschland oder in Österreich, fürchten bei einer europäischen Positionierung eo ipso den Vorwurf der EU-Apologie. Doch das jetzige EU-Europa mit seiner Prägung durch westeuropäisch-christdemokratische und sozialdemokratische Parteien der einzelnen Mitgliedstaaten ist, wie sich aus identitätsbewusster und damit konservativer Sicht vergegenwärtigt werden sollte, kein Europa der Regionen, Nationen und Völker. EU-Europa benennt deren Erhalt und Wohlergehen nicht als Primärziel. Das jetzige EUEuropa ist vielmehr „ein Staatenbündnis, das zur Bewahrung und Entwicklung der die kapitalistischen Wirtschaftsordnungen sichernden Prinzipien des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital eingerichtet wurde und diese quasi als seine Verfassung verankert hat“.7 EU-Europa, so kann man aus europäisch-konservativer Perspektive zuspitzen, ist also das (falsche) Europa des freien Warenverkehrs, der offenen Grenzen nach innen und zu oft auch nach außen. Es ist das Europa des Marktes (und damit explizit nicht des Sozialen und Identitären, wie es sein sollte), auf dem, wie der Essayist Eberhard Straub formulierte, alles „zur Ware und damit zum Wert und jede menschliche Beziehung zu einer Geldbeziehung“ reduziert wird. Straub fährt fort, dass in diesem Konstrukt nicht europäisches „Dasein, sondern Konsum“ als „Pflicht“ erscheine: „Der Aufstieg vom Menschen zum Endverbraucher war das Programm fröhlicher Markttheologen. Sie erhoben den Markt zum Erlöser, Retter und Befreier, zu einer Glaubensmacht, die keinen verläßt, der sich seiner Gnadenmittel beflissen als Marktgerechter versichert.“8 Diese Markthörigkeit liegt in der DNA der Europäischen Union, wie wir sie kennen. Einer Union, die deshalb abgelehnt (und langfristig umgestaltet oder neu erbaut) werFR E I L I CH


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den sollte, und nicht aus dem Grund, dass ihre Hauptdarsteller etwa von einer gemeinsamen Außenpolitik oder einer kollektiven Sicherheitsstruktur träumen. Der Publizist Till-Lucas Wessels weist in einer kleinen Streitschrift mit Recht darauf hin, dass eine pro-europäische Einstellung unter EU-Bedingungen, unter denen wir zu leben haben, nicht zu trennen ist von einer solidarisch-patriotischen Haltung: EU-Kritik ohne identitätsbewusste Kapitalismus- und Globalismuskritik bliebe zahnlos, weil oberflächlich und symptomorientiert.9 Das europapolitische Primärziel des kommenden Konservatismus – Erhalt der ethnokulturellen, volklichen und religiösen Substanz, Sicherung von Gemeinschaftsverhältnissen im Zeichen von Solidarität und Identität – kann eben nicht allein mit jenem Konstrukt bewerkstelligt werden, das die „europäische Vielfalt als ein historisches Überbleibsel überwinden und über die Vereinheitlichung rationaler, bequemer, überschaubarer machen“ möchte. Denn den Markt und „die Wirtschaft“ (gemeint vor allem: das Großkapital, nicht: der standortgebundene Mittelstand, die kleinen Händler etc.), diese „wahren Gestalter der kapitalistischen Welt“, irritieren, so vermerkt es Eberhard Straub, „Unterschiede, Ungleichheiten und Eigenarten, sie brauchen Konformität, Anpassung, Koordination, Berechenbarkeit, um keine Zeit zu verschwenden und Kosten zu sparen“.

Elitenprojekt statt Völkerfamilie Die EU ist folgerichtig als westlerisches Elitenprojekt liberalkapitalistischer (vulgo: „globalistischer“) Prägung zu kritisieren, in dem Europa als der Schauplatz ökonomischer Versuche markt- und linksliberaler Eliten seinen eigenen identitären Wesenskernen entfremdet wird – und zwar bewusst. Jeremy Rifkin, ein US-amerikanischer Denker mit Podien in vielen bedeutsamen europäischen Mainstreammedien, schwärmt unverhohlen von dieser Umformung Europas. Es werde „zu einem gigantischen, ungebremsten Experimentierfeld zur Neubestimmung der conditio humana und zum Umbau der menschlichen InstituN °15 / D E Z EM B ER 2021

tionen im globalen Zeitalter“ kommen. Die EU-Entwicklung stelle eine „Synthese“ dar, „die die postmoderne Sensibilität gegenüber multiplen Perspektiven und multikulturellem Denken mit einer neuen universellen Vision verknüpft“.11 Dass sich an diesem auf Kosten der Völker Europas entstehenden „Experimentierfeld“ des transnationalen Kapitals und seiner dies- wie jenseits des Atlantiks beheimateten Cheerleader von Jeremy Rifkin bis Jürgen Habermas – für den die bejubelte „postnationale Konstellation“ offenbar nur für die europäischen Länder gelten soll – die heterogene Riege der multikulturellen, linksliberalen und antifaschistischen Pressure groups beteiligt, verschärft die antieuropäische Note der vorgeblich Europäischen Union. Rifkin und andere, häufig US-amerikanisch sozialisierte Denker projizieren in die EU-Entwicklung die Vorreiterrolle zur One World und der Weltgesellschaft: „Die ‚Globale Gesellschaft‘ kennt einige Synonyme: ‚Eine Welt‘, ‚Menschheit‘, ‚Planetarismus‘, ‚Mondialismus/Globalisierung‘ etc. Wir sollten sie uns besser als Wiederholung der Erfahrung der Europäischen Union auf globaler Ebene vorstellen oder als einen Transfer des US-amerikanischen Gesellschaftsmodells auf den ganzen Planeten (‚Vereinigte Staaten der Welt‘).“12 Einzelne Eingriffe „Brüssels“ in den Alltag der Menschen sind auch angesichts dieses Befundes nicht das Kernproblem, das vielmehr von der Markt-EU in ihrer Gesamtheit verkörpert wird, dieser „Liberalisierungsmaschine des europäischen Kapitalismus“13, in der die europäischen Völker (wie auch innerhalb der Völker die einzelnen Landsleute) oft mehr als Konkurrenten und weniger als landsmännische Partner verstanden werden, ungeachtet dessen, dass von westeuropäischen EU-Eliten unentwegt von gemeinsamen „europäischen Werten“ und Ähnlichem fabuliert wird. Es verhält sich doch ganz anders: Die EU schürt gerade durch ihre vermeintlich „paneuropäische“ Art nationale Chauvinismen und bringt die Menschen gegeneinander auf, was freilich geleugnet, umgedeutet und pauschal rechten bzw. konservativen Kräften angelastet wird (die, wie man selbstkritisch einräumen sollte, zu oft das Ihrige beisteuern).

Einzelne Eingriffe „Brüssels“ in den Alltag der Menschen sind nicht das Kernproblem, das vielmehr in der MarktEU in ihrer Gesamtheit liegt.

10

Straub: Tyrannei, S. 165.

11

Jeremy Rifkin: Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Frankfurt a. M. 2004, S. 97 f.; hier zit. n. Andreas Wehr: Der europäische Traum und die Wirklichkeit. Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit und die anderen, Köln 2013, S. 23.

12

Alexander Dugin: Ethnos and Society, London 2018, S. 221.

13

Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, 3. Aufl., Berlin 2008, S. 193.

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Gesucht wird daher die Weltanschauung des kommenden Konservatismus: die konservative Revolution europäischer Dimension.

14

Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2018, S. 55.

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Europäischer Gedanke Der europäische Gedanke ist derweil nur noch in verkümmerter Variante lebendig, und nicht vorhandenes gemeinsames, über die einzelnen Nationen hinausweisendes Krisenmanagement in Zeiten des Coronavirus lässt Millionen Europäer an der Notwendigkeit einer Europäischen Union zweifeln. Und tatsächlich ist diese Form der Europäischen Union unnötig, die noch nicht einmal ein kollektives Agieren beim Auftreten eines Virus findet, obwohl eine Gesamtstrategie den Verlauf der COVID-19-Pandemie beeinflusst hätte. Doch auch wenn es keine EU-europäische Strategie gab, so ist für die Zukunft nicht per se europäisches Zusammenspiel als erledigt zu betrachten. In der föderalen BRD gab es schließlich auch zu fast keinem Zeitpunkt ein integrales „Corona“-Krisenmanagement, das bundesweit das gleiche Gesicht zeigte; hier bestimmten die Bundesländer in einer bisweilen absurd anmutenden Beibehaltung föderaler Prinzipien die jeweilige Agenda. Aber deshalb wird niemand die Notwendigkeit eines einigen, souveränen und unteilbaren Deutschland in Zweifel ziehen. In „Friedenszeiten“ jenseits von Krisen werden die europäischen Nationen im Rahmen eines ökonomistischen Verwertungsdenkens gegeneinander ausgespielt, indem virulente Ressentiments, die oft mit wirtschaftlichen Argumenten verknüpft auftauchen, strategisch genutzt werden. Diese Ressentiments sind subkutan ohnehin gegenwärtig und verstärken eine Rückkehr der Chauvinismen, weil neoliberal-sozialdarwinistische Argumente mit patriotischen Leidenschaften, die ja stets zum Positiven wie Negativen mobilisiert werden können, gepaart werden. Dieser menschliche, aber auf übergeordneter, politischer Ebene einzuhegende Neidkomplex müsste zugunsten einer gesamteuropäisch-solidarischen Idee weichen, die aber nur dereinst „organisch“ entstehen könnte, wenn gemeinsame Ziele und gemeinsame Projekte entworfen (oder: von äußeren Gegnern erzwungen) werden, von denen alle europäischen Völker profitieren und zehren können – nicht allein die herrschenden Schichten in den Einzelnationen, nicht allein die exportorientierten Bereiche der

Wirtschaft, nicht allein der Bürokratenapparat. Denn soziale Solidarität als Baustein des kommenden Konservatismus des 21. Jahrhunderts wird einmal ein Grundstein für ein neues Europa in Post-EU-Zeiten werden, das Einigendes über Trennendes, Zusammenhalt über altnationale Enge stellen wird und das die unterschiedlichen Spezifika der jeweiligen Länder und Regionen anerkennt und entsprechend gewichtet. Just dies geschieht ausgerechnet im Wirtschafts- und Währungsraum EU eben nicht. Wollte dieser „langfristig prosperieren, bräuchte es konträre Politiken: hier fiskalische Zurückhaltung, dort staatliche Konjunkturprogramme, hier Aufwertung, dort Abwertung, hier Lohnzurückhaltung, dort Stärkung der Binnennachfrage, also Lohnsteigerungen“14. Unter EU-Bedingungen wird das nicht realisierbar sein, schon allein deshalb, weil die materiellen Oberschichten in den einzelnen Ländern erheblich von den derzeitigen diversen Gefällen und den „Rettungsprogrammen“ profitieren. Polemisch gesagt: Die ausgepresste mitteleuropäische Mittelschicht kommt für die Reichen Griechenlands, Italiens oder Spaniens auf, während es den dortigen Unter- und Mittelschichten auch durch weitere EU-europäische Zwangsumverteilungen nicht besser gehen wird.

Was ist der Hauptwiderspruch? Die anzustrebende europaweite patriotische Solidarität, die dem kommenden, verbindenden Konservatismus eigen sein wird, erfordert daher die Erkenntnis, dass der Hauptwiderspruch innerhalb der EU nicht zwischen den europäischen Völkern verläuft, sondern, überspitzt formuliert, zwischen den sozialen und identitären Lebensbedürfnissen der Völker einerseits und dem Bedürfnis des oftmals transnationalen Kapitals und seiner unterschiedlichen Sachverwalter und Mittelsmänner andererseits. Zu den Sachverwaltern und Mittelsmännern dieses „Kapital“ genannten Blocks zählt einmal mehr die Brüsseler „Bürokratie“; dazu zählen tonangebende Journalisten des westlerischen Mainstreams; dazu zählt wesentlich FR E I L I CH


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die führende politische Klasse Westeuropas, welche die Völker nicht schützt, keine großen Erzählungen für sie entwickelt und keinerlei Idee für den Raum Europa im 21. Jahrhundert besitzt. Es ist nur folgerichtig, dass Günter Maschke der EU jedwede Großraumrolle abspricht. EU-Europa, so der intellektuelle Solitär, sei „ein System geworden, das Gehorsam fordert, ohne Schutz zu bieten“.15 Der in der EU nun ausgefochtene „Klassenkampf von oben“ wird innerhalb dieses von Maschke angesprochenen Systems von den herrschenden Eliten westlicher Länder gegen die Bevölkerungsmehrheiten geführt. Althergebrachte Nationalismen und Chauvinismen, diese Pfeiler des europäischen Hindernisparcours16 , die man rechts oft als Selbstbehauptungswillen gegen „Brüssel“ missinterpretiert, gefährden aber gerade nicht die Eliten. Entsprechende Denkblockaden sind für jene sogar in Teilen nützlich, weil die Menschen so gegeneinander aufgebracht sind und Ablenkgefechte austragen, nicht aber grundlegende Strukturen hinterfragen, welche die politisch und wirtschaftlich verantwortliche Klasse stützen.

3000 Jahre Europa Was man nach Klärung solcher Gegnerbestimmungen, von denen beispielsweise die mitteleuropäischen Rechtsparteien AfD, FPÖ und Co. gelegentlich (zu) weit entfernt scheinen, benötigt, ist eine positive Vision eines einigen Europa, und das heißt: die Vision eines dreitausendjährigen Kulturkreises, der von einem unvorstellbaren Reichtum an kulturellen, nationalen, sozialen und religiösen Werten, an Regionen, Kulturen und Völkern geprägt ist, die sich wechselseitig befruchtet und beeinflusst haben und die gemeinsam bessere Chancen haben, auch das 21. Jahrhundert zu überstehen, als jeder auf sich allein gestellt. Gesucht wird daher die Weltanschauung des kommenden Konservatismus: die konservative Revolution europäischer Dimension. Dass dies keine leichte Aufgabe werden wird, lässt sich allein daran sehen, wie sich innerhalb des Europäischen Parlamentes geN °15 / D E Z EM B ER 2021

mäßigte bis radikale Rechte Europas mit regelmäßiger Zuverlässigkeit aus historischen oder politischen Gründen zerstreiten und Fraktionen darob aufkündigen. Diese innerrechten Gründe sowie die skizzierten Grundfehler der EU sind in sämtliche Erwägungen zu Nationalstaat, sozialer Frage und Europa einzubeziehen, aber sie machen nicht automatisch jede gesamteuropäische Lösung obsolet. Die EU muss „rückgebaut“ werden, weil sie falsche Gründungsprämissen und verheerende Auswirkungen hat und in Krisenmomenten ihre daraus resultierende Handlungsunfähigkeit unter Beweis stellt. Aber das heißt nicht, dass die temporär gebotene Rückkehr zum souveränen Nationalstaat auch in Westeuropa, die in Krisensituationen anzuvisieren und durchzusetzen ist, das Ende jeder Entwicklung bedeuten kann. Denn langfristig bieten die klassischen, auf sich bezogenen Nationalstaaten, diese Geschöpfe des 19. Jahrhunderts, weder dauerhaften Schutz vor den Failed states an den Grenzen Europas noch Sicherheit vor den Verwerfungen des globalistischen Prinzipien unterworfenen Weltmarktes oder eines Weltvirus. Weiterhin kann ein einzelner Nationalstaat in Europa – sei er flächenmäßig klein oder groß – weder die Digitalisierung beherrschen noch weitreichende infrastrukturelle, politische oder gar wirtschaftliche Gegenmodelle zu China und den USA aufbauen. Anders postuliert: Der Nationalstaat allein schützt die Völker Europas nicht mehr, weil zunehmend neue Problemstellungen aufgeworfen werden, die seine Handlungsoptionen überschreiten und ebenjene „Sachzwänge“ und „Alternativlosigkeiten“ hervorrufen, die der liberalkapitalistischen Globalisierung systemisch bedingt innewohnen. Diese von ökonomisch relevanten Kräften innerhalb der EU und der USA geprägte Art der Globalisierung ruft ja eben Zustände hervor, die den etablierten Politikerkartellen und den großen Playern der weltweit agierenden Kapitalfraktionen (die von der EU-bedingten Welle von „Liberalisierungen und Privatisierungen“17 profitierten) zupasse kommen. Keineswegs aber hilft es kleinen und mittleren, auf Binnenmarkt und regionale, nachbarschaftliche Wirtschaftskreisläufe fokussierten Unternehmen und ihren Angestellten, keineswegs den Bevölkerungsmehrheiten

WERTVOLL SEIN

Vom Oval Office bis in die Berliner Glaskuppel werden jene Werte bemüht, um militärische Demokratie-Exporte und politischmediale Tribunale zu rechtfertigen. Das Wörtchen „Wert“ hat dabei nicht nur Konjunktur, es ist die inflationär genutzte Waffe der Etablierten zur Erhaltung der eigenen Macht. Mit dem Wert beginnt die Herrschaft der Moral. Während der Wert auf dem globalen Markt seinen angestammten Platz gefunden hat, leistet er außerhalb dieses Marktes gerade nicht, was er verspricht. Eberhard Straub: Zur Tyrannei der Werte Jungeuropa Verlag, Dresden 2019. ISBN 978-3-948145-00-2 A € 16,50 / D € 16,00

Im FREILICH-Buchladen erhältlich: freilich-magazin.at/buchladen

15

Günter Maschke (Gespräch): „Erkenne die Lage!“; in: Sezession 42 (Juni 2011), S. 18–22, hier S. 21.

16

Vgl. Benedikt Kaiser: „Der europäische Hindernisparcours“; in: Sezession 86 (Oktober 2018), S. 17–21.

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Der kommende Konservatismus bekennt sich zu Europa, während er EU-Europas politischideologische Prämissen kritisiert.

und keineswegs den Akteuren der Nationalstaaten an sich: „Die von der weltweiten Zirkulation von Kapital und Information verkörperte Macht ist ein exterritoriales Phänomen, während sich die Macht der bestehenden politischen Institutionen nach wie vor auf lokale Bereiche beschränkt. Dies kann nur zur allmählichen Entmachtung des Nationalstaats führen. Den Regierungen, die nicht mehr über genug Ressourcen verfügen, um den Staatshaushalt auszugleichen und eine unabhängige Sozialpolitik zu betreiben, bleibt kaum etwas anderes übrig, als eine Strategie der Deregulierung zu verfolgen – das heißt, die Herrschaft über die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung an die ‚Kräfte des Marktes‘ abzutreten, also an von ihrem Wesen her exterritoriale Mächte.“18

Solidarisch, patriotisch, europäisch

17

Dirk Jörke: Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation, Berlin 2019, S. 191.

18

Zygmunt Bauman: Gemeinschaften, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2017, S. 119.

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Einer solidarisch-patriotischen Politik auf europäischer Basis geht es aber naturgemäß nicht primär um das neoliberal interpretierte Wohlergehen der „Kräfte des Marktes“ oder „exterritorialer Mächte“, sondern, so einfach wie weitreichend zugleich, um den Erhalt der autochthonen europäischen Völker und Nationen. Für diese gilt es, eine originär europäische Form der Einheit in Vielfalt zu finden, in welcher die unterschiedlichen Stärken jeder einzelnen Region und Nation gebündelt und die Schwächen abgefedert werden. Wenn man sich aus chauvinistischer Selbstüberhöhung heraus für stark genug hielte, gegen diese globalen Marktkräfte und Prozesse allein zu bestehen, erläge man einer „Wahnvorstellung“, wie der Vordenker der europäischen Einheit in Vielfalt Pierre Drieu la Rochelle bereits in den 1930er-Jahren voraussah. Und zwar realisierte Drieu das in einer Epoche, in der die rasanten Entwicklungen rund um Digitalisierung, Industrie 4.0, Finanzmärkte und Globalkapitalismus noch gar nicht denkbar waren, geschweige denn so wirkungsvoll und folgenreich wie heute erscheinen konnten. Die zeitgemäße (nicht: zeitgeistige) konservative Antwort auf das Scheitern der EU kann daher nicht die alleinige und dauerhafte Rückkehr zum Nationalstaatsdenken sein. Jedenfalls

nicht in Westeuropa, wo – nach entsprechender Korrektur der fehlerhaften Generallinie – neue Wege beschritten werden müssten, deren exakte Routen entlang des Leitmotivs „Unser Europa ist nicht ihre EU“ zu entwickeln sind.

Was macht „unser“ Europa aus? Der kommende Konservatismus bekennt sich also zu Europa, während er EU-Europas politisch-ideologische Prämissen kritisiert. Denn unser Europa ist ein Europa, das mehr ist als nur Vertragswerk, mehr als offene Grenzen, offene Märkte, offene Gesellschaften; ein Europa, das aus Verantwortung für die Zukunft auch die Vergangenheit nicht vergisst; ein Europa, das Regionen, Nationen und Völker nicht gegeneinander ausspielt, sondern an ein gemeinsames ethnokulturelles und abendländisches Bewusstsein appelliert, weil wir unaufhebbar im selben Boot sitzen; ein Europa, das seine mannigfaltigen Kulturen und Völker schützt, nicht auflöst; ein Europa, das somit nach innen keine verordnete Diversity braucht, wo es echte Vielfalt zu bieten hat; ein Europa, das seine Grenzen verteidigt und seinen Menschen größtmögliche soziale wie innere Sicherheit bietet; ein Europa, das nach außen mit einer Stimme spricht, weil das Vernunft und Gefühl gleichermaßen erfordern; ein solidarisches, selbstbewusstes und souveränes Europa, also: ein Europa, für das es sich zu kämpfen lohnt, das für die Menschen und Völker, nicht nur für die Märktkräfte praktischen Nutzen hat. Dieses Europa sähe ganz anders aus als EU-Europa. Gewiss: Noch scheint es unwahrscheinlich, dass der jetzige Zustand des falschen Europa aufgehoben wird. Doch die EU kennt keine Ewigkeitsklausel, und so kann Ulrike Guérot, die den Prototyp eines linksliberalen, „falschen“ Europäertums ohne Europäer vertritt, ohne schlechtes Gewissen zitiert werden: „Die Desintegrationstheorie lehrt uns, dass Systeme immer dann akut vom Einsturz bedroht sind, wenn alle, allen voran die Eliten, behaupten, dass etwas nie zusammenbrechen könne und es auch niemand will (man denke an die DDR und die Sowjetunion). Wenn das die Hypothese ist, dann steht die vermeintlich alternativlose EU, deren politische Einheit die FR E I L I CH


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Sophisten gerade allerorts beschwören, kurz vor dem Ende.“19 Verinnerlicht man instrumentalisierend einen solchen Optimismus, wäre der Bestand der EU in zehn oder 20 Jahren sogar in Zweifel zu ziehen: entweder aufgrund einer schrittweisen Reduktion durch Austritte, Beispiel „Brexit“; durch eine fundamentale Reform respektive den grundlegenden Umbau bestehender Institutionen entlang anderer weltanschaulicher Prämissen; oder gar durch eine bewusste Abschaff ung der EU seitens ihrer Kernmitglieder und einen anschließenden sukzessiven Neuaufbau einer europäischen Allianz anhand unverkennbar anderer Motive und Ansprüche.

Vereintes Europa ja, EU nein Die weitsichtigeren Analysten haben die prinzipielle Notwendigkeit einer künftigen sozialen und politischen Vereinigung des Halbkontinentes anerkannt. Ob europäische Binnenmigration, Landflucht oder Verlust der akademischen Jugend kleinerer Länder an die potenteren „Industrienationen“ – wer derartige Entwicklungen zum Wohle aller aufhalten will, aber an einem gemeinsamen Weg festhält, weil nationale Alleingänge anachronistisch geworden sind und die Selbstbehauptung kleiner Nationen Ostmitteleuropas dauerhaft schwerfallen könnte, weil die Großen des Westens sie immer wieder politisch erpressen können werden, wird langfristig an gesamteuropäischen Modellen nicht vorbeikommen. Es hat sich 2015 ff. zwar gezeigt, dass bei rasch zu treffenden Entscheidungen wie beim Migrationsansturm „die nationale Handlungsebene […] sehr viel wichtiger als die europäische gewesen ist“20, wie der europapolitisch versierte Jurist Andreas Wehr bekräftigte. Das ist indes ein Argument gegen die EU, nicht gegen ein unter anderen Prämissen vereinigtes Europa. Letzteres könnte eine gemeinsame und effektivere Strategie zur Migration entwickeln, die sich am Interesse des Selbsterhaltes der einzelnen Völker orientieren müsste und miteinbezöge, dass – bei aller organischen Heterogenität des Kontinentes – eine gewisse sozioökonomische Angleichung der Lebensverhältnisse und Lebensbedingungen als Kern der sozialen Frage schrittweise zu erfolgen hätte. Der konservatiN °15 / D E Z EM B ER 2021

ve Universalgelehrte Rolf Peter Sieferle wagte 1994 gar die Prognose, dass der „Sozialstaat nur als Vereintes Europa und ein Vereintes Europa nur als Sozialstaat eine Zukunft“ haben dürfte: „Ein künftiger Sozialstaat Europa könnte zu einer starken Vision werden, in der sich die kontinentalen Traditionen eines ‚Primats der Politik‘ mit elementaren Interessen der Mehrheit der Bevölkerung verbinden. […] Einem Sozialstaat Europa könnte sicherlich eine bessere Prognose gestellt werden als den überkommenen Nationalstaaten.“21 Diese solidarisch-patriotisch-europäische Idee ist bei einem Epochendenker wie Sieferle gesetzmäßig auf lange Sicht gedacht. Sie sollte zumindest als Folie für künftige theoretische Europadiskussionen im Hinterkopf präsent sein. Im Hier und Jetzt gilt indessen noch ganz praktisch, dass das gegebene Terrain des Nationalstaates weiterhin Schauplatz sozialer Auseinandersetzungen zwischen Konzernen und Arbeitnehmern, Kapital und Arbeit, „Großen“ und „Kleinen plus Mittleren“ ist. Bevor in eventuellen Post-EU-Zeiten etwas anderes kommen kann, muss zunächst dieser geflickte Staatsstatus bewahrt werden und, im besten Fall, aus dem Teufelskreis aus offenen Grenzen und freien Märkten zu neuerlicher eigener Souveränität seiner Organisation und seines Volkes finden. Dass schon diese Forderung nach nationaler, gemeinschaftsbezogener Renaissance und anschließendem gesamteuropäischen Aufbruch einen Streitpunkt in den bestehenden konservativen und rechten Lagern abgeben dürfte, ist anzunehmen und liegt einmal mehr am Vormarsch liberalistischer Denkwelten. Dies liegt an der „Auflösung aller Dinge“ (Hans-Dietrich Sander), die auch vor dem heterogenen Konglomerat namens „Konservatismus“ in Westeuropa nicht haltmachte. Dennoch ist von ihr nicht abzurücken. Sie ist der erste Schritt auf dem Weg zur europäischen Renaissance, die zu ihrem nachhaltigen Gedeihen „eine europäische Idee [benötigt], die sich sehr von jener unterscheidet, welche heute die europäischen Institutionen beseelt“.22 Damit hat der eingangs zitierte Engels eine der drängenden Aufgaben des kommenden Konservatismus skizziert. Er wird solidarisch-patriotisch und europäisch sein – oder vereinzelt und gespalten früher (wie Westeuropa) oder später (wie Ostmitteleuropa) unter die Dampfwalze der Globalisten geraten.

Benedikt Kaiser geb. 1987, Politikwissenschaftler mit europaspezifischer Orientierung (M.A.). Lektor für den Verlag Antaios, Redakteur der zweimonatlich erscheinenden Zeitschrift „Sezession“.

19

Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie, Bonn 2016, S. 259.

20

Andreas Wehr: Europa, was nun? Trump, Brexit, Migration und Eurokrise, Köln 2018, S. 137.

21

Rolf Peter Sieferle: Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert [1994], Lüdinghausen u. Berlin 2017, S. 278.

22

Engels: Was tun?, S. 205.

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WIRTSCHAFT

Frisch gekeult Erkenntnis der letzten Jahre: Die Faschismuskeule wirkt beinahe immer, und man kann nicht ständig bei den Guten sein. VON ELMAR PODGORSCHEK

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ehr früh haben die politischen Gegner von ganz links bis zur sogenannten Mitte und sogar gemäßigt Rechte der Christlich-Sozialen die größte Schwachstelle des Dritten Lagers erkannt, nämlich den Drang vieler Exponenten dieses Lagers nach Anerkennung und, daraus resultierend, den Willen, bei der Gestaltung unseres Staates dabei sein zu dürfen. Dies führt immer wieder zu Abgrenzungen vom sogenannten rechten Rand oder, wie vielfach auch formuliert, vom „rechten Narrensaum“. Wer dieser Rand oder Narrensaum auch immer sei, wird jedoch vom politischen Gegner bestimmt und dem Dritten Lager bzw. dessen politischem Arm, der FPÖ, aufgezwungen. Eine eigene, klar definierte rote Linie seitens der freiheitlichen Politiker gibt es eher selten und ist meistens einer Verteidigungsstrategie nach Angriffen durch die gesteuerten oder bezahlten Medien geschuldet. Sowohl die Wortwahl als auch die Definition der Abgrenzung bestimmen die Gegner und führen deshalb zwangsweise zu einer Verteidigungs- und Rechtfertigungsposition. Im Laufe der Geschichte des freiheitlichen Lagers zeugen unzählige Beispiele von diesem Unvermögen, solchen Angriffen konsequent entgegenzutreten, und dokumentieren den systemimmanenten Reflex

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der freiheitlichen Politiker, sich wegen sogenannter Einzelfälle, wie sie während der letzten Regierungsbeteiligung bezeichnet und systematisch aufgebauscht wurden, sofort von den fraglichen Personen abzugrenzen. Ohne sich über die Hintergründe oder Zusammenhänge zu informieren, übernimmt man leichtfertig die Argumentation der Mainstreammedien. Dies erfolgt in erster Linie aus der Angst heraus, selbst in die Schusslinie der Journaille zu geraten; man hofft, mit der Abgrenzung diesen Angriffen zu entkommen. Selten jedoch gelingt diese Strategie. Verärgert und frustriert bleiben oftmals verdiente Funktionäre und Mitstreiter zurück. Der Schaden ist kaum wiedergutzumachen.

Das Spiel mit den Distanzierungen Dieses Spiel, wie man es durchaus bezeichnen könnte, gibt es jedoch nicht erst seit der jüngsten Vergangenheit. Es wird schon von Beginn an, seit der Gründung der FPÖ, betrieben – und man muss zugeben, dass es fast immer zum Erfolg des Mitbewerbers geführt hat. Zur Erpressung einer ganzen Gesinnungsgemeinschaft gehören jedoch, wie immer, zwei: diejenigen, die sich erpressen lassen, und diejenigen, die diese Schwäche schamlos ausnützen. Dem zweiten Teil kann man kaum einen Vorwurf machen,

da das Verächtlichmachen des Gegners leider zum politischen Tagesgeschäft gehört. Mitunter ein Grund, warum es immer wieder so weit kommen muss, ist die mangelnde Geschichtskenntnis vieler Vertreter des freiheitlichen Lagers und infolgedessen das in erster Linie von der ’68er-Generation aufgezwungene Geschichtsbild. Diese Unkenntnis trifft nicht nur auf die Ereignisse in der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu, sondern auch auf die Zwischen- und die Nachkriegszeit, als sich Rot und Schwarz die Einflusssphären in der Republik untereinander aufgeteilt haben. Fühlten sich in den Anfangszeiten der Zweiten Republik viele Exponenten der Freiheitlichen noch bemüßigt, die Kriegsgeneration verteidigen zu müssen, weil sie entweder selbst Kriegsteilnehmer waren oder zumindest noch von solchen authentisch deren Erlebnisse geschildert bekommen hatten, hat sich in den Köpfen der gegenwärtigen Generation oftmals das ’68er-Geschichtsbild festgesetzt. Eine differenzierte Betrachtung der Geschichte ist kaum mehr möglich, und ein Sich-Versetzen in die Zustände und Beweggründe der damaligen Zeit ist aufgrund einer irrationalen Selbstzensur undenkbar. Die Geschehnisse der Vergangenheit werden stets aus Sicht der Gegenwart betrachtet und vom Mitbewerber als politische Waffe missbraucht. Während ein Großteil der Vertreter des RE


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WIRTSCHAFT

Ohne sich über die Hintergründe zu informieren, übernimmt man die Argumentation der Mainstreammedien. Man will selbst nicht in die Schusslinie geraten.

Dritten Lagers die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen hat, wird von Berufsantifaschisten über die Freiheitlichen der ganze historische Müll ausgeschüttet. Alle Verbrechen und Fehlentwicklungen des 20. Jahrhunderts werden dem Dritten Lager angelastet, um es letztendlich von Regierungsverantwortung fernzuhalten und vom eigenen Versagen in der Gegenwart abzulenken. Kein ernst zu nehmender Politiker oder Anhänger der Freiheitlichen wünscht sich nur ansatzweise ein totalitäres Regime zurück. Diese Tendenzen kann man derzeit eher bei denjenigen finden, die als Erste ihre Finger auf die Freiheitlichen richten. Nichts ist daher leichter, als sich von der Geschichte des Dritten Lagers abzugrenzen. Man kann Fehlentwicklungen nicht ungeschehen machen. Sie sind Teil der Geschichte dieses Lagers und sind intern schon längst aufgearbeitet.

Freiheitlich vorauseilender Gehorsam Vorauseilender Gehorsam dem Zeitgeist gegenüber dokumentiert nur ein schlechtes Gewissen, das jedoch die heutige Generation nicht mehr zu haben braucht. Manchmal führt das dazu, sich für Dinge oder Geschehnisse zu entschuldigen, für die es keiner Rechtfertigung bedarf. Ein unguN °15 / D E Z EM B ER 2021

tes Gefühl ist oftmals die Folge dieses permanenten Drucks, dem der Repräsentant des Dritten Lagers ausgesetzt ist. Auch das Einsetzen einer Historikerkommission zur Reinwaschung wird nichts helfen, solange der politische Gegner diese Schwäche ausnützen kann und sie als politische Waffe einzusetzen gedenkt. Außerdem wird diese im Wesentlichen nichts Neues zutage bringen. Keine Geschichte ist und wird dermaßen genau durchleuchtet wie die der Freiheitlichen. Als zum Beispiel der freiheitliche Verteidigungsminister der rot-blauen Koalition, Friedhelm Frischenschlager, 1985 den letzten österreichischen Kriegsgefangenen Walter Reder mit Handschlag begrüßte, ging ein Sturm der Entrüstung durchs ganze Land. Er trat dann infolge einer gegen ihn gerichteten Kampagne zurück und gestand damit indirekt eine Schuld ein, die es nicht gibt. Wäre er hingegen ein starker Minister gewesen, hätte er darauf hinweisen können, dass alle oberösterreichischen Landeshauptleute von Heinrich Gleißner bis Josef Ratzenböck – Reder war Oberösterreicher – ihn sogar im Gefängnis auf Gaeta besucht und sich für seine Freilassung eingesetzt hatten. Der damaligen Führungsspitze fehlten jedoch die Kraft und wahrscheinlich auch der Wille dazu, sich gegen die Kampagne aufzulehnen, und sie ging lieber den be-

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quemeren Weg, den angegriffenen Minister auszutauschen. Die Folge war, dass einerseits alle Kräfte, die das Dritte Lager ausgrenzen wollten, sich seither gestärkt fühlten und andererseits der Widerstand gegen den Kurs des damaligen Parteiobmannes Norbert Steger anwuchs. Jörg Haider konnte diese Entwicklung genial für sich ausnutzen, um die Nachfolge anzutreten. Fast alle Gegner haben diese Schwäche der Freiheitlichen erkannt und verfolgen seither mit unterschiedlichen Methoden bis in die Gegenwart diese Strategie. Die Erkenntnis, die damals gewonnen wurde, war, dass irgendetwas immer hängen bleibt und die Faschismus- bzw. Nazikeule immer wirkt. Betrachtet man auch die „Einzelfälle“ der letzten türkis-blauen Regierung, wird man feststellen können, dass kein einziger Fall zu einem Rücktritt hätte führen müssen. Gerade bei der Liederbuchaff äre hat sich deutlich manifestiert, wie schwach die Verteidigungsstrategie in Wahrheit ist, bzw. dass es eigentlich gar keine gegeben hat. Dieses studentische Schmählied aus der Ecke der Christlich-Sozialen ist nicht das intelligenteste Lied, das gedichtet wurde. Es rechtfertigt aber keinesfalls eine künstlich herbeigeführte Regierungskrise. Ebenso war das Rattengedicht eines Vizebürgermeisters aus der Bezirksstadt Braunau im Grunde genommen völlig harmlos, weil er sich selbst als Ratte bezeichnet hatte und das Wortspiel Stadtrat(te) verwendete. Es lässt sich durchaus darüber diskutieren, ob man sich selbst als Ratte bezeichnen soll, und über die Qualität des Gedichtes lässt es sich auch streiten. Der Inhalt dieses Pamphletes war jedoch alles andere als staatsgefährdend und entsprach der freiheitlichen Parteilinie. Wahrscheinlich hat kaum ein verantwortlicher Politiker dieses Gedicht jemals gelesen und inhaltlich erfasst, sondern es wurde bedauerlicherweise nur die mediale Kampagne übernommen. Ansonsten wäre die Regierungskoalition seitens der Türkisen nicht infrage gestellt worden. Außerdem hatte besagter Politiker zuvor bereits 15-mal unter diesem Pseudonym geschrieben, und niemanden hatte es aufgeregt.

Die Faschismuskeule in die Leere schlagen lassen Im Nachhinein betrachtet wäre HC Strache damals gut beraten gewesen, nach der N °15 / D E Z EM B ER 2021

Androhung durch Kanzler Kurz die Regierung platzen zu lassen. Möglicherweise wären ihm der „Ibiza“-Skandal und dessen Folgen, u. a. der Spesenskandal, dadurch erspart geblieben. Die Beendigung der Koalition war von türkiser Seite vermutlich schon viel früher beschlossen worden. Diese erfolgreiche Zusammenarbeit war vielen Exponenten der EU und Großkoalitionären in Österreich ein Dorn im Auge und musste daher so rasch wie möglich beendet werden. Noch dazu verlor die FPÖ erstmals in der Regierung keinerlei Zustimmung in der Bevölkerung. Für Sebastian Kurz bedeutete es, dass er bei Fortsetzung der Koalition seinen Weg nach Europa verbaut hätte. Die EU wollte zusätzlich auch nicht die europaweite Vorbildwirkung einer erfolgreichen Mitterechts-Regierung riskieren. Letztendlich musste man bereits mit Viktor Orbán in Ungarn und der PIS-Regierung in Polen leben. Auch Matteo Salvini war in Italien geradezu am Sprung zur Machtübernahme. Sollte die FPÖ und damit das freiheitliche Lager in den nächsten Jahren wieder Verhandlungen führen und als Konsequenz in Regierungsverantwortung kommen, dann kann man nur hoffen, dass die zuständigen Politiker aus der jüngsten Geschichte gelernt haben und sich der Strategie der Gegner bewusst sind. Jedes Zurückweichen wird mit Häme betrachtet und schamlos ausgenutzt werden. Bereits die Auswahl der Minister durch den möglichen Partner und die Überprüfung durch den Bundespräsidenten sind strikt abzulehnen, da damit der Grundstein zur Beendigung einer Regierung gelegt wird. Die Personalhoheit hat ausschließlich bei den Freiheitlichen zu liegen. Dieser Grundsatz sollte gleich zu Beginn von Verhandlungen auf den Verhandlungstisch gelegt werden, nach dem Motto: Wir sind so, wie wir sind, und man hat es zu akzeptieren. Auf Dauer wird man ein politisches Lager, das bis zu ein Viertel der Bevölkerung vertritt, nicht von der politischen Arbeit und Verantwortung ausgrenzen können. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich wieder eine Konstellation für Verhandlungen ergeben wird. Es bleibt nur zu hoffen, dass alle verantwortlichen Politiker aus den drei Fehlversuchen die richtigen Schlüsse ziehen, klare und offene Verhandlungen führen und sich nicht über den Tisch ziehen lassen werden.

Elmar Podgorschek Nicht nur die Theorie, sondern auch die wirtschaftliche Praxis ist ihm vertraut, seit er dem familieneigenen Fachhandel lange Jahre als geschäftsführender Gesellschafter vorstand. Schon als junger Mann war Podgorschek politisch aktiv und absolvierte Stationen der politischen Laufbahn für die Freiheitlichen, über den Gemeinderat der Stadt Ried am Inn bis zum Bundes- und dem Nationalrat. Bis zu seinem Rücktritt im Mai 2019 war der dreifache Familienvater und stolze Großvater als Landesrat für Sicherheit Mitglied der oberösterreichischen Landesregierung.

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Dänen lügen nicht Ob Einwanderung, Arbeitsmarkt oder „Corona“: Dänemark wird von der Politik immer öfter als Modellstaat in Europa betrachtet. Was können wir von den Skandinaviern abschauen? VON JULIAN SCHERNTHANER

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R E P O R TAG E

Kleines Land, modern und traditionsbewusst: Soldaten zur Zeremonie „Dronningens Ur“ (Die Uhr der Königin) an der Wache Jeppe Norhave Illum in der Lebensgarde in Kopenhagen am 17. März 2021.

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or zwei Jahren schockierte die sozialdemokratische Politikerin Mette Frederiksen halb Europa mit ihrem Wahlsieg. Er gründete darauf, solidarische Sozialpolitik mit strenger Einwanderungspolitik zu verbinden. Damit gelang ihr an der Urne eine Kehrtwende innerhalb ihrer damals in ganz Europa strauchelnden Parteienfamilie. Seitdem sorgte die nunmehrige Regierungschefi n immer wieder mit neuen Maßnahmen gegen illegale Migration für Aufsehen. Anfang September beschloss sie, eine große Anzahl von Migranten zur Vollzeitarbeit zu verpfl ichten. Wenn sie keine fi xe Stelle fi nden, müssen sie gemeinnützige Arbeit verrichten, um sich ihre Sozialleistungen zu verdienen. Die Maßnahme betrifft alle, die schon seit einigen Jahren Leistungen aus dem Sozialsystem beziehen und keine ausreichende Ausbildung haben, respektive ein niedriges Niveau an Dänischkenntnissen vorweisen. Der Plan will 20.000 Personen integrieren, die Frederiksen-Regierung zielt vor allem auf Frauen aus islamischen Kulturkreisen ab. Sechs von zehn Migrantinnen aus der Türkei, Nordafrika oder dem Nahen Osten nehmen nicht am Arbeitsmarkt teil.

Jahrelange härtere Gangart Es ist nicht die erste Maßnahme, die das Land weniger attraktiv für Wirtschaftsmigranten machen soll. Und die konsequentere Linie ist keine Erfi ndung von Frederiksen. Schon die zuvor amtierende Mitte-rechtsRegierung erließ mehrere Maßnahmen. So wurde die Wartefrist für die Familienzusammenführung von

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R E P O R TAG E

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Stolz auf das, was sie sind: Ein Arbeiter hisst die dänische Flagge.

Migranten sollen zur Vollzeitarbeit verpflichtet sein. Wenn sie keine fixe Stelle finden, müssen sie gemeinnützige Arbeit verrichten, um sich ihre Sozialleistungen zu verdienen.

einem auf drei Jahre verlängert. Die Gültigkeit temporärer Aufenthaltstitel wurde verkürzt, der Umfang der Sozialleistungen für Migranten drastisch reduziert. Wer mehr als 10.000 Kronen (etwa 2000 Euro) an Sachgütern besitzt, muss diese zuerst veräußern, ehe er Sozialhilfe beantragen kann. Teilweise hatten diese Maßnahmen einen messbaren Effekt. Der Anteil an Asylwerbern unter den Personen, die ins Land einwanderten, reduzierte sich zwischen 1997 und 2017 von nahezu der Hälfte auf etwa ein Achtel. Im Jahr 2019 verließen nach den weiteren Verschärfungen mehr Personen mit Flüchtlingsstatus das dänische Hoheitsgebiet, als einen Asylantrag stellten. Auch im Vorjahr war die Zahl der Anträge mit 1500 Gesuchen gering – die niedrigste Quote seit 1998. Besonders der Vergleich mit dem benachbarten Schweden, das über einen ähnlich ausgeprägten Sozialstaat verfügt, ist interessant. Dieses ist für Zuwanderer weit attraktiver, von 2012 bis 2019 kamen mehr als 100.000 Immigranten. Beim großen Zustrom im Jahr 2015 nahm es die europaweit höchste Pro-Kopf-Quote auf – nach Ansicht von 41 % der Schweden zu viele. Das Land hatte schon in den Vorjahren im Gegensatz zu Dänemark mit massiven Ausschreitungen vor allem im Milieu islamisch geprägter Migrantenghettos zu kämpfen.

Vorbildwirkung für Konservative Infolge solcher Teilerfolge wird das „dänische Modell“ auch für Politiker anderer Länder attraktiv. Der breiten heimischen Öffentlichkeit wurde es im Juni beRE


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R E P O R TAG E

kannt. Damals stimmte das dänische Parlament mehrheitlich für ein Gesetz, das die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme von Asylwerbern in Dänemark erschwert. Unter den Ideen fand sich ein Asylzentrum außerhalb Europas, in dem die Asylverfahren effektiv abgewickelt werden sollen. Selbst jene, welche einen Asylstatus zuerkannt bekommen, sollen nicht automatisch ein Bleiberecht in Dänemark erhalten. Vielmehr sollten diese im jeweiligen Drittland bleiben oder in ein Flüchtlingslager der UNO andernorts verlegt werden. Zahlreiche zeitgenössische Linke waren entsetzt, die Wochenzeitung „Der Freitag“ sah sich überhaupt an „den Faschismus“ erinnert. Im konservativen Lager war die Rezeption anders. Unmittelbar nach diesem Vorstoß preschte auch ÖVP-Innenminister Karl Nehammer vor, bezeichnete Dänemark als Vorbild. Er erklärte das nordische Land zum „starken Partner im Kampf gegen illegale Migration“. Es sei „immer wieder auch Vorreiter, wenn es darum geht, konsequente Maßnahmen dagegen zu setzen“. Die „spannenden Projekte“, die Dänemark auf den Tisch legte, wolle er sich „genau ansehen und prüfen“. Das Land sei ein „Impulsgeber für Europa“. Dass es tatsächlich zu einer schnellen Einigung kommen könnte, bezweifelte das liberalkonservative Meinungsmagazin „Tichys Einblick“ allerdings umgehend: „Eine Zusammenarbeit zwischen Wien und Kopenhagen steht trotz des von Nehammer gezeigten Interesses wohl nicht sofort ins Haus […]. Eine Ausnahmeregelung in Sachen EUAsylrichtlinie, wie sie Dänemark besitzt, können die Österreicher nicht vorweisen. Solange das so ist, bleibt N °15 / D E Z EM B ER 2021

es bei Planspielen – egal ob in Wien oder anderswo.“ Bislang scheint sich diese Prognose zu bewahrheiten. Vor dem aktuellen Anstieg der Asylzahlen zerfällt der nur scheinbar harte Kurs der türkis-grünen Regierung in der Tat zu Schall und Rauch. Im August etwa wurden 4758 Erstanträge registriert – mehr als dreimal so viele wie im Vorjahresmonat (1477). In den ersten neun Monaten des Jahres 2021 hatte Österreich sogar die höchste Pro-Kopf-Quote an Anträgen. Satte 22.928 Anträge waren zwar weniger als in der Bundesrepublik Deutschland (100.278). Dennoch bedeuteten sie in absoluten Zahlen den fünften Platz in der EU – und die Quote von 2204 Erstanträgen je Million Einwohner war einsamer trauriger Spitzenwert.

Die Zukunft des Landes sind die Kinder: Dänemark will sich dagegen unattraktiver für Wirtschaftsmigranten machen und wird damit zum Vorbild für viele Länder in Europa.

Als Dauerlösung nicht voll tauglich Aber auch in Dänemark ist nicht alles Gold, was glänzt. Das Modell richtet sich vor allem gegen illegale Migration ins Sozialsystem. Seit dem Höchststand von 2015, als die Rekordzahl von 76.323 Personen nach Dänemark einwanderte, blieb die Zuwandereranzahl fortwährend hoch. Bis einschließlich 2019 waren es stets mehr als 60.000 Personen; der Rückgang auf 48.644 Einwanderer ohne dänische Staatsbürgerschaft im Vorjahr war mutmaßlich auch coronabedingt. Das waren zwar weitaus weniger als die Zuwanderungen von Ausländern nach Österreich (2020: 136.311), der Anteil betrug aber dennoch pro Jahr etwa ein Prozent der Bevölkerung. Der traditionell niedrige Anteil an Ausländern im Land stieg in Dänemark trotzdem von 2010 bis 2020 von 5,96 % auf 9,22 %. Freilich: Auch

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R E P O R TAG E

Flüchtlinge sollen auch wieder zurück in ihre Heimatländer. Die dänischen Identitären haben mit ihrer Kampagne viel Aufsehen erregt.

das ist nicht einmal die Hälfte des österreichischen Wertes, der laut des jüngsten Migrationsberichtes des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) bereits 20,1 % beträgt. Die Ausländer in Dänemark kamen auch 2020 aus nahezu aller Welt. Im Zehnjahresvergleich wuchs vor allem die Zahl der Syrer (von 3707 auf 42.968) und der Polen (von 28.401 auf 48.473). Auch die Zahl der Inder ist inzwischen mehr als doppelt so hoch (von 6382 auf 15.385). Die der Bulgaren vervierfachte sich nahezu (von 2685 auf 10.912), die der Rumänen verfünffachte sich sogar (von 6446 auf 33.591). Bei keinem einzigen der 30 Top-Herkunftsländer war die Zahl rückläufig, die prozentual niedrigsten Zuwächse gab es aus den kulturell am nächsten stehenden Ländern Norwegen (von 16.067 auf 17.359), Schweden (von 15.154 auf 16.620) und Island (von 8967 auf 9308). Die Anzahl der Moscheen war bereits zwischen 2006 bis 2017 beinahe um die Hälfte auf 170 Einrichtungen angewachsen. Und obwohl der Befund aus Wien, wo Schüler mit deutscher Muttersprache bereits insgesamt in der Minderheit sind, unerreicht ist, sah sich eine Schule in Aarhus schon im Jahr 2016 gezwungen, Schulkinder nach Herkunft zu unterteilen, weil Migrantenkinder dort über 80 % der Schüler ausmachten. Dänemark versucht zwar, dem Phänomen beizukommen, indem die Regierung den Vorstoß wagte, den Migrantenanteil „nicht westlicher“ Personen in einem Wohngebiet in den nächsten zehn Jahren auf 30 % zu beschränken – es bleibt aber Stückwerk.

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Letztlich kann man über die dänischen BestrebunDie dänischen gen zwar sagen, dass sie ziemlich ambitioniert sind. Bestrebungen Als endgültige Maßnahme, um die Umkehrung desind ziemlich mographischer Trends zu bezwecken, ist sie allerdings nur beschränkt tauglich. Zudem ist die Asylanerkenambitioniert. in Dänemark weiter hoch: Mit 42 % lag Um die Umkeh- nungsquote man im ersten Quartal dieses Jahres in den Top Ten rung demogra- der EU-27 (Österreich lag mit 69 % auf dem dritten phischer Trends Platz). zu bewirken, Japanisches statt dänisches Modell? sind sie allerDass es auch anders geht, zeigt sich etwa in Fernost: Im Jahr 2018 vergab Japan bei 10.493 Gesuchen nur an 42 dings nur Personen einen Asylstatus – eine Anerkennungsquobeschränkt te von etwa 0,4 %. Das ist ein Hundertstel des dänitauglich. schen Wertes. Das fernöstliche Land hat traditionell einen kritischen Zugang zur Einwanderung, zwischen 1603 und 1867 duldete das Land gar keine Ausländer. Inzwischen ist dies anders, doch man achtet stark auf eine Begrenzung, präferiert Einwanderer aus kulturell nahe stehenden Ländern. Man nimmt auf die weitere Bevölkerungsstruktur große Rücksicht, da die Japaner ethnische Homogenität als Voraussetzung für sozialen Zusammenhalt empfi nden. Im Jahr 2018 kamen zwar um 165.000 Menschen mehr ins Land, als es verließen – der Großteil aber aus Ostasien. Im Corona-Jahr 2020 wiederum war der Zahl für acht der zehn TopHerkunftsländer rückläufig, einzig die Zahl der Filipinos und Chinesen stieg leicht an. Die größte Ausländergruppe kommt weiterhin aus Korea, mit dem man sich eine lange Geschichte teilt. RE


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Einwanderung im wahrsten Sinne des Wortes ereignet sich zu Fuß: Das grenzenlose Europa hat 2015 gezeigt, dass die Migranten sich dort verteilen, wo der Wohlstand und die Absicherung am einladendsten scheinen. Oder schon Verwandte zu Hause sind …

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Mette Frederiksen ist Vorsitzende der dänischen Sozialdemokraten. Sie fahren einen migrationskritischen Kurs.

In der Regel werden die Zuwanderer gezielt als temporäre Gastarbeiter rekrutiert, vor Niederlassung sind fl ießende Sprachkenntnisse und fachliche Qualifi kationen nachzuweisen. Bis 2012 waren Ausländer an ihren japanischen Arbeitgeber gebunden, verloren ihren Aufenthaltsstatus in der Regel nach Beendigung der Stelle. Die Nettozuwanderungsrate – also Zuwanderer minus Abwanderer – liegt bei 0,5 Personen je 1000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland wuchs die Zahl zwischen 2010 und 2020 auf das Rekordhoch von 4,5 Personen je 1000 Einwohnern. Es ist also nur konsequent, dass sich die AfD im April auf dem Bundesparteitag in Dresden dazu verpfl ichtete, für ein „japanisches“ Einwanderungsmodell zu stehen. Zuvor galt das australische/kanadische Modell, welches ähnlich den dänischen und schweizerischen Modellen zwar auf qualifi zierte Zuwanderung setzt, die Wahrung der jeweiligen ethnokulturellen Identität als Konstante aber nur als bestenfalls sekundäre Priorität erachtet.

Anderer Zugang zum Arbeitsmarkt Gerade im Vergleich mit den schwedischen Nachbarn kann man die Vorstöße also vor allem als Maßnahme betrachten, um den traditionell starken Sozialstaat zu bewahren. Wie in anderen Staaten mit ausgeklügelten Sozialsystemen – auch Deutschland und Österreich zählen im internationalen Vergleich dazu – stellt sich dabei die ständige Frage, wie man dessen Missbrauch vorbeugen kann. So wird Dänemark auch am Arbeitsmarkt zum Vorbild für Österreich – ohne dass dies

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Dänen und Zuwanderer müssen rasch nach dem Jobverlust nachweisen, dass sie sich aktiv um eine neue Arbeitsstelle bemühen, andernfalls droht die Streichung des Anspruches.

offi ziell so deponiert wird. So gilt dort ein degressives Arbeitslosengeld. Mit Fortdauer der Arbeitssuche werden die Zuwendungen sukzessive reduziert. Zuerst gibt es 83 % des Letztgehaltes. Dänen und Zuwanderer müssen aber rasch nach dem Jobverlust nachweisen, dass sie sich aktiv um eine neue Arbeitsstelle bemühen, andernfalls droht die Streichung des Anspruches. Nach fünf Jahren gebühren den Personen nur mehr 50 % des Lohnes. Interessanterweise führen die Maßnahmen zu einer schnellen Wiederaufnahme von Jobs sowie einem niedrigen Anteil Langzeitarbeitsloser. Im heimischen Modell geht man derzeit noch den umgekehrten Weg. Hier gibt es 55 % des Nettolohnes des Vorjahresschnittes (im ersten Halbjahr des vorletzten Jahres) – nach fünf Jahren aber immerhin noch 51 %. Der erste Wert liegt deutlich unter dem OECD-Schnitt, der zweite Wert deutlich darüber. Auch deshalb nahm Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) – er lehrte an einer schwedischen Uni und dürfte somit mit dem ständigen Vergleich zum dänischen Nachbarn vertraut sein – ebenfalls ein degressives Arbeitslosengeld ins Visier. Die Steigerung der Beschäftigungsanreize sollte in Österreich die Situation bekämpfen, in der zeitgleich viele Menschen keinen Job fi nden, viele Betriebe aber auch kein Personal. Dass dieser Vorstoß von den übrigen Parteien mit Ausnahme der NEOS als Zeichen sozialer Kälte gesehen wurde, ist auch der Corona-Krise geschuldet. Denn infolge der harten Regierungsmaßnahmen wurden Hunderttausende von Österreichern zeitweiRE


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BEISPIEL OBERÖSTERREICH Dass die Koppelung von Sozialleistungen ans

Sprachniveau eine Umverteilung des Steuergel-

des von Migrantensippen an heimische Leis-

tungsträger wie Familien und Alleinerziehende bewirken kann, zeigt sich im Übrigen auch in

Oberösterreich. Die inzwischen von der ordentFoto: OJPHOTOS / Alamy Stock Foto

lichen Gerichtsbarkeit als EU-rechtskonform

beschiedene Maßnahme des dortigen Wohnbaureferenten Manfred Haimbuchner (FPÖ) führte

zu einem Abfall des Migrantenanteils von mehr

als 10 % auf 3,3 % und stattdessen zu einer Ent-

lastung von über 25.000 heimischen Haushalten

in Höhe von durchschnittlich 172 Euro im Monat

– ein realpolitisches Erfolgsmodell, für das man

von Wien nicht in den hohen Norden blicken muss, sondern nur eine gute Zugstunde nach Westen.

Kontinuität als Identität: Das Volk feiert am 16. April 2015 mit Königin Margrethe II. am Kopenhagener Rathausplatz ihren 75. Geburtstag.

se arbeitslos oder mussten in Kurzarbeit. Traditionsbetriebe hausten auf oder befi nden sich weiterhin in der Schwebe. Wie sich die Verschärfungen in Richtung 3G/2,5G/2G-Regeln in unterschiedlichen Teilbereichen des Alltages auf den Jobmarkt auswirken, war zum Zeitpunkt des Erlasses der Nachweispfl icht für den Arbeitsplatz noch nicht abschätzbar. Kocher verschärfte den sozialen Druck, indem er dem AMS erlaubte, die Sozialleistungen zu streichen, wenn Jobsuchende eine Stelle mit Impfzwang ablehnen. Das Auffangnetz wäre recht grobmaschig.

Familienfreundliche Sozialleistungen Auch hier unterscheidet sich Dänemark. Dieses zählt zwar zu den Spitzensteuerländern in Europa – und seine Steuerquote von 46 % des Bruttoinlandsproduktes bedeuteten 2019 den zweiten Rang in Europa. Doch das Land nutzt die hohe Einkommenssteuer eben, um ein breites soziales Netz aufrechtzuerhalten. Einwohner Dänemarks haben ein Anrecht auf kostenlosen Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem. Arbeitszeiten sind in der Regel flexibler, und das Angebot für Kinder ist breit – samt garantiertem geförderten Kindergartenplatz. Die Eltern zahlen knapp ein Drittel davon, doch der Selbstbehalt wird einkommensschwachen Familien üblicherweise erlassen. Auch das Kindergeld ist für alleinerziehende, sozial schwache oder pensionierte Eltern höher. Dies wirkt sich auch auf den Arbeitsmarkt anders aus: 30 % der dänischen Eltern arbeiten in Doppelvollzeit. In Österreich gilt dies nur für jedes siebente N °15 / D E Z EM B ER 2021

Elternpaar, in der Kita-Wüste Deutschland soll dies sogar nur für 1,2 % der Eltern gelten, wenn man einem Artikel des öffentlich-rechtlichen Deutschlandfunk trauen darf. Für viele Auswanderer aus dem deutschsprachigen Raum ist die Vereinbarkeit von Job und Familie ein Mitgrund für ihren Umzug nach Dänemark. Frederiksens Vorstoß, die Migrantinnen in die Arbeit zu kriegen, ist somit wohl auch ein Versuch, diese in das dänische System der Kinderbetreuung zu bekommen. Dass unter staatlicher Obhut womöglich auch der Radikalisierung entgegengewirkt werden kann, nimmt man als Bonus. Andererseits droht eine weniger starke familiäre Bindung – im Hinblick auf den Zusammenhalt als Keimzelle eines Volkes mitunter ein Problem; im Hinblick auf die Integrationsfähigkeit Kulturfremder allerdings immerhin eine Stellschraube.

Mücksteins Freiheitsschwindelei Aufgrund der Aktualität des Themenkomplexes lohnt sich aber auch noch ein dritter Blick nach Dänemark – nämlich bei den Corona-Maßnahmen. Was auf den ersten Blick unverwandt erscheint, ist dennoch ein weiteres Beispiel für die dänische Ansicht des „guten Vaters Staat“: Er lässt seine Bürger weitgehend frei gedeihen, greift aber ein, wenn es Probleme gibt. Mal klopft er ihnen auf die Finger, mal unterstützt er sie. Dies kann als typisch skandinavischer Zugang zur Rolle des Staates gesehen werden: Denn auch Schweden und Norwegen leben diese Mentalität traditionell. Freilich: Das schützt nicht vor Übergriffen. Zu Beginn

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„Baut Festung Europa“, so stand es auf einem 200 Quadratmeter großen Banner, das Aktivisten der dänischen Identitären im Oktober 2021 auf der alten Festungsinsel Trekroner Fort im Hafen von Kopenhagen plazierten.

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M I G R AT I O N I N DÄ N E M A R K 1983 gab es etwa 60.000 nichtwestliche Einwanderer der ersten und zweiten Generation. In der Dekade von 1985 bis 1994 belief sich die Zuwande-

rung im Durchschnitt auf etwa 20.000 Personen pro Jahr. 1995 stieg die Zahl

wegen des Jugoslawienkriegs kurzzeitig auf fast 40.000 an, um sich in den

Jahren bis 2004 bei etwa 30.000–35.000 Einwanderern im Jahr zu stabili-

sieren. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Zuwanderer noch einmal

stark gestiegen. 2005 erreichte die Zahl der Einwanderer erstmals die Mar-

ke von 40.000. Im Jahr 2014 kamen fast 65.000 Einwanderer nach Dänemark,

dies ist die bislang höchste Zahl an Einwanderern für ein einzelnes Jahr. Im

Jahr 2005 betrug der Einwandereranteil an der dänischen Gesamtbevölkerung etwa 7,2 % (389.000 Personen). Zum 1. Januar 2014 lebten in Däne-

mark 476.059 Einwanderer. Bei einer Gesamtbevölkerung von 5,6 Millionen

entspricht dies einem Anteil von 11,1 %. Hiervon stammten ca. 199.829 aus

Foto: Gonzales Photo / Alamy Stock Foto

westlichen und 276.230 aus nicht westlichen Ländern.

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Guter Journalismus ist eben auch eine Frage des Standpunktes.

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Das geschützte Lamm Schwerpunkt Osteuropa: Interview mit der Historikerin Mária Schmidt ab Seite 31

Präsident Bidens Migrationspolitik gefährdet die Staatlichkeit der USA Seite 8

Paul Cullen über die längst widerlegten, aber immer noch virulenten Thesen von Thomas R. Malthus

Der »rechtsextreme« Politiker Éric Zemmour ist ein Linker alter Schule Seite 20

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Will man sich in diesen Themen etwas von den Dänen abschauen, muss die langfristige Problemlösung die oberste Priorität haben.

der Pandemie schoss man gnadenlos über das Ziel – Frederiksen ließ aus Sorge vor der Seuchenverbreitung im Vorjahr Millionen von Zuchtnerzen keulen. Bei der Freilassung der Bürger aus den Zwangsmaßnahmen besann man sich aber. Schon im Frühjahr einigte man sich: Sobald alle Personen über 50 Jahren tatsächlich ein Impfangebot erhielten, fallen alle Beschränkungen weg. Am 10. September war es dann so weit. Auch vor diesem Hintergrund gilt das Land als Modellregion im Pandemie-Management. Auch dies blieb der türkis-grünen Regierung nicht verborgen. Allerdings zog sie die völlig falschen Lehren aus dem „dänischen Modell“. Denn der grüne Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein argumentierte, man könne die Maßnahmen noch nicht lockern, weil die Impfquote niedriger sei als etwa in Dänemark; was er auf den dortigen Allparteien-Konsens zurückführte. Dabei ist gerade das mit der Impfquote ein folgenschwerer Trugschluss. Denn die hierzulande nahezu überall gültige Maskenpflicht fiel dort schon am 14. Juni – bei einer Impfquote von gerade einmal 48 %. Die Öffnung gelang, mit einer 7-Tages-Inzidenz von von 176,3 stand das Land am 29. Oktober dennoch weitaus besser da als Österreich (damals 288,6). Dieser Tag ist ein interessanter Gradmesser, da es jener Abend war, an dem Mückstein die 2,5G-Regel (also mindestens ein PCR-Test) für den Arbeitsplatz ankündigte. Nur eine Woche zuvor verwies er erneut auf die dänische Situation, versuchte damit obendrein politisches Kleingeld zu waschen. Die kritische Haltung der FPÖ zu Zwangsmaßnahmen entlang des Impfstatus machte er für die niedrige Impfquote verantwortlich. Im internationalen Vergleich ein untauglicher Schluss: In Schweden war die Zweifach-Impfquote zu diesem Zeitpunkt höher als in Österreich, in Brasilien immerhin die Erstimpfquote. Beide Länder verzichteten auf scharfe Maßnahmen, das letztere hatte zu diesem Zeitpunkt bessere Zahlen als das klimatisch teilweise vergleichbare Australien, das seinerseits mit einer 1G-Regel für viele Jobs schockiert. Wie sehr die Impfrate aufgrund erwiesen rückläufiger Wirksamkeit der Vakzine als Gradmesser taugt, ist ohnehin umstritten. Aber auch der dänische Befund zeigt, dass die greifbare N °15 / D E Z EM B ER 2021

Aussicht auf Lockerungen eher als Impfturbo taugt als drohende Verschärfungen. Nicht zuletzt war die Impfbereitschaft der Österreich auch rund um die Teilöffnungsschritte im Frühsommer am größten. Dass auch Deutschland mit einem Impffortschritt von weit über 80 % der impfbaren Bevölkerung ständig an neue Verschärfungen denkt, führt diese Argumentation eines Machtpolitikers insgesamt ad absurdum.

Nur ganzheitliche Modelle sinnvoll In dieser Großwetterlage zeigt sich auch besonders deutlich die Problematik, das Modell eines anderen Landes für konkrete politische Maßnahmen zu idolisieren. Denn das kann massive Fehlinterpretationen nach sich ziehen. So wie Dänemarks Corona-Modell nur unter Einbezug eines Stufenplans hin zur Freiheit zu verstehen ist, ist es bei der Migration und am Arbeitsmarkt ähnlich. Nur einzelne Maßnahmen aus der dänischen Integrationspolitik aufzugreifen kann im besten Fall manche Symptome bekämpfen und im schlechtesten Fall wirkungslos bleiben oder sogar zu einer größeren Ablehnung der hiesigen Kultur führen. Dazu müsste man die ganzheitliche Dynamik seiner jahrelangen Migrationspolitik aufgreifen und ebenfalls in ähnlicher Verzahnung einführen. Der Weisheit letzter Schluss gegen schleichenden Bevölkerungsaustausch ist es aber nicht. Und die arbeitsmarktpolitischen Schritte drohen zum Fiasko zu werden, wenn der Sozialstaat nicht insgesamt intakt ist – ein Thema, das zudem mit der Migrationsfrage untrennbar verbunden bleibt. Im gegenteiligen Fall droht bei einer halbseidenen Teilübernahme das soziale Ödland Deutschlands, in dem Rentner teils Pfandflaschen sammeln müssen, der Mittelstand unter der Abgabenlast ertrinkt, der Anteil der „Working poor“ immer weiter steigt und die reale Einkommensschere sich alljährlich weiter öffnet. Will man sich in diesen Themen etwas von den Dänen abschauen, muss jedenfalls die langfristige Problemlösung die oberste Priorität haben – und nicht etwa ein „Macher-Image“, mit dem man für den schnellen und populistischen Effekt leicht politische Meter machen kann, allerdings ohne jede Nachhaltigkeit.

Julian Schernthaner Der 1988 in Innsbruck geborene studierte Sprachwissenschaftler lebt mittlerweile im Innviertel und ist Redakteur der Onlinezeitung „Die Tagesstimme“.

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WIRTSCHAFT

Die große Enteignung Explodierende Energiepreise und massiver Kaufkraftverlust befördern gewollt eine gewaltige Umverteilung vom Individuum zum Staat hin. VON WERNER REICHEL

I

n rund 94.000 Haushalten in Österreich müssen die Menschen im Winter frieren. Sie können sich das Heizen nicht mehr leisten. In Deutschland sind es laut Schätzungen zwei Millionen. In den kommenden Monaten werden diese Zahlen dramatisch steigen. Derzeit schießen die Energiepreise ungebremst nach oben. Der Großhandelspreis von Erdgas ist in diesem Jahr um rund 500 % gestiegen, der von Kraftwerkskohle hat sich verdoppelt. Davon haben die Endkunden noch kaum etwas mitbekommen, viele haben eine Preisgarantie bis Ende dieses Jahres. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis diese Erhöhungen auch auf den Endverbraucher durchschlagen. Weil die Strompreise vom Gaspreis abhängen, ziehen auch sie kräftig an. Wer mit Öl heizt, ist nicht besser dran. Die Rohölpreise sind hoch wie schon lange nicht mehr. Heizöl ist in Deutschland gegenüber dem Vorjahr um fast 90 % teurer geworden. Autofahrer zahlen derzeit rund 1,40 Euro für einen Liter Super-Benzin. Vor einem Jahr war es rund ein Euro. Das ist ein Plus von 40 %. Die hohen Energiepreise sind aber nicht nur für Geringverdiener, sondern auch für die europäische Industrie fatal. Im-

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mer mehr energieintensive Unternehmen sind gezwungen, ihre Produktion herunterzufahren oder ganz einzustellen. Die Strompreise für die Industrie sind in Deutschland derzeit zehnmal so hoch wie vor drei Jahren. Deshalb fordern immer mehr Unternehmen aus der Schwerindustrie, etwa die „Swiss Steel Group“, Staatshilfen, ansonsten drohe ein Produktionsstopp. So wie bei den Düngemittelherstellern. Die energieintensive Produktion von Stickstoffdünger ist angesichts der hohen Kosten nicht mehr rentabel. Die Plattform „Agrar heute“ schlägt Alarm: „Die Düngerpreise steigen immer weiter. Düngerfabriken drosseln weiter die Produktion. Bauern bekommen nichts zu kaufen.“ Die Erzeugerpreise für landwirtschaftliche Produkte sind im August um 13,3 % gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Eine Tonne Mehl kostet in Österreich derzeit 400 statt wie bisher 220 Euro, klagen die Bäcker. Die explodierenden Energiekosten treiben auch die Preise für Nahrungsmittel und für andere Güter des täglichen Bedarfes nach oben. Vor allem für Geringverdiener und Mindestpensionisten wird die Lage zunehmend prekär. Denn die offizielle Inflationsrate von 3,3 % im September ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Die für Bezieher

kleiner Einkommen wichtigere Kennzahl ist der sogenannte Miniwarenkorb, er bildet im Wesentlichen den wöchentlichen Einkauf – also Nahrungsmittel, Hygieneartikel, Rezeptgebühren, Parkgebühren etc. – der Österreicher ab. Hier sind die Preise im vergangenen Monat um 6,7 % gestiegen. Finanzexperte Marc Friedrich hält selbst solche Zahlen für geschönt. Er schätzt, dass der reale Kaufkraftverlust längst zwischen 10 und 15 % liegt. Auch die Herstellung dieser Zeitschrift hat sich in den vergangenen Wochen erheblich verteuert, die Papierpreise sind seit Jahresbeginn um 70 % gestiegen. Da sich diese Hiobsbotschaften schwerlich verheimlichen und relativieren lassen, muss seit ein paar Wochen auch die brüsseltreue Mainstreampresse darüber berichten. Trotzdem sind die Regierungen in Berlin oder Wien und die EU-Spitze nicht sonderlich von diesen Entwicklungen beeindruckt. Während die Preise für Energie, Rohstoffe, Produktion und Nahrungsmittel explodieren, beschäftigen sich die europäischen Politiker nach wie vor mit ihren Lieblingsproblemen und Projekten wie Genderismus, Kampf gegen rechts, Energiewende, Multikulturalisierung, der Errettung der Welt und ihren politinternen Machtkämpfen. FR E I L I CH


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WIRTSCHAFT

Alternative Energien sind schön und gut, aber sie müssen erst funktionieren, bevor sie eine Alternative sind. Keine Kernenergie, kein Gas, keine Kohle – kann das gut gehen?

Die teuren Energiepreise sind vor allem hausgemacht. Der Hauptpreistreiber ist die grüne Energieagenda, die deutsche Energiewende.

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Utopische Klimapolitik In Österreich ist die türkis-grüne Regierung mit sich und ihren Skandalen ausgelastet, in Deutschland dreht sich alles um die Bildung der Ampelkoalition, und in Brüssel dilettiert eine klimabewegte Ursula von der Leyen, die ernsthaft glaubt, diese Krise aussitzen bzw. mit noch schnellerem Gelddrucken bewältigen zu können. In Brüssel hat man zwar die steigenden Energiepreise widerwillig zur Kenntnis nehmen müssen, doch die EU reagiert, wie sie auf jede Krise reagiert: Sie bekämpft nicht die Ursachen, sondern mit noch mehr Geld, das sie nicht hat, die Symptome. Ein fataler Irrweg. Frankreich will die Energiepreise staatlich einfrieren. Keine gute Idee, warnen Experten. Solche interventionistischen Maßnahmen werden das Energieangebot weiter verknappen und die Preise nach oben treiben. Mit solchen politischen Taschenspielertricks lässt sich das eherne Gesetz von Angebot und Nachfrage nicht aushebeln. Die Spanier versuchen ihr Glück mit der Senkung der Mehrwertsteuer auf Strom und Gas. Solche Maßnahmen demonstrieren das komplette Unvermögen bzw. den Unwillen der herrschenden Klasse, solche Krisen im Sinne der Bevölkerung zu bewältigen.

Die Schuldigen an der Verteuerung der Energiepreise haben Brüssel, Berlin oder Paris schnell gefunden. Das ist einerseits der Sündenbock aus dem Osten, Wladimir Putin, obwohl dieser mehr als die vertraglich vereinbarte Menge an Gas liefert, anderseits die nach der „Corona“-Krise anspringende globale Konjunktur. Das ist aber nicht einmal die halbe Wahrheit. Die teuren Energiepreise sind vor allem hausgemacht. Der Hauptpreistreiber ist die grüne Energieagenda, die deutsche Energiewende. Die Wurzeln liegen im Jahr 2011, als ein Tsunami die japanische Küste verwüstet und dabei ein AKW in Fukushima beschädigt hat. Diese Naturkatastrophe – an den Folgen des AKW-Unfalles ist bisher noch niemand gestorben – nutzten die linken Kräfte in Deutschland, um mit Angst und Panikmache ihre Öko-Agenda, mit der sie auch die Gesellschaft komplett umbauen wollen, auf Schiene zu bringen. Angela Merkel, die ihre politischen Entscheidungen stets an der veröffentlichten linken Meinung ausgerichtet hat, verkündete den Atomausstieg und viele weitere selbstzerstörerische Maßnahmen. Diese sogenannte Energiewende hat die gleiche wissenschaftliche Grundlage wie der Genderismus: keine. Es ist ein ideologisches Projekt mit weiblichen und zivilreligiösen Einsprengseln. Die Energiewende trägt nichts zur „Verbesserung“ des Klimas bei, sie ist mit ihrer ewiggestrigen Fortschrittsfeindlichkeit vielmehr einer der größten Umweltzerstörer (Flächenversiegelung, Akkuproduktion etc.), Wohlstandsvernichter und Instrument zum linken Gesellschaftsumbau. 2016 prognostizierte das Institut für Wettbewerbsökonomik, die Energiewende werde den deutschen Bürgern bis zum Jahr 2025 520 Milliarden Euro kosten. Mittlerweile musste man diese gigantische Summe weiter nach oben korrigieren. Die utopische Klimapolitik der Deutschen verknappt und verteuert konventionelle und im Überfluss vorhandene Energie. Das ist auch eines ihrer Ziele. Die deutsche Industrie, das finanzielle Rückgrat der EU, ist aber nur mit leistbarer und immer in ausreichender Menge vorhandener Energie konkurrenzfähig. Die Deutschen ersetzen aus ideologisch-religiösen Gründen und in Außerachtlassung aller Naturgesetze die kostengünstige und verlässliche Energieproduktion durch unzuverlässigen und teuren Wind- und Solarstrom. Dass es zu einer derartigen Energiepreisex-

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Foto:IMAGO / MiS

WIRTSCHAFT

Wohlstand ist noch immer das Auto, wohlige Gesinnung dagegen das Windrad.

plosion kommt, war absehbar und ist auch gewünscht. In der ARD-„tagesschau“ freute sich ein Kommentator: „Er ist da, der Preisschock. […] Nur, wenn Öl und Gas spürbar teurer werden, kriegen wir die Erderwärmung in den Griff.“ Längst haben auch Finanzinvestoren erkannt, wie man mit diesem ideologisch motivierten Irrsinn Geld verdienen kann. Der ORF berichtet im Frühjahr 2021 euphorisch: „Es könnte ein wichtiger Schritt in der Debatte über ‚grüne‘ Veranlagungen und den Ausstieg aus Aktien von Öl- und Kohleunternehmen sein: Ausgerechnet der weltweit größte Vermögensverwalter Black Rock – seit Jahren eine Zielscheibe von Umweltschutzgruppen – hat nun in einer Studie festgestellt: Wer Aktien von Kohleund Ölunternehmen aus seinem Portfolio streicht, handelt nicht nur ökologisch, sondern vermehrt auch das eigene Vermögen.“ Kein Wunder: Ursula von der Leyen will bis 2030 eine Billion Euro, das sind 1000 Milliarden, in ihren „Green Deal“ pumpen. Solche Summen locken Finanz-

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haie in Massen an. Seit der Kehrtwendung von BlackRock investieren sie kaum noch in die alten, „bösen“ Energiekonzerne, sondern nur noch in die geförderten „grünen“ Projekte und Konzerne. Autor William Engdahl: „Was die wenigsten verstehen: Die modernen grüne Energiemärkte sind so manipulativ, dass Spekulanten, Hedgefonds und Investoren wie BlackRock und Deutsche Bank davon profitieren, während Verbraucher das Nachsehen haben.“

Inflation ist kein Naturereignis Die Kostenexplosion am Energiesektor ist politisch induziert. Einige wenige profitieren zulasten der Bürger von der Energiewende. Die in die Energiewende gepumpten Gelder kommen, gemäß dem Cantillon-Effekt, vor allem in jenen Gruppen an, die dem Machtzentrum am nächsten stehen. Deshalb ist das, was man in Brüssel oder Berlin derzeit an Maßnah-

men gegen die Energiepreissteigerung verkündet, Show, Ablenkung, Symbolpolitik und bestenfalls ein Verzögern bzw. Verschlimmbessern der Krise. In Österreich hat es das Thema bisher noch nicht einmal auf die politische Tagesordnung geschafft. Anstatt bei der Energiepolitik radikal umzudenken, wird Brüssel seinen utopischen „Green Deal“ – kein Treibhausgas bis 2050 – trotz aller „Kollateralschäden“ durchziehen, und die neue Regierung in Berlin wird die desaströse Merkelsche Energiewende weiter verschärfen. Es ist dieser linke ideologische Irrweg, dem die Europäer die sich nun abzeichnende Krise in erster Linie zu verdanken haben. Der deutsche Atom-, der europaweite Kohleausstieg und der damit verbundene Wechsel von Kohlestrom zu teurem Gasund unzuverlässigem Windstrom, die Verdreifachung der CO2-Zertifikatspreise auf über 60 Euro pro Tonne CO2 aufgrund der Verknappung der Emissionszertifikate durch die EU sind neben dem globalen Wirtschaftsaufschwung die Hauptursachen für die steigenden Energiepreise. Sie sind die Treiber der Inflation, aber nicht der eigentliche Grund dafür. Dass Preise steigen, wenn bestimmte Güter wie Energie oder Baustoffe knapp sind, ist noch keine Inflation. Inflation ist ein Phänomen, bei dem im Wesentlichen alle Preise gleichmäßig nach oben gehen. Der voranschreitende Kaufkraftverlust ist vor allem eine Folge der expansiven EZBGeldpolitik und nicht, wie von Brüssel behauptet, ein temporäres Problem, das auf sogenannten Sonder- und vor allem Basiseffekten beruht und schon im kommenden Jahr vorbei sein wird. Man will die Bürger nicht beunruhigen, redet das Problem klein. Ist nämlich die Inflationserwartung in der Bevölkerung hoch, steigen die Löhne und die Spirale kommt in Gang. Man versucht, wie das Linke seit Antonio Gramsci immer tun, die Deutungshoheit über die Krise zu gewinnen. Die Inflation ist nicht, wie von den Mainstreammedien und Politikern dargestellt, ein „Naturereignis“, das bestimmten, ewigen Zyklen unterworfen ist, es ist auch kein Versagen des „freien“ Marktes, sondern die zwingende Folge des europäischen Geldsozialismus. 2016 schreibt der Ökonom Thorsten Polleit: „Neue Euros werden von der EZB nach Gutdünken an Bedürftige und ErFR E I L I CH


WIRTSCHAFT

Wenn immer mehr Menschen nicht mehr wissen, wie sie ihr Leben finanzieren sollen, ob sie am Monatsende noch genug Geld fürs Essen haben, sind „Corona“ und Klimawandel plötzlich bedeutungslos.

wählte ausgeteilt. Die Marktwirtschaft wird zur gelenkten Wirtschaft , zur Zentralbankplanwirtschaft . Wohin derartige semi-verhüllte sozialistische Experimente führen, lässt sich schon heute absehen: zu wirtschaft lichem Niedergang und politischem und sozialem Chaos.“ Deshalb haben Brüssel und die EZB das seinerzeit auf „unter, aber nahe zwei Prozent“ festgelegte Inflationsziel entsorgt. EZB-Chefi n Christine Lagarde betont, die 2 % seien „keine Obergrenze“ mehr. Die derzeitigen Preissteigerungen seien ohnehin nur temporär, kein Grund, gegenzusteuern. Schließlich haben sich die europäischen Schuldenstaaten schon zu sehr an die Versorgung mit Billig- bzw. Gratisgeld aus dem EZB-Bankomaten gewöhnt. Allein im vergangenen Jahr hat die EZB die Geldmenge M3 um 12 % ausgeweitet, während die Wirtschaft im Euroraum im selben Zeitraum um 6,6 % geschrumpft ist.

Flucht in Ideologie

Werner Reichel lebt und arbeitet in Wien. Er war rund 20 Jahre im Rundfunk tätig, unter anderem als Programmchef und Geschäftsführer mehrerer Radiosender, sowie als Lektor an der FH Wien. Er ist Autor und Verleger.

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Die EZB fährt weiter ihren Kurs, hält an der Nullzinspolitik fest. Auf ihrer Internetseite erklärt sie den Bürgern: „Da zu erwarten ist, dass die Inflation im Euroraum längerfristig deutlich unter 2 % bleiben wird, hat es der EZB-Rat für notwendig erachtet, niedrigere Zinsen festzulegen.“ Das ist natürlich Unsinn. Die Untätigkeit der zumindest auf dem Papier unabhängigen EZB und auch der hinter ihr stehenden EU ist rein politisch motiviert. Man befürchtet, dass ein Teil jener EuroStaaten, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten hemmungslos Schulden gemacht haben, Pleite gehen würden, wenn sie von der EZB kein Gratisgeld in praktisch jeder Höhe mehr bekämen. Eine solche Pleite wäre für die betroffenen Länder und die EU dramatisch. Man denke an die Erschütterungen, die Griechenland und Zypern nach 2009 erfasst haben. Jetzt wären viel wichtigere Länder betroffen, sollte die EZB zu der eigentlich vertraglich vorgeschriebenen Stabilitätspolitik zurückkehren: Italien, Frankreich, Spanien und Belgien sind allesamt Wackelkandidaten. Nun steht auch der Fortbestand des Euro und damit der EU auf dem Spiel.

Die lockere EZB-Geldpolitik hat verheerende Folgen: Je später man mit der Sanierung beginnt, umso schmerzhafter wird sie. Aufgrund der hohen Staatsschulden im Euroraum und der voranschreitenden Neuverschuldung der reformunwilligen Euro-Länder müssen die Zinsen im Keller bleiben, andernfalls fällt das gesamte EU-Kartenhaus zusammen. Man hat sein währungspolitisches Pulver komplett verschossen. Jetzt steckt die EZB in der Zwickmühle. Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaft sforschung: „Bei der EZB beten gerade viele, dass der Inflationsdruck nicht dauerhaft wird.“ Das ist auch der Grund, warum der Chef der deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, seinen Hut genommen hat. Weidmann ist aus Frustration über die verfehlte EZB-Geldpolitik zurückgetreten. Das politische Personal in der EU, das sich mittlerweile vor allem aus linken Ideologinnen ohne Fachkenntnisse zusammensetzt – EZB-Chefi n Lagarde hat nicht einmal ein Wirtschaft sstudium absolviert –, hat längst verlernt, reale Fehlentwicklungen und Krisen zu erkennen und zu bewältigen. Worin man allerdings gut ist, ist, die eigene Macht abzusichern und auszubauen. Mit den Zensurmaßnahmen (Hass, Hetze), Einschränkungen der Bürgerrechte im Zuge der CoronavirusPandemie und dem Bargeldverbot bereitet man sich auf turbulente Zeiten vor. Falls das Beten nicht hilft . Angesichts der aktuellen Entwicklungen spüren politische Verantwortungsträger, dass ihre Flucht in Ideologie, Symbolpolitik, Randthemen und Moralismus eine Strategie mit Ablaufdatum ist. Wenn immer mehr Menschen nicht mehr wissen, wie sie ihr Leben finanzieren sollen, ob sie am Ende des Monats noch genug Geld fürs Essen haben, sind „Corona“, Feminismus, Klimawandel und Schwulenrechte plötzlich bedeutungslos, werden auch die Bürger und Politiker erkennen, erkennen müssen, was Multikulti in der Realität für ein Land bedeutet. Die linksutopische Energie- und Geldpolitik ist zu einer hochtoxischen Mischung geworden. In Kombination mit der verfehlten Einwanderungs- und Integrationspolitik entsteht ein Sprengstoff, der alle linken Pläne und den Kontinent in die Luft jagen kann.

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FOTOSTRECKE

Wildlife Photographer of the Year Der Wildlife Photographer of the Year ist der Wettbewerb des britischen Natural History Museum, um die weltbesten Naturfotografen zu finden. Heuer gab es den Rekord von 50.000 Einreichungen durch Profi- und Amateurfotografen aus 95 Ländern. LARA JACKSON UK HIGHLY COMMENDED/ ANIMAL PORTRAITS —

Blutig

nhm.ac.uk/wpy

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Leuchtend rot tropft das Blut aus der Schnauze – sauerstoffhaltiges Blut, das anzeigt, dass die Gnu-Mahlzeit noch gelebt hat. Vielleicht hat die junge Löwin aufgrund ihrer Unerfahrenheit keinen sauberen Fang gemacht und begonnen, das noch zappelnde Tier zu fressen. Jetzt hält sie es mit einer Pfote fest und starrt dabei die Fotografin Lara intensiv an. Frisches Futter für die Raubtiere: Mehr als zwei Millionen Gnus ziehen auf ihrer jährlichen Wanderung durch den tansanischen SerengetiNationalpark, stets auf der Suche nach grünerem Gras.

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© Lara Jackson / 2021/Wildlife Photographer of the Year N °15 / D E Z EM B ER 2021

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FOTOSTRECKE

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© Audun Rikardsen / 2021 / Wildlife Photographer of the Year N °15 °15 // D E Z EM B ER 2021

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FOTOSTRECKE © Jaime Culebras / 2021 / Wildlife Photographer of the Year

B i l d Se ite 69 AUDUN RIKARDSEN NORWEGEN HIGHLY COMMENDED/ OCEANS

Bi l d oben JAIME CULEBRAS SPANIEN HIGHLY COMMENDED/ URBAN WILDLIFE

Bild re c hte S e ite link s o b e n WEI FU THAILAND HIGHLY COMMENDED/ AMPHIBIANS AND REPTILES

B i ld re c hte S e ite re c ht s o b e n JACK ZHI USA HIGHLY COMMENDED/ BIRDS

B ild re c h te Se ite unte n GHEORGHE POPA RUMÄNIEN HIGHLY COMMENDED/ NATURAL ARTISTRY

Schwundmasse

Natürlicher Magnetismus

Das packende Ende

Zum Greifen nah

Toxic Design

Umklammert von den Windungen einer goldenen Baumschlange bleibt ein rot gefleckter TokayGecko bei einem letzten Verteidigungsversuch auf dem Kopf seines Angreifers festgeklemmt. Wei hat Vögel in einem Park in der Nähe seines Hauses in Bangkok fotografiert, als seine Aufmerksamkeit von dem lauten Krächzen und Zischen des Geckos erregt wurde. Wei konnte zusehen, wie sie kämpften, die Schlange sich eng um den Gecko wickelte und ihn zu Tode drückte. Noch an der Schlinge ihres Schwanzes hängend, begann die schlanke Schlange dann mit dem mühsamen Prozess, den Gecko im Ganzen zu schlucken.

Ein junger Weißschwanzaar greift sich eine lebende Maus aus den Fängen seines schwebenden Vaters. Ein erfahrenerer Vogel hätte sich von hinten genähert, aber dieses zimtgestreifte Junge war erst zwei Tage lang geflogen und hat noch viel zu lernen. Um die Aufnahme zu machen, musste Jack sein Stativ verlassen, seine Kamera greifen und rennen. Das Ergebnis war der Höhepunkt der dreijährigen Arbeit – die Aktion und die Bedingungen passten perfekt zusammen. Währenddessen verfehlte der Nachwuchs, aber er kreiste noch einmal und packte die Maus.

Obwohl Gheorghe die Region seit mehreren Jahren besucht und mit seiner Drohne Bilder von den sich ständig ändernden Mustern des Tals machte, war er noch nie auf eine so auffällige Kombination von Farben und Formen gestoßen. Sie sind das Ergebnis einer hässlichen Wahrheit: In den späten 1970er-Jahren mussten mehr als 400 Familien in Geamana das Land verlassen, um den Abfällen der nahe gelegenen Mine Rosia Poieni – die eines der größten Kupfererz- und Goldvorkommen in Europa ausbeutet – Platz zu machen. Die Siedlung wurde von Millionen Tonnen Giftmüll überschwemmt, nur der alte Kirchturm ragt noch heraus.

Im Kielwasser eines Fischerbootes bedeckt ein Streifen toter und sterbender Heringe die Meeresoberfläche vor der Küste Norwegens. Das Boot hat zu viele Fische gefangen, und als das Netz hochgezogen wird, reißt es und gibt Tonnen von zerquetschten und erstickten Tieren frei. Audun war da gerade an Bord eines Küstenwachschiffes. Ihre Fotografien wurden zu Beweismitteln in einem Gerichtsverfahren, das zu einer Verurteilung für den Eigentümer des Fischerbootes führte. Der Atlantische Hering stand schon kurz vor dem Aussterben, und es brauchte 20 Jahre und ein BeinaheFangverbot, bis sich die Populationen erholten.

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Als Jaime in Quito, Ecuador, diese Tarantulafalkenwespe entdeckte, die eine Vogelspinne über seinen Küchenboden zieht, beeilte er sich, seine Kamera zu greifen. Als er zurück war, hob die riesige Wespe – fast fünf Zentimeter lang – ihr Opfer an der Seite des Kühlschrankes hoch. Tarantulafalken sollen einen der schmerzhaftesten Stiche der Welt haben, tödlich, wenn er eine Spinne trifft. Jaime hat gewartet, bis die bunte Wespe mit seinen Kühlschrankmagneten in gleicher Höhe war, um diese vorübergehende Ergänzung seiner Sammlung fotografisch zu dokumentieren.

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© Wei Fu / 2021 / Wildlife Photographer of the Year

© Jack Zhi / 2021 / Wildlife Photographer of the Year

© Gheorghe Popa / 2021 / Wildlife Photographer of the Year N °15 °15 // D E Z EM B ER 2021

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© Buddhilini de Soyza / 2021 / Wildlife Photographer of the Year N °15 °15 // D E Z EM B ER 2021

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FOTOSTRECKE © Laurent Ballesta / 2021 / Wildlife Photographer of the Year

© Lara Jackson / 2021/Wildlife Photographer of the Year © Jonny Armstrong / 2021 / Wildlife Photographer of the Year

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FOTOSTRECKE

© Gil Wizen / 2021 / Wildlife Photographer of the Year

Bi l d S ei te 7 3 BUDDHILINI DE SOYZA SRI LANKA/AUSTRALIEN HIGHLY COMMENDED/ MAMMALS

B ild l ink e S e i te o b e n JONNY ARMSTRONG USA HIGHLY COMMENDED/ ANIMAL PORTRAITS

B i ld l ink e S e i te unte n LAURENT BALLESTA FRANKREICH HIGHLY COMMENDED/ UNDERWATER

B ild d ie se Se ite o b e n GIL WIZEN ISRAEL/CANADA HIGHLY COMMENDED/ INVERTEBRATES

Das große Schwimmen

Sturmfuchs

Tiefe Fühler

Die Füchsin war damit beschäftigt, in den Untiefen nach Lachskadavern zu suchen – Rotlachs, der nach dem Laichen stirbt. Am Rand des Wassers lag Jonny auf seiner Brust und visierte sie mit einem niedrigen WeitwinkelObjektiv an. Er konnte dabei das Fenster des dunkler werdenden Umgebungslichtes nutzen, das durch einen heranziehenden Sturm erzeugt wurde. Der Fototograf wollte ein dramatisches Porträt bekommen. Aber bei der Arbeit mit dem manuellen Blitz musste er die Leistung für ein weiches Scheinwerferlicht voreinstellen – gerade genug, um die Textur des Fells der Füchsin aus relativ kurzer Entfernung hervorzuheben.

Im tiefen Wasser vor der französischen Mittelmeerküste, zwischen schwarzen Kaltwasserkorallen, fand Laurent einen surrealen Anblick – eine lebendige Gemeinschaft von Tausenden von Narwal-Garnelen. Ihre Beine berührten sich nicht, aber ihre außergewöhnlich langen, sehr beweglichen Außenantennen. Es schien, dass jede Garnele mit ihrer Nachbarin in Kontakt stand und möglicherweise Signale über ein weitreichendes Netzwerk versendet würden. In solch tiefem Wasser (78 Meter tief) enthielt Laurents Luftversorgung Helium; das hat es ihm ermöglicht, länger unten zu bleiben und sein Bild aus nächster Nähe zu fotografieren.

Wunderschöner Blutsauger

Das Tano-Bora-Rudel (Maasai für „prachtvolle Fünf“) männlicher Geparden in Kenias Masai Mara ist in den reißenden Talek-Fluss gesprungen. Geparde sind gute Schwimmer, und die Aussicht auf mehr Beute auf der anderen Seite des Flusses hat sie noch entschlossener gemacht. Dilini konnte ihnen stundenlang am gegenüberliegenden Ufer bei der Suche nach einem Übergangspunkt folgen. „Plötzlich sprang der Leitgepard rein und die anderen folgten ihm“ – Dilini sah zu, wie sie mit verzerrten Gesichtern von der Strömung fortgerissen wurden. Sie tauchten dann etwa 100 Meter flussabwärts am neuen Ufer auf, bereit zur Jagd.

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Der beste Weg, eine schmucke Mücke zu fotografieren, sagt Gil, ist, sich von ihr beißen zu lassen. Die eleganten Sabethes-Mücken, die nur in Lateinamerika vorkommen, sind nur 4 Millimeter lang und doch schreckhaft. Nur die Weibchen beißen – sie brauchen eine Blutmahlzeit, um Eier zu produzieren. Als die Mücke hier in ZentralEcuador auf Gil landet, hält er einfach still. Der Fotograf hat sechs Aufnahmen fokussiert und in perfekter Symmetrie aufgenommen. Der Biss, muss er zugeben, war für ein so kleines Tier ziemlich schmerzhaft.

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FOTOSTRECKE JÜRGEN FREUND DEUTSCHLAND/AUSTRALIEN HIGHLY COMMENDED/ PLANTS AND FUNGI

Pilzzauber In einer Sommernacht bei Vollmond, nach dem Monsunregen, konnte Jürgen den Geisterpilz auf einem toten Baum im Regenwald in der Nähe seines Hauses in Queensland, Australien finden. Er hatte zwar eine Taschenlampe, um auf dem Weg zu bleiben, aber alle paar Meter schaltete er sie ab, um die Dunkelheit nach dem geisterhaften Leuchten abzusuchen. Seine Belohnung war diese Ansammlung handgroßer Fruchtkörper. Warum der Geisterpilz glüht, ist ein Rätsel, möglicherweise ist das Leuchten ein Nebenprodukt des Stoffwechsels der Pilze. Jürgen kauerte dann mindestens 90 Minuten lang auf dem Waldboden, um acht fünfminütige Aufnahmen zu machen – um das schwache Leuchten einzufangen.

© Jürgen Freund / 2021 / Wildlife Photographer of the Year N °15 °15 // D E Z EM B ER 2021

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Foto: IMAGO / IPON

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Begeisterung, Menschen, Fahnen, – „Schland“: Fußball bleibt ein Residuum von Gefühlen, vor denen die Gesellschaft Angst hat.

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BROT und SPIELE VON GÜNTER SCHOLDT

Black shots (don’t) matter? Oder: Wie politisch ist der Ball? – Unkorrektes über Fußball und „Rassismus“

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ie Fußball-EM haben wir schon seit Langem hinter uns. Aber nachdem Olympia überstanden ist, wartet in Katar schon die WM 2022. The show must go on. Man täusche sich nicht, westliche Postdemokratien brauchen solche Spektakel – sämtlichen offiziell bekundeten Infektionsbedenken zum Trotz. Irgendwas muss ablenken, wenn sich Medizinpolitiker oder politisierende Mediziner vierteljährlich neue „Corona“-Wellen samt Schikanen ausdenken und das gesellschaftlich-wirtschaftlich-rechtsstaatliche Dilemma noch stärker vergrößern. Auch in Spätrom gebot die Staatsraison „Brot und Spiele“. Bevor wieder angepfiffen wird, lohnt ein kurzer Rückblick auf die jüngste EM samt Endspiel, in dessen Folge Englands wie Deutschlands Mainstreammedien erneut Rassismusalarm auslösten. Denn nachdem die schwarzen Stürmer Rashford, Sancho und Saka allesamt vom Elfmeterpunkt aus versagt und damit die britische Niederlage besiegelt hatten, wurden sie im Netz offenbar übel beschimpft. Ich habe die wohl primitiven, ihre Enttäuschung geschmacklos kanalisierenden Tweets nicht gelesen. Man vermittelt uns ihren Wortlaut ja auch allenfalls in Ausschnitten, die dem Anklageschema genügen. Ohnehin interessieren mich solche Rüpeleien nur insoweit, als etliche von ihnen vielleicht auch anders zu klassifizieren sind: jenseits von tatsächlichem (nicht Agenda-definierten) Rassismus bzw. fremdenfeindlichem Apartheitsdünkel. Schließlich gibt es, was Ideologen bewusst vermengen, auch noch allgemeine rivalitätsbedingte (seelisch entlastende) Kollektivaffekte, Proteste gegen eine vielen unfreiwillig aufgestülpte Masseneinwanderung sowie Repliken auf eine unerwünschte Gesinnungsdressur. Doch der Reihe nach, beginnend mit einer Banalität:

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Foto: IMAGO / Plusphoto

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Sie wollen nicht nur spielen … Politik hinter dem Spielraum kommt von den Fans, mal links, mal rechts, gern radikal und immer mit Banner in die Kamera. Masse ist Macht.

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Ob jemand in der Nervenschlacht eines Finales die Kaltschnäuzigkeit besitzt, treffsicher zu verwandeln, ist eine Frage höchster fußballerischer Klasse, aber keine der Ethnie. Der weiße englische Trainer Southgate, der früher einen entscheidenden Elfer verschoss, ist der lebende Gegenbeweis. Aus rein sportlicher Warte hätte ich zwar zu gern gewusst, wie die prekäre Auswahl der Schützen zustande kam, die ich nicht erst als nachträglicher Besserwisser für einen groben taktischen Fehler hielt. Aber um Fußball ging es ja nur peripher, wo solche Turniere zu jeweils 45 % von kommerziellen bzw. globalen Agenda-Anliegen getragen sind. Damit wären wir im Zentrum der Ärgernisse: der dreimal verfluchten Politisierung von Sport. Eigentlich sollte er, besonders bei zunehmender Totalisierung aller Lebensbereiche, die fast jedes Schlupfloch für Privates verstopft, einen Freiraum gewähren gegenüber tagespolitischer Daueragitation. Ruhte doch bekanntlich während der antiken Olympiaden jeder Streit zwischen den Stadtstaaten. Aber diese EM war die politisierteste seit Langem, selbst wo man noch weitergehende Aktionen untersagte. Das Bekenntnis zur Neutralität ist ja ohnehin nur fiktiv, indem man zwar nationalistische Kundgebungen sanktioniert, aber NGO-Ziele zu Menschheitsanliegen erklärt. So können globale Großlobbyisten den Sport immer stärker als ihre ideelle Kampfzone nutzen. (In Deutschland speziell per „Kampf gegen rechts“, eine abgrundtief verlogene parteipolitische Instrumentalisierung unter humanitärem Deckmantel.) Im Sport maßen einst Arm und Reich, Schlau und Dumm je nach Talent und Willensstärke ihre Kräfte – fern von den Kungeleien des öffentlichen Lebens. Im Kampf Mann gegen Mann restituierte sich ein Stück archaischer Welt. Und Fußball wirkte als (durch ReFR E I L I CH


Foto: IMAGO / Matthias Koch

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Das Zentrum der Ärgernisse: die dreimal verfluchte Politisierung von Sport.

geln gemäßigter) Kriegsersatz, was man begrüßen darf, solange Gewaltgrenzen eingehalten wurden. Bei den Schlachtenbummlern prallten Leidenschaften aufeinander, die kurzfristig emotional befreiten und Berufs-, Beziehungs- oder Politstress vergessen ließen. Derbys wie Schalke gegen Dortmund, die zusätzlich polarisierten, zogen daraus ihre Attraktion. Als ich noch regelmäßig (Bundesliga-)Spiele besuchte, respektierte man atmosphärische Unterschiede zum Diplomatenempfang und kalkulierte verbale Entgleisungen ein. Dabei äußerten sich primitive Masseninstinkte in Reinkultur, wobei bei Abstößen das skandierte „Arschloch, Wichser, Hurensohn“ zum Standardkommentar zählte. Manches missfiel mir, und heute, wo mir das viel perfidere Aufpeitschen von Massen durch politische Profiteure täglich vor Augen steht, meide ich Stadionbesuche. Gleichwohl blieb mir ein Restverständnis dafür, dass viele zu solchen Events gehen, um sich in der Öffentlichkeit einmal richtig auszukotzen. So käme mir nie in den Sinn, Schimpfende auf Korrektheit hin zu überwachen. Der Kauf einer Eintrittskarte oder die GEZ-Zwangsgebühr sollte eigentlich die Lizenz zum Pöbeln enthalten, selbst wo ich viele Äußerungen missbillige. Und wenn mir im Fernsehen die politische Schulmeisterei sogenannter Reporter zu penetrant wird, stelle ich den Ton ebenso ab wie in Fällen, wo uns der Staatsfunk eine krächzende Quotenfrau zumutet. In Stadien waren Beschimpfungen des Gegners verbreitet. So hätten die Richtung Oliver Kahn geschleuderten Bananen einen halben Zoo ernährt. Auch (auswärtige) schwarze Spieler waren betroffen. Doch nennenswerter Rassismus war das kaum, der mir übrigens auch als Amateurfußballer in drei Jahrzehnten bis in die 1990er hinein praktisch nicht begegnete. Leistungsträger wie Yeboah (Saarbrücken, Frankfurt) oder Asamoah (Schalke) wurden, als noch niemand N ° 15 / D E Z EM B ER 2021

per gezielter Nachfrage rückblickend Diskriminierungserlebnisse aus ihnen herauskitzelte, von einheimischen Fans heiß geliebt. Dass sich im Zuge der Masseneinwanderung etwas änderte, sei unbestritten. Doch die Motive sind nicht deckungsgleich.

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Deutsche Moralimperialisten – mehr als Moralismus gestattet unsere „Bunte Wehr“ ohnehin nicht – entblödeten sich in München nicht, die ungarische Nation massiv zu beleidigen, und die Regenbogenflagge avancierte fast zur Hauptsache im Ländervergleich, wobei den Deutschen gerade noch ein Remis glückte. Nur sechs Minuten verblieben, sonst wäre die außersportliche Machtdemonstration in Lächerlichkeit erstickt und Löws Truppe wieder in der Vorrunde gescheitert. Ein offenbar regenbogenaffiner Fußballgott verhinderte dies. Doch als im nächsten Spiel „unsere“ Mannschaft in London demütig kniete, folgte verdientermaßen auch die fußballerische Kapitulation. Die Presse schrieb unseren Regenbogenkasper Neuer zum Helden hoch. Doch Sportler gehören jenseits von körperlicher Schinderei nun mal (wie unsere Akademiker, Schriftsteller oder vom Staatsversagen profitierenden Businessmen) zu den angepasstesten Zeitgenossen. Wenn die Blockjournaille ihn oder Goretzka wegen seiner billigen Triumphgeste Richtung Ungarn-Fans nun als mutige Vorbilder preist, kauten die „Helden“ lediglich wieder, was auch sonst aus allen Kanälen schallt. Echte Zivilcourage zeigte eine wirkliche Type wie der Handballer Stefan Kretzschmar, der – einer unter tausend – ungeniert verriet, warum die meisten Sportler nur noch „korrekte“ Sprechblasen absondern. Wer seinen Job oder Werbeverträge behalten wolle, könne sich eigene Ansichten schlicht nicht mehr leisten. Und in der Tat: Die raren Ausnahmen, die man bei forscher Direktheit ertappte, von Mehmet

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K U LT U R Foto: IMAGO / Tim Röhn

Gleichwohl bleibt Restverständnis dafür, dass viele zu Events gehen, um sich öffentlich auszukotzen. Es käme nie in den Sinn, Schimpfende auf Korrektheit hin zu überwachen. Scholl über Jens Lehmann bis Thomas Berthold, spie der Mainstream schnellstens aus.

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Fussbalspielen in Katar ist sicher schön. Die Verhältnisse im Land entsprechen aber nicht ganz den westlichen Standards.

FIFA-WM in Katar 2022

Die Endrunde der Fußballweltmeisterschaft 2022 (englisch: FIFA World Cup Qatar 2022) wird die 22. Austragung des bedeutendsten Turniers für MännerFußballnationalmannschaften sein und soll im Golfstaat Katar ausgetragen werden. 22 M 201 15 M

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Neben der Anti-Ungarn-Kampagne, deren Kritiker man zu Homofeinden versimpelte, beherrschte „Black Lives Matter“ die Szenerie und führte stracks in die Sackgasse des Londoner Endspiels. Zunächst einmal handelt es sich dabei um ein demagogisches Projekt, gesteuert von Multimilliardären, die einen spezifischen Übergriff in den USA ohne jegliches Maß weltweit propagandistisch vermarkten. Dass es dort gelegentlich von Rassenkonflikten beeinflusste Polizeigewalt gibt, dürfte zutreffen. Allerdings belegt die Kriminalstatistik wahrlich keine weiße Kollektivschuld. Denn da schwarze Männer (nur 6,5 % der Bevölkerung) in den USA 52 % aller Morde begehen und 2018 von 2925 getöteten Schwarzen 2600 dieses Schicksal von ihresgleichen erlitten oder zwei Drittel aller gekillten Polizisten Weiße sind, sprechen Zahlen eine andere Sprache. Die so herrisch auf Zustimmung drängende Agenda zielt also vorwiegend auf anderes: auf weltweite Massenimmigration und entsprechende politische Ansprüche. Und pfeifende oder buhende Zuschauer reagierten nicht grundlos auf das ihnen sozial Auferlegte. „Einwanderungsgesellschaften sind Konfliktgesellschaften“, wusste einst noch die Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen. Auch wehren selbstbewusste Zuschauer sich damit gegen die Zumutung eines einseitigen Welt- und Geschichtsbildes, das ein paar fußballspielende Plakatträger vermeintlicher Menschheitsanliegen dreist verbreiten. Im gleichen Atemzug beglaubigen die besonders gefeierten Leistungen schwarzer Sportler (von Pogba über Mbappé bis Sterling) angeblich den gesellschaftlichen Mehrwert jener Bevölkerungsgruppe für die Gastländer. Ein Trugschluss, weil die schnelllebige Glorie eines Titels nichts über das Zusammenleben und die sportliche Integration aussagt. Wer sich dafür interessiert, sollte umgekippte Stadtviertel besuchen oder sich bei Schiedsrichtern diverser Amateurligen erkundigen. Am besten in Abwesenheit ihrer FR E I L I CH


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(wenig solidarischen) Funktionäre, die alles dafür tun, dass die Öffentlichkeit möglichst wenig über Reibungen und Probleme erfährt. Zudem sind Sporterfolge nicht schlicht programmierbar. Und wer diese falsche Karte spielt, wie exemplarisch bei den häufig siegreichen Franzosen, tut das nicht ohne Risiko. Denn auf Siege folgten gerade für die hochgelobte Équipe tricolore, bei der man demnächst wohl eine weiße Quotierung einführen müsste, peinliche Niederlagen oder ethnisch stimulierte Zerwürfnisse innerhalb des Teams. Scheitern aber die vermeintlichen Halbgötter einer besseren Menschheit, so kippt die Stimmung schnell ins Gegenteil, zumal wenn das Versagen scheinbar so klar vor Augen liegt wie im Londoner Endspiel, wo die weißen Elfmeterschützen Kane und Maguire souverän verwandelten, während die schwarzen Spieler sämtlich vergeigten. Das ist – siehe oben! – alberne Aufrechnerei, aber besitzt eben die gleiche Beweiskraft wie im umgekehrten Fall. So verstehe ich die Schadenfreude darüber, dass eine solche Agitation in ihre eigene Falle lief. Dass man den (herzerfrischend ihren Patriotismus bekundenden) italienischen Sängerknaben die Daumen drückte gegenüber den kniefälligen Briten.

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Wo nicht echte Xenophobie im Spiel ist, trafen die Pfiffe diverse einflussreiche Jungmillionäre insofern zu Recht, als sie ganze Nationen zu Demutsgesten und Bekenntnissen nötigen, die auch deshalb verächtlich sind, weil man sie kollektiv mit der erpresserischen Drohung einfordert, sonst oute sich jemand als „Rassist“. Auch gehört Knien in die Kirche und nicht ins Pflichtprogramm zur Festigung eines nicht zu hinterfragenden zivilreligiösen Dogmas. Ein psychisch Gesunder entschuldigt sich nicht für etwas, was er nicht zu verantworten hat. Das war mir schon als Jugendlicher verhasst – dieses „Mach einen Diener!“ vor dubiosen Autoritäten –, und wo man mich dazu nötigte, sammelte ich Gegenargumente, um die Tugendapostel vom sittlichen Podest zu stoßen. Welcher Immigrant hat sich öffentlich dafür entschuldigt, dass im Zuge vom Masseneinwanderung Stadtviertel verheert oder unsicherer wurden, von Bombenanschlägen ganz abgesehen? Ich würde es von ihm auch nicht verlangen. Denn Schuld sollte erstens nur individuell zugerechnet werden und bezeichnet zweitens nicht die richtige Kategorie für ein durch Politromantiker oder -profiteure befördertes soziologisches Dilemma. Schließlich kann der vielen Staaten aufoktroyierte große Menschenaustausch schlechterdings nicht ohne erhebliche Kollateralschäden ablaufen.

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Zugegeben: Auch ich freute mich, dass den Propagandisten eines weißen Masochismus durch einen englischen Sieg kein weiterer Scheinbeweis glückte. Doch mit dem letzten Schuss des Finales war mir gleichzeitig bewusst,

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Tore, Titel, tolle Spiele – Geschäft, Rassismus, Depression. Beide Ebenen gehören zur Welt des modernen Fußballs. Mit seiner sportlichen Intensität begeistert er die Fans rund um den Globus, doch wer Fußball auf höchstem Niveau spielen will, von dem verlangt dieser äußersten Einsatz und Disziplin. Wer diesen Weg wählt, wird sich den Herausforderungen in Leistungszentren und den harten Realitäten des Profidaseins stellen müssen. Philipp Lahm gehörte zu den Besten dieses Sports und hat wie kaum ein Zweiter dessen Sonnen- und Nachtseiten kennengelernt. Nun legt er klar und umfassend, spannend und kompetent seine Sicht auf „das Spiel“ dar. Philipp Lahm Das Spiel. Die Welt des Fußballs C.H. Beck, München 2021. ISBN 978-3-406-75622-1 A € 20,60 / D € 19,95

Im FREILICH-Buchladen erhältlich: freilich-magazin.at/ buchladen

dass das BLM-Imperium zurückschlagen und sich die erwartbare Reaktion im Netz zunutze machen würde. Bereits Shakespeare spottete ja: „Ist es schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ Gerade solche Tweets bewiesen, hieß es schnell, die Notwendigkeit der verlangten Knie-Spektakel. Selbst die britische Innenministerin geriet unter Beschuss, übrigens ihrerseits Tochter asiatischer Einwanderer aus Uganda. Denn sie habe Verständnis dafür gezeigt, dass Zuschauer das Knien vor Spielen durch Buhrufe kommentierten. Auch dies sei purer Rassismus (gemäß Raheem Sterling, der sich in Pauschalbeschuldigung über sein Gastland erging), wie überhaupt, auf eine Kurzformel gebracht: alles, was der BLM-Agenda widerspricht. Wir können daraus wohl folgern, dass das Bußritual noch um Jahre verlängert wird und auch Deutschlands „la Mannschaft“, die zumindest Weltmeisterin im Fremdschämen ist, in Katar erneut die Knie beugt. Für Weiße ist in diesem von publizistischer Dominanz bestimmten Wettbewerb nichts zu gewinnen. Antwortet man auf einen Rassismusvorwurf, indem man ihn in Beziehung zur Provokation setzt oder Beschimpfungen nur als Überreaktion kennzeichnet, ist man genauso böse wie der angebliche Rassist. Zeigt man Verständnis für einen, der (keineswegs arglistig) relativiert habe, ist man eben schuldig zweiten Grades, und wer den wieder in Schutz nimmt, in dritter Instanz. Verständnis in dieser Frage ist grundsätzlich out und verdächtig. Recht hat, wer über die größte Medienmacht verfügt und deren Einsatz bedenkenlos erhöht. Daneben behandelt man jeweilige Verstöße ungleich. Für antiweißen Rassismus gibt es zwar genügend Belege, aber kaum eine Mitteilungsplattform. Und falls sich BLM-Vorzeigehelden danebenbenehmen, eilen postwendend Apologeten herbei, die dies marginalisieren oder hinsichtlich der Schuldfrage umdrehen. Im Halbfinale eine spielentscheidende Sterling-Schwalbe vom dekorierten britischen Antirassismuskämpfer ist medial nur ansatzweise der Rede wert. Kaum Kritisches auch über unseren zum „aggressive leader“ hochgeschriebenen Antonio Rüdiger, den Knochenbrecher im Champions-League-Finale (de Bruyne) oder peinlichen Knabber- oder Lutschknaben als Manndecker gegen Frankreich. Wer bei gerade dieser Unappetitlichkeit – man denke an den „Vorbildcharakter“ der Nationalspieler – schnellstens zur Tagesordnung übergeht, sollte über DFB-Werte nicht sprechen. Zu den widerlichsten Unsportlichkeiten zählt für mich das Anspucken eines Gegners, weshalb mir der Ausfall eines Frank Rijkaard gegen Rudi Völler immer noch vor Augen steht. In der eigenen Fußballpraxis habe ich zwar etliche Fouls eingesteckt und, zugegeben: auch ausgeteilt, aber dergleichen glücklicherweise nie erlebt. Als sich kürzlich Mönchengladbachs Marcus Thuram ebenfalls wie ein Lama benahm, gab es

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Foto: ultrasrapid.at

Foto: Peter Schatz / Alamy Stock Foto

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nur einen kurzen Aufschrei, der jedoch umgehend von einer Fülle verständnisheischender Zeitungsartikel erstickt wurde, die fast die volle Verantwortlichkeit dieses Fußballferkels bestritten. Die gleiche Masche im Rennsport. In Silverstone erwies sich der Lewis Hamilton, nebenberufl ich Leuchtfigur zivilgesellschaft lichen Engagements, auf dessen Kommando hin eine Weltfi rma wie Mercedes ihre sprichwörtlichen Silberpfeile schwarz lackierte, als rücksichtsloser Streckenrüpel. Er rammte, die volle Punktzahl ergatternd, seinen Konkurrenten Verstappen von der Bahn und ins Krankenhaus. Solches Rowdytum ist bei erfolgsgeilen Rennpsychopathen zwar nicht singulär. Auch Verstappen zeigte es schon, und was Senna und Prost auf der Piste miteinander veranstalteten oder Schumacher mit Hill, widerspricht dem Verhaltenskodex für Gentlemen. Doch bei Hamilton fokussierten sich die Schlagzeilen nur kurz auf seine entartete Rivalität. Ausführlicher wurde über rassistische Beschimpfungen im Netz berichtet, was das sportliche Foul zur Nebensache degradiert.

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Warum solches unerquickliche Wühlen im Dreck? Die Doppelmoral einer Agenda erfordert es, wo man nicht sprachlos kapitulieren will. Dabei gab es einst eine Alternative zur heute negativen Sozialpädagogik. Mit Wehmut blicke ich auf Zeiten zurück, in denen Fußball tatsächlich Ethnien einander näher brachte. Wie schwärmten wir Jungs von den Brasilianern, die 1958 in Schweden einen positiven sportlichen Kulturschock auslösten. Noch heute klingen in meinem Gedächtnis Namen wie Didi, Pelé, Vava, Garrincha usw. Ganz ohne erzieherischen Rohrstock waren wir von der athletischen Anmut dieser Spieler gefangen. Desgleichen von der Eleganz der Harlem Globetrotters oder einem Muhammad Ali, dessen Kämpfe wir nachts am Radio oder Fernseher verfolgten. (Nebenbei gesagt: Keiner hat sich einem weißen „Rassismusexperten“ gegenüber so entwaff nend geäußert wie er – ein Lehrstück gegen Toleranzpharisäer: youtu.be/To2gY7CaLT0) Hier überzeugten uns Schwarze spontan durch ihre spielerische Brillanz. Wir brauchten keine (über Schuldkomplexe suggerierten) Aufforderungen, andere Ethnien zu achten. Wir waren längst emotional gewonnen, wollten alle Pelés sein. Diese Epoche ist endgültig passé, und die heutigen Philanthropendarsteller samt Interessenten im Hintergrund reiben sich die Hände, während sie einer tumben Masse einreden, wie viel fortschrittlicher heutige Umerzieher die Dinge angehen. Machtstreben und Heuchelei waren immer schon natürliche Verbündete.

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Was könnte uns aus diesem fatalen Zirkel führen? Denn je mehr wir Rassismus outen, Organisationen und Beauftragte für Rassismusfahndung ersinnen oder Quotenvertreter

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Günter Scholdt geboren 1946 in Mecklenburg, ist habilitierter Literaturwissenschaftler und ehemaliger Leiter des „Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass“ in Saarbrücken. Der ehemalige außerordentliche Professor nennt als Forschungsund Publikationsschwerpunkt u. a. „Aktuelle gesellschaftliche Deformationen und Befindlichkeiten“. scholdt.de

in immer neue Antidiskriminierungsgremien schicken, umso mehr „Rassismus“ werden wir (angeblich) fi nden oder gar produzieren. Eine leicht zu erkennende Self-fullfilling prophecy. Sportverbände sollten daher aufhören, sich ständig als Gouvernanten aufzuspielen, die vermeintlich die ganze Menschheit „retten“. Es wäre schon aller Ehren wert, konfl iktfrei faire Spiele zu garantieren, um dem Sport seine ursprünglich nützliche Funktion zurückzugeben. Für jegliches Übel dieser Welt sind sie nicht verantwortlich, sofern sie es durch ihre Politisierung nicht noch vermehren. Natürlich fehlt mir die Naivität, anzunehmen, dass ausgerechnet diese Anregung aufgegriffen würde. Sportpolitik ist nun mal nicht zuletzt ein Kernfach postdemokratischer Erziehungsdiktaturen. Aber formuliert sei immerhin, dass sich hochgesteckte Integrationserwartungen auf diese Weise schwerlich erfüllen. Der so instrumentalisierte Fußball verbindet nämlich nicht, sondern trennt. Und manchmal kommt mir der Verdacht, dass die Drahtzieher hinter allem genau wissen, was sie mit diesem forcierten Tugendwahn anrichten, zumal sich ihr Moralgeschäft rentiert.

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Einer Nationalmannschaft helfen bestimmte körperliche Fähigkeiten, z. B. von Spielern mit afrikanischen Wurzeln. Sie tun es aber auf Dauer nur dann, wenn berechtigte multikulturelle Ansprüche nicht zur ideologischen Nabelschau pervertieren und den Zusammenhalt eines Teams gefährden. Sonst gelangt jede Aufstellungsentscheidung, jede Medienkritik oder persönliche Rivalität auf ein Forum ständiger (unechter) Rassismusklagen. Dabei gäbe es selbst gegen Häme und Vorurteile ein Zaubermittel, das üble Rufe verstummen lässt: Leistung. Dem Münsteraner Politologen Aladin El-Mafaalani verdanken wir die paradoxe These, erfolgreiche Integration erweise sich durch mehr Konflikte. Wenn das tatsächlich so ist, sollten diese aber nicht im Sinne einer moralisch-anklägerischen Einbahnstraße geführt werden zulasten derjenigen, die „schon immer hier lebten“. Nur Sozialidylliker behaupten, Multikulti sei ein Selbstläufer und entsprechende Differenzen ließen sich auf Knopfdruck beseitigen. Alles andere sei böser Wille. Wo den Autochthonen ein gewisses Maß an Duldung auferlegt wird, darf man von Zuwanderern im Gegenzug eine gewisse Robustheit erwarten. Wenn stattdessen – nicht zuletzt im Jugendbereich – heimische Duckmäuserei auf hypersensible Larmoyanz der „Neudeutschen“ trifft, dient dies im Leben wie im Sport gewiss keinem tragbaren ethnischen Brückenbau. Insofern muss man (nicht ohne Skepsis) abwarten, ob durch eine oder zwei Generationen fußballerische Jugendarbeit tatsächlich etwas zusammenwächst – oder ob die Demografie entscheidet und die Einheimischen in andere Sportarten abwandern.

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INTERVIEW

Foto: Archiv

Da ist ziemlich viel schwarzer Faden auf der Spule … Hafenecker und Jenewein rollen ab.

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FR E I L I CH


INTERVIEW

„Kurz hat System“ BVT- und „Ibiza“-Ausschuss haben tiefe Einblicke in die politische Realität Österreichs gegeben. Christian Hafenecker und Hans-Jörg Jenewein ziehen nun als Autoren am schwarzen Faden.

INTERVIEW: STEFAN JURITZ

FREILICH: Wir sind heute eine Autorenrunde. Zwei Männer, zwei Bücher, und in beiden geht es massiv um österreichische Politik. Herr Hafenecker, was ist Ihr Thema?

Christian Hafenecker: Mein Buch „So sind wir“, das ich gemeinsam mit meinen Kollegen vom Untersuchungsausschuss geschrieben habe, geht im Wesentlichen um die Freilegung des „tiefen Staates“. Die ist uns – denke ich – doch ganz ordentlich geglückt: Wir haben, was eigentlich jeder in der Republik vermutet hat, dass sich die ÖVP ein Zwischengeschoss in der Republik eingezogen hat, also einen sogenannten „tiefen Staat“ unterhält, das haben wir im Untersuchungsausschuss sichtbar gemacht. Und im Buch geht es darum, nachzuzeichnen, wie dieser tiefe Staat entstanden ist bzw. wo er sich überall manifestiert hat, von der Justiz übers Innenministerium bis zum Finanzministerium. Und dann gibt es noch ein Bonusstückerl dazu, da spielt der Herr Bundespräsident eine Rolle. Der ist in diesem tiefen Staat mehr mittendrin, als er nur dabei ist. Auch seine Rolle beleuchten wir in diesem Buch. Herr Jenewein, Ihr Buch titelt: „Der schwarze Faden“. Es geht eigentlich um ein sehr ähnliches Stück Innenpolitik wie bei ChrisN °15 / D E Z EM B ER 2021

tian Hafenecker. Aber Sie waren im BVT-Untersuchungsausschuss, der ja vor dem „Ibiza“-Ausschuss in der letzten Gesetzgebungsperiode getagt hat …

Hans-Jörg Jenewein: Ich war damals schon der Meinung, dass das eigentlich die Vorgeschichte zu all jenem war, was wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben. Dieser BVT-Ausschuss, der eigentlich ursprünglich dazu gedacht war, den damaligen Innenminister Kickl zu stürzen, hat damals schon gezeigt, dass es überhaupt nicht um Herbert Kickl gegangen ist, auch nicht um die FPÖ und nicht so sehr ums BVT an sich, sondern darum, dass sich eine politische Partei, nämlich die Österreichische Volkspartei, den österreichischen Nachrichtendienst zu einem parteipolitischen quasi hergerichtet hat. Über diesen Dienst hat man sich Zugang zu Informationen verschafft: sowohl über politische Mitbewerber wie auch über eigene politische Freunde. Das hat man über die Republik zu stülpen versucht. Das ist im Übrigen keine Erfindung von Sebastian Kurz, das gab es schon wesentlich länger. Nur, der Kurz hat es dann geschafft, innerhalb kürzester Zeit konsequent Schlüsselpositionen mit eigenen türkisen Leuten zu besetzen. Darum geht es bei mir.

Hafenecker: So gesehen bist du eigentlich genau am Puls damit, denn der neue ÖVP-Untersuchungs- … äh, also der Korruptionsuntersuchungsausschuss rankt sich genau um diesen Bereich. Was vor dem „Ibiza“-Untersuchungsausschuss war, zeigt, wie sich die ÖVP in die Institutionen der Republik einzementiert hat. Deshalb ist dein Buch die optimale Ergänzung, ich bin sehr gespannt, was drinsteht. Jenewein: Wir reden zwar viel miteinander, aber scheinbar zu wenig über Buchinhalte. Ich gehe davon aus, dass sich das sehr gut ergänzen wird. Es gibt ja noch einen anderen, den Peter Pilz, der ja ebenfalls ein Buch geschrieben hat über das Kurz-Regime. Nur haben wir zwei nicht die Möglichkeit, dass wir quer durch die deutsche Medienlandschaft getragen werden. Aber uns geht’s um die Republik und um das, was sich im Hohen Haus abspielt. Ich glaube, diese Bücher und das, was wir politisch vorantreiben, kann dazu beitragen, das Wohlwollen der Wählerinnen und Wähler wieder zurückzugewinnen. Der BVT-Untersuchungsausschuss hat sich gegen Kickl gerichtet. Herr Hafenecker, was ist Ihre Kurzbilanz des „Ibiza“-Ausschusses?

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Foto: Franz Perc / Alamy Stock Foto

INTERVIEW

Der beste Schwiegersohn, den Österreich hat, kämpft mit Vorwürfen gegen seine Person und sein türkises Team.

Hafenecker: Die Kurzbilanz ist, dass man eigentlich einen Ausschuss gemacht hat, der letztendlich den politischen Tod der FPÖ einleiten hätte sollen. Das muss man ganz klar sagen, auch wenn es heute anders dargestellt wird. Grundsätzlich war der Ansatz, diese ärgerliche dritte Kraft im Staate endlich weiterzubringen und sozusagen deutsche Verhältnisse herzustellen. Das ist nicht wirklich geglückt. Wir haben zu Beginn des Untersuchungsausschusses gewusst, wir müssen strategisch sichtbar machen, was die ÖVP hinter den Kulissen getrieben hat. Da hatten wir natürlich durch die Arbeit in der gemeinsamen Regierungszeit einen gewissen Einblick gehabt. Wir haben genau gewusst, welche schwarze Fäden die ÖVP gezogen hat, wie es zu Personalentscheidungen gekommen ist und wie man wirklich systematisch die Institutionen des Landes – leider, das muss ich auch ganz ehrlich sagen, im Zuge unserer Regierungsbeteiligung – systematisch besetzt hat. Wir haben leider Gottes vieles aus Koalitionstreue

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abgenickt und dann erst gesehen, wie koalitionstreu die ÖVP am Ende des Tages war. Das heißt, wir haben das System Kurz freigelegt, dazu gehören das Projekt Ballhausplatz, die Kanzlerwerdungsgenese von Sebastian Kurz, dann wie die Fäden ins Finanzministerium verlaufen, wo Thomas Schmid, der unter sehr eigenartigen Umständen in die Position des ÖBAG-Chefs gelangt ist, sichtbar wurde. Thomas Schmid – dafür muss man dankbar sein, vielleicht sollte man ihm einen Orden verleihen – ist auch der eigentliche Chronist dieser ÖVP. Er hat 350.000 Chat-Nachrichten – das muss man sich einmal vorstellen, wie viel das eigentlich ist – für die Nachwelt hinterlassen. Dadurch konnten wir einen Blick durchs Schlüsselloch werfen und sehen, wie das türkise System intern funktioniert hat. Nebenschauplätze hat es natürlich auch gegeben: Wir konnten sehen, warum es der ÖVP wichtig war, die Macht im Innenministerium zurückzuerlangen; wie politisch gestaltet die „SOKO Tape“, die Ermittlungsein-

heit, in dem Zusammenhang gearbeitet hat; wie die „Schredderaffäre“ vertuscht worden ist; wie mit dem „Ibiza“-Video gespielt worden ist, auch mit der Veröffentlichung dieses Videos. Und wie politisiert das Innenministerium ist. Zu guter Letzt haben wir auch noch einen Abstecher in den Bereich der Justiz machen können, Stichwort Skandal um Pilnacek und Brandstätter. Hier wird klar, es gibt eine Zweiklassenjustiz und den Verrat von Hausdurchsuchungen an ÖVP-Günstlinge … All das sind Dinge, die wir freilegen konnten. Dies war auch der Anlass dafür, dass jetzt der neue ÖVP-Korruptionsuntersuchungsausschuss kommt. Der wurde in seinem zeitlichen Umfang insofern erweitert, dass wir sogar die Zeit, in der Sebastian Kurz Außenminister war, mituntersuchen können. In diese Zeit wird noch einmal ein Gutteil von den 350.000 Nachrichten, die es von Thomas Schmid gibt, hineinfallen. Daraus erwarten wir uns schon noch einen Rückschluss darauf, wie die ÖVP die Republik für ihre Zwecke missbraucht hat.


INTERVIEW

„Der moralische Anspruch, den diese ÖVP gern für sich erhebt, ist momentan eher erloschen.“

Hafenecker: Bei uns im Klub ist klar – und es gibt auch einen entsprechenden Beschluss dazu –, es wird keine Zusammenarbeit mit einer ÖVP unter Sebastian Kurz geben. Einfach deswegen, weil sich im Nachlauf zum „Ibiza“Skandal herausgestellt hat, dass wir von der ÖVP vom ersten Tag an getäuscht worden sind. Ich möchte nur erinnern an die Aussage, wir legen dieses Projekt auf mindestens zehn Jahre, auf zwei Perioden an, und auf der anderen Seite tauchen dann Chats von Herrn Schmid auf, wo deutlich drinnen steht, die FPÖ wäre spätestens 2020 ohnehin aus der Regierung gekübelt worden. In diesem Bewusstsein ist diese ÖVP die Koalition eingegangen und hat uns einfach wirklich arglistig getäuscht, das muss man ganz ehrlich sagen. Deshalb kann man mit den Leuten rund um Kurz keinen Staat machen. Und ich meine, ich finde mich da in guter Gesellschaft mit unserem Bundesparteiobmann, der das ebenfalls so sieht. Das heißt, die ÖVP wird sich ändern müssen, wenn es überhaupt in Zukunft in irgendeiner Form Zusammenarbeiten geben soll. Wenn Sie ansprechen, dass diese Regierung den Eindruck gemacht hat, gut zu funktionieren: Ja, den Eindruck hatte ich eigentlich streckenweise auch. Aber die ÖVP hat sich da offensichtlich verspekuliert und Anfang 2019 gemerkt, dass die FPÖ nicht – wie alle anderen ihrer Juniorpartner – schwächer wird in der Koalition. Ich glaube, das war unser Todesurteil. Das heißt nur, jetzt muss einmal die ÖVP ihre Hausaufgaben machen und glaubwürdig nachweisen, wie es die FPÖ sofort gemacht hat, dass sie keine korrupte N °15 / D E Z EM B ER 2021

Gruppe ist. Das wird Arbeit genug sein, und das wird schwer genug werden, da bin ich gespannt … Aber einstweilen sehe ich keine Veranlassung, in irgendeiner Art und Weise auf die ÖVP zuzugehen. Wir erinnern uns genau: Diese Gruppe rund um Sebastian Kurz, die gemeint hat: „Genug ist genug“, hat damals schon genau gewusst, was sie gemacht hat. Sie hat damals schon Umfragen manipuliert, Medien manipuliert, wann es passte. Der moralische Anspruch, den diese ÖVP gern für sich erhebt, ist momentan eher erloschen. Es wird einige Zeit brauchen, um Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Herr Jenewein, als Autor von „Der schwarze Faden“ haben Sie eine ganz besondere Erfahrung gemacht, eine Hausdurchsuchung. Wie ist Ihre persönliche Bilanz dazu? War das eine Begegnung mit dem viel zitierten „tiefen Staat“?

Jenewein: Meine persönliche Bilanz zum Besuch vom Bundeskriminalamt ist, dass das passiert, wenn man zu intensiv gewisse Untiefen dieses tiefen Staates ausleuchtet. Dann wehren sich selbstverständlich gewisse Kräfte. Dazu kommt: Zeugeneinvernahme und Chatnachrichten eines Journalisten – das hat die Polizei bei meiner Hausdurchsuchung überhaupt nicht interessiert, dass ich seit 20 Jahren eingetragenes Mitglied in einer journalistischen Berufsvereinigung bin, dass ich für Medien arbeite. Das Redaktionsgeheimnis war in jenem Moment ausgeschaltet, das funktioniert auch nur in Österreich. In jedem anderen europäischen Staat wäre so ein Vorgehen vollkommen inakzeptabel, würde größte Proteststürme auslösen – in Österreich nicht, weil da hat es ja – unter Anführungszeichen – „den Richtigen“ getroffen, von der richtigen politischen Seite. Unabhängig davon gibt es natürlich auch eine politische Bilanz. Beide Ausschüsse – BVT und „Ibiza“ – waren darauf angelegt, vermeintliche FPÖ-

DAS BUCH

Hans-Jörg Jenewein, Autor und ehemaliger FP-Abgeordneter, kann ein Lied vom schwarzen Staat singen. Der Enthüller hat eine Hausdurchsuchung geschenkt bekommen, weil er sich den BVT-Apparat und dessen politische Einflussnehmer zu genau angeschaut hat. Hans-Jörg Jenewein: Der schwarze Faden Freilich Verlag, Graz 2021. ISBN 978-3-200-08015-7 A € 19,90 / D € 19,90

Foto: Parlamentsdirektion / PHOTO SIMONIS

Die FPÖ hat mit der ÖVP in der Koalition – von außen gesehen – eigentlich gut zusammengearbeitet. Man hat den Eindruck gehabt, dass Schwarz-Blau ein erfolgreiches Modell für das Land sei. Was ist heute die Bilanz? Und was ist die Perspektive für FPÖ und ÖVP?

HANS-JÖRG JENEWEIN war langjähriger

Pressesprecher, acht Jahre lang Landesparteisekretär der FPÖ Wien, neun

Jahre Parlamentarier in

Nationalrat und Bundesrat mit verschiedenen

Sprecherfunktionen (Medien, Inneres, Sicherheit).

derschwarzefaden.at

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INTERVIEW

„Der Faden ist längst kein Faden, sondern ein schwarzer Filz, der dieses Land bedeckt.“

Skandale an die Öffentlichkeit zu bringen oder zu produzieren. Bei beiden ist am Ende relativ klar und deutlich herausgekommen, dass es eben nicht um die FPÖ gegangen ist. Kontinuität ist: Wo immer am Beginn „Der große FPÖ-Skandal“ stand, hat sich am Ende eigentlich stets gezeigt, dass es sich um die Volkspartei und deren Machenschaften handelte: Hypo Alpe Adria, Eurofighter, Kasachstan, der jüngste Bankenskandal im Burgenland … Ich bin sicher kein Zwangsverteidiger der SPÖ, aber wenn man sich anschaut, wer im Aufsichtsrat der Kommerzialbank Mattersburg sitzt, wird man drauf kommen, da sitzen lauter Schwarze. Jeder Skandal dieser Republik der letzten 20 Jahre hat einen Namen, der eigentlich im Titel stehen müsste: jenen der ÖVP. Hafenecker: Das ist der schwarze Faden, der sich durchzieht … Jenewein: … der eigentlich längst kein Faden ist, sondern ein schwarzer Filz, der dieses Land bedeckt und zudeckt. Hafenecker: Noch ein Wort zur Hausdurchsuchung. Das war sicherlich eine Machtgeste des „tiefen Staates“ der ÖVP gegenüber der FPÖ. Und es war auch noch eines: Man wollte wissen, wie weit du mit deinem Buch bist, was du zum BVT sagst … Jenewein: Das Manuskript wurde beschlagnahmt, dazu die Unterlagen und Akten, auf denen das Buch beruht. Hafenecker: Da kommt auch dazu, dass wir gemeinsam immer verlangt haben, dass man sich den Komplex Wirecard näher anschauen muss … Wirecard kurz erklärt: ein Schaden von 35 Milliarden Euro, der angerichtet worden ist in der Bundesrepublik Deutschland. Auf den ersten Blick könnte man sagen: „Was geht das uns an?“ Ganz einfach, die zwei

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Topmanager im Vorstand von Wirecard sind Österreicher, und sie verfügen über sehr gute Verbindungen zu Sebastian Kurz. Der Chef im Wirecard-Untersuchungsausschuss im deutschen Bundestag, Kay Gottschalk, hat gesagt, er habe den Eindruck, dass auf jedem Aktendeckel, den er umgedreht hat, Kurz oder ÖVP draufsteht. Und ich glaube, dass mit der Hausdurchsuchung versucht wurde, einmal abzutesten, wie weit unser Informationsstand in Sachen Wirecard ist … „So sind wir“ als Buchtitel ist eine Paraphrasierung des Herrn Bundespräsidenten. Muss nicht jeder gelernte Österreicher wissen, wie wir sind? Und ist es nicht eine schwarze und eine rote Seite in dieser „illiberalen“ Demokratie, die genau so immer gewesen ist?

Hafenecker: „So sind wir“ ist die Kurzzusammenfassung des Untersuchungsausschusses. Der Bundespräsident hat sich bemüht, mit der Aussage „So sind wir nicht“ darzustellen, dass nur die FPÖ den schlechten Teil der Republik darstellt und alle anderen natürlich moralisch erhaben sind. Der Titel ist so, weil wir im Untersuchungsausschuss herausgearbeitet haben, dass die ÖVP so ist. Grundsätzlich ist es allerdings natürlich ein Thema, das man sich genauer anschauen muss, wie die Parteien nicht nur auf Bundesebene der Republik, sondern auch runtergebrochen auf Länder, wie Landesfürsten in ihren Ländern agieren. Überall muss man schauen, wie sie dort mit landesnahen Betrieben arbeiten, wie die im Sinne von Inseratenkorruption arbeiten, etwa wo Betriebe Inserate schalten, die politische Botschaften transportieren sollen. Und es geht dann auch noch weiter auf die kommunale Ebene, also alles noch einmal im Kleinen … Letztendlich haben wir grundsätzlich ein Problem, dass sich die Politik in unserem Land sehr viel Platz genommen hat

und die meisten Institutionen des Staates zu eigen gemacht hat. Und auch die SPÖ wird nicht umhinkommen, ihre Politik, ihre Medienpolitik in der Stadt Wien etwa zu erklären. Es ist dort das gleiche Modell wie jenes von Sebastian Kurz auf der Bundesebene. Wobei übrigens im Zuge der ÖVP-Kanzlerschaft die monatlichen Inseraten von 1,5 auf 4,2 Millionen Euro angestiegen sind; das heißt verdreifacht, das muss man sich einmal vorstellen. Aber auch in Wien gilt es genauer hinzuschauen. Auch in der Bundeshauptstadt gibt es die landesnahen Betriebe oder jene, die im Eigentum der Stadt Wien sind. Die schalten dann Inserate … Der Herr Sobotka hat uns ja im Brustton der Überzeugung erklärt, zu jedem Inserat gebe es ein Gegengeschäft, das wisse eh jeder. All das passiert in allen politischen Bereichen, und auch die SPÖ wird sich dieser Diskussion nicht entziehen können. Jenewein: Christian hat vollkommen recht. Es gibt vieles, was uns verbindet, eines trennt uns: Er ist im tiefschwarzen Niederösterreich politisch sozialisiert worden, ich im tiefroten Wien. Und beide Bundesländer eint die Politik, dass man sich regionale Medien gefügig macht mit Inseratengeldern. Aus Niederösterreich wissen wir wie, das hat die Sobotka-Geschichte erklärt. Wir wissen das natürlich auch aus Wien, das war schon unter Bürgermeister Helmut Zilk so, dann unter Michael Häupl, dann gerade unter Werner Faymann, der acht Jahre Bundeskanzler der Republik war. Er hat als Wiener Wohnbaustadtrat Millionen und Abermillionen in diverse Medien geschaufelt, um sich eine gute Presse zu erkaufen. Später, als er Verkehrsminister war, kam’s zum großen Skandal, zu Ermittlungen, wo er als Beschuldigter geführt war und allerdings schlussendlich freigesprochen wurde. Und wer war sein Rechtsanwalt? Ein gewisser Brandstätter, der später Justizminister FR E I L I CH


INTERVIEW

Die ÖVP hat mit Sebastian Kurz einen vermeintlichen Saubermann an der Spitze, der als Idealbild des Schwiegersohns eine große Projektionsfläche war, die Zukunftshoffnung für das Land auch damit N °15 / D E Z EM B ER 2021

simulierte, dass sie freiheitliche Werte gekapert hat. Ist die Zeit von Sebastian Kurz vorbei? Oder was ist Ihre Karriereprognose für den ehemaligen Herrn Bundeskanzler?

Hafenecker: Die politische Zeit von Sebastian Kurz ist vorbei. Der einzige, der das nicht weiß, ist er selber, und er klammert sich jetzt noch an die Macht in der ÖVP. Ich weiß aber aus Politikkreisen, dass man sich nicht mehr die Frage stellt, ob Kurz wieder zurückkehrt oder wie, sondern wann man ihn weiterbringt und was man mit ihm macht, sodass die ÖVP sich aus dieser Geiselhaft befreien kann. Ich persönlich glaube, dass die Zwischenmetamorphose vom Bundeskanzler zum Klubobmann bald abgeschlossen sein wird, und dass dann der endgültige Rückzug von Sebastian Kurz aus der Politik feststehen wird. Das ist ein Prozess, der im Hintergrund schon angelaufen ist, er wird noch ein paar Monate benötigen. Im Jahr 2022 wird man keinen Sebastian Kurz im Parlament sitzen sehen, er wird dann weg sein. Die grundsätzliche Frage für die ÖVP ist, wie man aus der Misere herauskommt, wie man mit dem Koalitionspartner weitermacht, wann zündet man Neuwahlen? Ich glaube nach wie vor, dass ein Instrument der ÖVP, den unangenehmen neuen Untersuchungsausschuss weiterzubringen, ein Koalitionsbruch sein wird. Da wird versucht, den Grünen die Schuld für irgendwas zu geben. Dann wird Kurz in einer ersten Phase ausgeschieden werden. Man kann mit einem Menschen, wo man immer damit rechnen muss, dass wieder Neuigkeiten ans Licht kommen, nicht in eine Wahl reingehen. Und ich glaube, dass in einem zweiten Schritt dann irgendwann im Frühling der Neuwahlantrag kommen wird. Wir werden noch vor dem Sommer 2022 wählen.

DAS BUCH

Sebastian Kurz und seine Prätorianer ins Bundeskanzleramt zu bringen und auch dort zu halten, war das Ziel der ÖVP. Letzteres ist bekanntermaßen vorerst gescheitert, die türkise Familie ist in Auflösung begriffen. Christian Hafenecker: So sind wir Frank & Frei, Wien 2021. ISBN 978-3-903236-52-3 A € 19,90 / D € 19,90

Im FREILICH-Buchladen erhältlich: freilich-magazin.at/shop

Foto: Parlamentsdirektion / PHOTO SIMONIS

geworden ist und der im Verdacht steht, mutmaßlich Hausdurchsuchungen verraten zu haben – als Verfassungsrichter. Hier schließt sich ja der Kreis, es ist immer eine verhaberte Partie. In Wahrheit ist Österreich politisch gesehen reduziert auf diesen Großraum Wien – Niederösterreich ist politisch wiederum ein Dorf, da kennt jeder jeden und da müssen natürlich Rote und Schwarze auch immer wieder zusammenarbeiten. Und eine meiner Hypothesen, die ich in meinem Buch auch getroffen habe – und ich glaube, ich liege da nicht so falsch –, ist, dass dieses System des gegenseitigen Kontrollierens so lange funktioniert hat, wie beide Parteien etwa gleich groß waren. Anfang der 2000er-Jahre hat sich die SPÖ offenbar entschieden, in die politische Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Und ab diesem Zeitpunkt hat der Gegenpart zur Volkspartei gefehlt. Die ÖVP hat sich diese Chance nicht entgehen lassen – „Die Roten sind defacto eh abgemeldet“ –, um mit beiden Händen zuzugreifen und zu nehmen, was zu nehmen ist. Genau ab jenem Zeitpunkt ist das instabile Gleichgewicht ins Rutschen gekommen, und seitdem versucht die Volkspartei, zu schalten und zu walten, wie sie möchte. Und das ist das eigentliche Grundproblem. Daraus darf jetzt nicht die falsche Schlussfolgerung gezogen werden, dass ich möchte, dass die SPÖ wieder stärker wird, um ein stabiles Gleichgewicht zu haben. Nein, ich möchte, dass auch die ÖVP in die politische Bedeutungslosigkeit abrutscht. Ich glaube, dass mit keiner der beiden Parteien – weder mit Rot noch mit Schwarz – mit dieser Form von Politik ein Staat zu machen ist.

CHRISTIAN HAFENECKER

ist seit 2013 Abgeordneter zum Nationalrat und war von 2018

bis 2020 Generalsekretär der

FPÖ. Im „Ibiza“-Untersuchungsausschuss stand er der

freiheitlichen Fraktion vor, wo er an der Aufdeckung

zahlreicher Politskandale der jüngeren österreichischen Geschichte federführend mitarbeitete.

Herr Hafenecker und Herr Jenewein, danke für das Gespräch.

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Jetzt wollen Funktionäre Einheit und nicht Einigkeit, Monotonie statt Polyfonie, die Gleichheit der Lebensverhältnisse, des Denkens und Wünschen und Wollens, sie möchten die Freiheit ersticken (…).

Straub EUROPA

LESESTÜCK Das Brüssel-Europa widerspricht sämtlichen europäischen Überlieferungen praktischer Weltklugheit.

Eberhard Straub EUROPA Ein ungesicherter Begriff

Vom Geist und seiner Geschichte in Europa ist nicht mehr die Rede. Eberhard Straub

edition buchhaus loschwitz

ISBN 978-3-9823005-5-9

9 783982 300559 >

Eberhard Straub : Europa. Ein ungesicherter Begriff

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EUROPA. EIN UNGESICHERTER BEGRIFF

LESESTÜCK

AUS DEM BUCH:

Europa im Umbruch Von großen Epochen und einer kleinen Hauptstadt – ein Streifzug durch Europa.

VON EBERHARD STRAUB

Das Ende einer großen Epoche Eines der letzten großen Ereignisse unmittelbar vor Ausbruch des Krieges war die Premiere des Balletts „Josephs Legende“ am 14. Mai 1914 in der Pariser Grand Opéra. Dort traf sich die vornehme Welt Europas und feierte sich als eine gemeinsame große Welt, geprägt von aristokratischen Allüren und bezaubernden Lebensformen. Komponist und Dirigent war der Preußische Generalmusikdirektor Richard Strauss, ein geborener Bayer, die Handlung hatten Graf Harry Kessler aus Weimar, Sohn eines Schweizers und einer Irin, sowie der Österreicher Hugo von Hofmannsthal mit italienischen Vorfahren entworfen. Die Bühnenbilder stammten von dem spanisch-katalanischen Maler José-Maria Sert, verheiratet mit einer der legendärsten Schönheiten, der Misia Sert, einer polnischen Russin mit belgischer Mutter, aufgewachsen in Frankreich, früher die Muse der Maler Henri de ToulouseLautrec und Jean Renoir. Für die Choreografie war der Russe Michel Fokine verantwortlich. Den Joseph tanzte Leonid Mjasin, französisiert Léonide Massine, und Potiphars Weib, das den keuschen Joseph bedrängte,

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die Russin Marie Kussnetzoff, für deren Ruhm die deutsche Firma Rosenthal mit Porzellanfiguren der Tänzerin sorgte. Diese „gute Gesellschaft“, zu der auch die Künstler gehörten, hatte nichts mit heutigen Global Players und Prominenten zu tun. Denn allein der gute Geschmack und elegante Konversation gewährten den Zugang zu diesen die europäische Lebenskultur repräsentierenden Kreisen. Deutsche und Österreicher gehörten noch ganz selbstverständlich dazu. Ein paar Monate später wurden sie allerdings von Briten und Franzosen als neue Hunnen bekämpft und aus der gesitteten Menschheit und deren Zivilisation ausgeschlossen. Beides identifizierten die Westalliierten mit ihrer Kultur und Lebensart. Die Idee des Westens und der Humanisierung durch dauernde Verwestlichung ward den preußischen Militaristen, Junkern und ihrem Zwilling, den österreichischen, katholischen Reaktionären, an Despotien gewöhnt und mit der Freiheit nicht vertraut, schroff entgegengestellt. Selbstverständlich gehörten die Russen, verbündet mit den Westmächten, auf einmal zu den Menschenfreunden

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LESESTÜCK

Die Deutschen staunten. Denn sowohl Briten wie Franzosen hatten früher in den Germanen die Stifter der politischen Freiheit gefeiert.

und Verteidigern der Freiheit. Dabei hatten gerade Briten in ihnen beharrlich finstere Tataren bekämpft, die möglichst aus Europa abgedrängt und auf ein Großfürstentum Moskau beschränkt werden sollten. Die Deutschen staunten. Denn sowohl protestantische Briten wie liberale Franzosen hatten früher in den Germanen die Stifter der politischen Freiheit, eben auch ihrer Freiheit, gefeiert und in den Deutschen der Reformation und später den maßgeblichen Philosophen die großen Befreier zu geistiger Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gewürdigt. Die Deutschen wurden zu ihrer Überraschung nicht mehr als gleichberechtigte Europäer anerkannt. Das war eine Folge des Krieges, mit der sie nicht gerechnet hatten. Denn seit dem Frieden von Münster und Osnabrück 1648 galt der Feind wie im Duell als ein gleichwertiger Partner, mit dem man sich schlug, wenn alle anderen Mittel versagten, um seine Interessen und seine Ehre wie das öffentliche Ansehen zu wahren. Dieses Übereinkommen setzten die Westalliierten außer Kraft. Sie revolutionierten damit den Krieg. Sie führten wie vor 1648 und im Mittelalter einen gerechten Krieg gegen Ungerechte, gegen Unholde, gegen Verbrecher. Die Deutschen wurden kriminalisiert. Britische Berichte über ihre Grausamkeiten im besetzten Belgien übertrafen fast die Schreckensgemälde von türkischen Gräueltaten auf dem Balkan, die 50 Jahre früher der liberale Oppositionsführer Gladstone mit grellen Farben entworfen hatte. Bevor die Deutschen und ihre Verbündeten überhaupt besiegt worden waren, erlitten sie eine moralische Niederlage. Sie wehrten sich entschieden gegen die Unterstellungen ihrer Feinde, mit Verfassungsrechten, der Demokratie und den bürgerlichen Freiheiten sowie den Menschenrechten gar nicht vertraut zu sein. Professoren, Politiker und Journalisten erinnerten in trotzigem Patriotismus daran, dass Monarchie und Parlamentarismus einander in Deutschland ergänzten. War in Frankreich oder Großbritannien das Parlament vor allem der Ort, wo

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die Klassengegensätze aufeinanderprallten, so fügte sich im Deutschen Reich als einer sozialen Monarchie das Parlament in die gesellschaftliche Solidarität, deren Symbol der Kaiser und die anderen Herrscher waren mit ihren Regierungen, die auf die Unterstützung von parlamentarischen Mehrheiten angewiesen waren. In Deutschland hatte sich für dessen Verteidiger der Rechts- und Kulturstaat im Sozialstaat vollendet. Die Deutschen waren deshalb für diese Verteidiger deutscher Vorzüge den kapitalistisch-egoistischen Staaten wie Frankreich und England weit überlegen, weil ihr Reich bourgeoise Eigenwilligkeit erfolgreich entschärfte und das Bürgertum insgesamt einer gesellschaftlichen Ordnung einfügte, die dem Bürger keine bevorzugte Stellung einräumte, in der vielmehr alle Staatsbürger und einander gleich waren. Gerade dieser durch den Staat gewährleistete Ausgleich der Klassen ermögliche eine wahre Freiheit selbsttätiger Mitbestimmung auf vielen Gebieten, wirtschaftlicher Tüchtigkeit, wissenschaftlicher Unabhängigkeit und unbeschränkter künstlerischer Fantasie. Das verschaffte den Deutschen das Ansehen, in dem sie bis vor dem Krieg standen, manchmal beneidet, aber immer anerkannt als unentbehrliches Element der freien Welt, die in Europa sich glänzend manifestierte. Die Verfechter eines deutschen Weges der Freiheit wahrten eine Distanz zur Demokratie und der Tyrannei willkürlicher Mehrheiten mit den naheliegenden Versuchungen, Parteiinteressen zu verabsolutieren, statt das Gemeinwohl dabei aus den Augen zu verlieren. Kurzum, die Deutschen – und auch die meisten Sozialdemokraten unter ihnen – kamen sich den beiden demokratischen Staaten überlegen vor. Sie verstanden gar nicht, warum angebliche demokratische Defizite wie in der Zeit der Religionskriege als Sündenschuld und moralische Unzulänglichkeit bekämpft wurden. Die Moralisierung der Demokratie als innerweltliche Erlösung von sämtlichen Unvollkommenheiten und des Krieges als gerechtes, ja notwendiges Unternehmen, sofern im Namen der Demokratie geführt, galt ihnen als ein Umsturz der herkömmlichen Vorstellungen vom Krieg und seiner Rechtfertigung. Die Deutschen stritten, indem sie ihre Position kämpferisch vertraten, für die alteuropäischen Grundsätze, wie sie seit zweieinhalb Jahrhunderten Gültigkeit besaßen. Ihre Niederlage ist mit dem selbstherrlichen Akt verbunden, europäisches Recht außer Kraft zu setzen und damit das alte Europa als veraltet beiseitezuschieben. Der Friede von Versailles war daher für die besiegten Deutschen so unerträglich, weil sie moralisch infrage gestellt wurden. Der Kaiser sollte als Repräsentant eines kriminellen Volkes als Kriegsverbrecher angeklagt werden und stellvertretend für alle Deut-

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LESESTÜCK

schen wegen Schuld am Krieg und im Krieg bestraft werden. Der Friede bereitete keinen Friedenszustand vor, er war – wie manche Briten sagten – a peace to end all peace. Die Deutschen hatten sich 1918/19 in alle Forderungen gefügt, die mit einem Regimewechsel verknüpft sind. Sie gaben sich eine neue Verfassung, reihten sich beflissen unter die Demokraten ein und übernahmen die westliche Ideologie der Humanisierung durch Verwestlichung. Aber sie mussten gleich feststellen – zu ihrer Enttäuschung –, dass sie damit nicht moralisch gerechtfertigt waren und von den liberalen Siegern als ihresgleichen behandelt wurden. Es waren bürgerlichliberale Sieger, die deutsche Liberale, Bürger und Sozialdemokraten auch weiterhin – in Versailles – aus der Zivilisation ausschlossen, so wie sie diese verstanden. Das radikalisierte nach dem Krieg und nach Versailles deutsche Bürger, aber auch Arbeiter, die nun veranschaulicht bekamen, dass die Demokratie im Solde des Kapitalismus gerade nicht Freiheit und sozialen Frieden ermöglicht und bewahrt. Die moralische Demütigung der Deutschen untergrub das Vertrauen in die westlichen Heilsversprechen, in die eigene Republik und führte 1933 zum Erfolg der NSDAP, die versprach, das deutsche Reich westlicher Bevormundung zu entziehen. Die ungemeine Enttäuschung über die europäischen und amerikanischen Demokraten, die auch ein demokratisches Deutschland als Feind behandelten oder mit erheblichem Misstrauen betrachteten, war keineswegs ein Zeichen deutscher Unbelehrbarkeit oder bornierten nationalen Trotzes. Deutschland war im Kaiserreich tatsächlich zu einer Großmacht geworden – nicht nur wegen militärischer Rüstung und seiner wirtschaftlichen Kraft, sondern eine Großmacht in Kunst und Wissenschaft, die anziehend auf alle Europäer wirkte und viele dazu überredete, hier zu studieren, zu leben und zu arbeiten, um sich mit unzähligen neuen Tendenzen vertraut zu machen. Wäre Deutschland ein Dunkeldeutschland gewesen, dann hätte es damals nicht weltweite Aufmerksamkeit auf sich gelenkt wegen seiner Maler, Musiker und Architekten, wegen seiner Chemiker, Physiker, Philosophen oder Theologen und Juristen. Deutschland und sein Verbündeter Österreich-Ungarn waren das Laboratorium des kommenden Europa, einer nicht mehr bürgerlichen Welt. Hier wurden die Ideen entwickelt, wie eine veraltete Welt verjüngt werden könnte, indem sie sich auf den raschen Wandel in sämtlichen Verhältnissen unverkrampft einließ. Die Veränderungen in der Gesellschaft forderten auch die Politiker heraus und die Soziologen oder Politologen, die ihnen die Umbrüche erklärten, um sie zu befähigen, den neuen Entwicklungen gewachsen zu sein. Ein Prototyp für alle ist Walther Rathenau: Unternehmer, Schrift-

Um 1900 befand sich Europa unter deutscher Anleitung in einem Aufbruch hin zu einer neuen Moderne, über die es die unterschiedlichsten Vorstellungen gab, die aufeinanderprallten oder sich ergänzten.

steller, Mäzen von Künstlern und Architekten, Freund von Schriftstellern, Professoren oder Politikern, ein Praktiker, der als solcher so erfolgreich war, weil als Schöngeist und Kulturphilosoph dauernd von Ideen herausgefordert, um praktische Lösungen für neue Aufgaben zu finden. Alles Neue gefällt, so lautete eine Devise im 11. Jahrhundert, als Europa aufbrach, um sich vollständig zu erneuern und überholte Lebensformen abzuschütteln. Um 1900 befand sich Europa unter deutscher Anleitung ebenfalls in einem Aufbruch hin zu einer neuen Moderne, über die es die unterschiedlichsten Vorstellungen gab, die aufeinanderprallten oder sich ergänzten. Wer über Europas Zukunft nachdachte, musste nach Berlin, Leipzig, München, Wien und Budapest reisen. Mitteleuropa war tatsächlich die Mitte Europas. Im Ersten Weltkrieg ging das bekannte Europa unter. Die Mitte Europas löste sich auf. Europa wurde darüber zu einem völlig ungesicherten Begriff, was zu weiteren Katastrophen führte, deutschen und europäischen. Deutschland mag wieder eine wirtschaftliche Großmacht sein und kann sich einen üppigen Wissenschafts- und Kulturbetrieb leisten, der routiniert vor sich hinschnurrt. Geistige Kräfte gehen nicht von hier aus. Jedenfalls nicht in dem Maße, wie in der Wilhelminischen Epoche, die mitten in Europa eine der glänzendsten war, die es in Deutschland und in Europa gegeben hat.

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LESESTÜCK

Das Sinnbild einer europäischen Stadt Brüssel gehörte einmal zu den schönsten und elegantesten Städten in Europa. Obschon es dort immer noch ehrwürdige Kirchen und vornehme Häuser gibt, beachtliche Ensembles von Straßen und Plätzen, steht es nicht mehr im Rufe, ein Ort urbaner Verheißungen zu sein. Die Bürobauten der EU und der NATO vermitteln mit ihrer Banalität ein Bild erstarrten Lebens, ins Monumentale gesteigert, um von seiner Nichtigkeit abzulenken. Sie künden von der mechanisierten Versteinerung, die Max Weber für die Zukunft erwartete, wenn „Fachmenschen ohne Geist und Genussmenschen ohne Herz“ das Übergewicht erlangen und sich in ihrem Nichts einbilden, „eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben“! Diese Festungen aus abweisendem Glas und einschüchterndem Beton verdeutlichen mit fast gewalttätigem Kraftaufwand, dass die Europäische Union – bar jeder Idee – sich allein mit ihrem prallen Dasein rechtfertigt. Deren monotone Gegenwart widerspricht dem Geist der Stadt Brüssel und der Lebenskraft eines vielgestaltigen Europa, die sich beide im Laufe der Jahrhunderte in mannigfachen Metamorphosen entwickelten. „Es ist Europa der Welt herrliches Antlitz: stolz in Spanien, schön in England, anmutig in Frankreich, klug in Italien, frisch in Deutschland, kraus in Schweden, sanftmütig in Polen, liebreizend in Griechenland und düster in Moskowien“. So beschrieb der Spanier Baltasar Gracián 1651 in seinem Roman „El criticón“ die Einheit in Vielfalt des erstaunlichen Europa, das in den Nationen sein Wesen mit einem jeweils anderen Gesicht zeigt und damit Nuancen seiner immer beweglichen Lebenslust. Belgien mit seiner Hauptstadt Brüssel gehörte damals zur Monarchie der spanischen Casa de Austria und war zugleich ein Teil des Römischen Reiches, dessen Kaiser gewohnheitsmäßig aus dem Hause Österreich stammten. Belgien war also eingebunden in weite Zusammenhänge, denn die beiden Machtblöcke, die durch das Haus Österreich von Kaiser Karl V. miteinander verschränkt worden waren, nahmen die Idee eines einigen Europa schon vorweg. Italien und Belgien, Mailand und Brüssel waren die Säulen, auf denen das spanische Reich in Europa ruhte. Die Spanier, klug gemacht durch die Rebellion der nördlichen und protestantischen Niederlande, respektierten trotz gelegentlich heftiger Reibereien die Freiheiten und Rechte der Belgier genauso wie die Kaiser, die nach dem Aussterben der spanischen Linie ihres Hauses Belgien seit 1713 mit der österreichischen Monarchie vereinigten. Der Partikularismus oder Nationalismus war nie ein Gegensatz zum Universalismus, dem Zusammenschluss mehrerer Staa-

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Dem Pluriversum partikularer Autonomien entsprach ein Pluriversum konkurrierender Reichs- und Ordnungsideen mit ihren Verheißungen einer besonderen Friedensordnung.

ten in einem Reich oder einer „Monarchie“. Seit Karl dem Großen waren Völker in ihrer Eigenart, mit ihren besonderen Rechten, Gewohnheiten, Sprachen und Sitten geschützt von einem Oberherrn, zuerst dem römischen Kaiser, der sie in einer größeren Ordnung aufeinander bezog, deren Würde darin bestand, Eintracht zu stiften, Einigkeit, nicht Einheit. Das konnte später auch der spanische König sein, der französische, oder im Norden der schwedische, der seinen Nachbarn versprach, deren Interessen besser wahrnehmen zu können als andere Herrscher. Dem Pluriversum partikularer Autonomien entsprach ein Pluriversum konkurrierender Reichs- und Ordnungsideen mit ihren Verheißungen einer besonderen Friedensordnung, die durchaus dem Vorteil der Christenheit, des Abendlandes und später eben Europas gelten sollten. Die Teile und das Ganze, das mehr ist als die Summe aller Teile, standen in lebhaftem Austausch. Belgien, am Rande des Heiligen Reiches gelegen, unterhielt immer mit den anderen Randgebieten gute Beziehungen, also mit Lothringen und der Freigrafschaft Burgund bis hinunter nach Savoyen und Piemont und hinüber nach Mailand. Locker gefügt, wie alle Ordnungen im alte Europa, boten solche Verknüpfungen alle möglichen Gelegenheiten, sich etwa mit dem König von Frankreich oder Gegnern des Kaisers im Reich zu verständigen, wenn solche Kombinationen dem regionalen Ehrgeiz nützlich sein konnten. Dies Europa der Sonderformen, die gleichwohl, um überleben zu können, auf umfassendere Gemeinschaften angewiesen waren, befand sich in dauernder Bewegung, wie das individuelle Leben der unerschöpflichen Einzelnen, das sich im Kleinen in freien und überraschenden Lebensbezügen entwickelte. […]

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LESESTÜCK

Als Europäer verstanden sich alle, die dauernd unterwegs waren: die Aristokraten der Geburt und des Geistes, Künstler, Fernhändler oder Abenteurer, die das Wagnis suchten und sich nicht am wärmenden Ofen verhocken wollten. Insofern konnten sich gerade im kleinteiligen, etwas unübersichtlichen Raum städtischer und gräflicher Selbstbestimmung, vieler freier Genossenschaften und bei der Andacht auch vor dem unscheinbarsten Eigentum wahre Europäer bilden, weil wie in Brüssel auf vielfache Weise mit den wichtigen Städten im engeren oder weiten Europa verbunden. Es sei nur an einen der größten Maler erinnert, an den Flamen Peter Paul Rubens, einen Künstler, der in Rom, Madrid und London zu Hause war, einen Humanisten, der Latein wie Italienisch mühelos sprach und schrieb und der als gründlicher Kenner klassischer Historiker wie Livius und Tacitus – ein politischer Kopf im Verständnis damaliger Zeiten – auch für diplomatische Aufgaben vom spanischen König 1629 eingesetzt werden konnte, um zum Wohle Europas und auch Belgiens eine spanisch-englische Annäherung vorzubereiten. Der europäische Geist gerade in einer kleineren Residenz, die sich im Einverständnis mit einer großen Macht befand, aber auch an ihren begrenzten Interessen beharrlich festhielt und deshalb auf eine gewisse Beweglichkeit und Unabhängigkeit achtete, empfahl Brüssel nach den Katastrophen im 20. Jahrhundert als idealen europäischen Ort. […] Brüssel lag auf altrömischen Boden, es gehörte zum fränkischen Reich Karls des Großen, zum mittelalterlichen großen Lothringen, zu Burgund, das zwischen Frankreich und dem Reich zeitweise eine eigene Welt bildete, zwischen beiden vermittelnd, und über das Haus Österreich dennoch in dessen Gegensatz zu Frankreich hineingezogen wurde. Belgien bewahrte sich seine Freiheiten im Heiligen Römischen Reich, es wurde von den Großmächten nach dem gewaltsamen Anschluss an das revolutionäre Frankreich 1815 mit den Niederlanden vereint, von denen es sich 1830 wieder löste. Die Erinnerungen an die hergebrachte Selbstständigkeit verlangten ihr Recht. Als spanische und österreichische Niederlande blieben weite raumübergreifende Traditionen lebendig. 1839 für neutral erklärt, sollte das Königreich der Belgier eine besondere Funktion im Konzert der europäischen Mächte erfüllen, nämlich, um den allgemeinen Frieden vor grundsätzlichen Erschütterungen zu bewahren, in Übereinstimmung mit England und Preußen Frankreich davon abzuhalten, sich Belgien abermals unterzuordnen. In diesem Sinne fassten auch nach den Katastrophen die alten Europäer, die an ein neues Europa dachten, Belgien als ein ideales europäisches Land auf, im 19. Jahrhundert auch von einem großherzigen Liberalismus geprägt, der keinen Kulturkampf mit der

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katholischen Kirche führte. So konnten christliche Demokraten, wie sie sich nach 1945 in Europa zusammenfanden, gerade in Belgien ein Modell für ihre erhoffte Symbiose von Partikularismus und Universalismus, von Eigenart und Versöhnung alles Besonderen im gemeinsamen Europa würdigen. Keiner dachte bei der Gründung der EWG 1957 an eine Gleichheit der Lebensverhältnisse, der Rechtsgewohnheiten, des Denkens und des Fühlens, an eine totale Wertegemeinschaft total Gleicher. Das beziehungsreiche Brüssel glich dem Wechselspiel der Atome in der Großplastik des Atomiums, während der Weltausstellung von 1958 errichtet. Diese Stadt konnte damals als Unterpfand der Freiheit vieler Eigenwilligkeiten mit ihrem Élan vital gelten, also einer nie versiegenden Lebenslust, in der sich die europäische Freude am anderen herzbezwingend äußerte. Von dieser Begeisterung ist nichts mehr übrig geblieben. Brüssel ist zum Symbol einer antihistorischen und antieuropäischen Homogenisierung der Verschiedenheiten geworden, die im anderen, in jeder europäischen Abweichung von der Norm, die nun in Brüssel von sogenannten Europäern festgelegt wird, ein abweichendes Verhalten missbilligt, das dringend durch Erziehungsmaßnahmen korrigiert werden muss. Eine Besinnung auf das historische Brüssel der Eigenheiten in wechselnden europäischen Gemeinschaften ist nicht „europafeindlich“. Im Gegenteil, sie verhilft den Europäern dazu, nicht jeweilige Normierungsschwächen beflissen zu überwinden, sondern sich als wahre Europäer zu verstehen, gerade weil alle sich unterscheiden und im Anderssein des Nächsten eine ungemeine Verwandtschaft ahnen.

Von dieser Begeisterung ist nichts mehr übrig geblieben. Brüssel ist zum Symbol einer antieuropäischen Homogenisierung geworden.

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PORTRAIT Foto: Archiv

Eberhard Straub wurde 1940 in Berlin geboren. Seine journalistischen Stationen umfassen u. a. „FAZ“, „Stuttgarter Zeitung“ und „Welt“.

Kämpfer für eine Renaissance Der Kunsthistoriker, Archäologe und Geschichtswissenschafter Eberhard Straub hängt einer Welt nach, die vergangen scheint. Angesichts eines dem Untergang geweihten Abendlandes wehrt sich der ehemalige Feuilletonredakteur der „FAZ“ gegen die Ökonomisierung des Lebens.

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ine effiziente okzidentale Überlebensstrategie und eine Wiederherstellung des geistigen Begriffes „Europa“ kann nach Eberhard Straub nur über eine auf tiefgreifender Bildung gründende authentische Belebung des Kulturraumes Europa stattfinden. Doch Hans Magnus Enzensbergers sanftes Monster Brüssel zeigt aktuell ein ganz anderes Gesicht als das von Straub geschilderte, vom Geiste Europas durchwehte. Nichts erläutert das besser als der atmosphärische Eindruck, den Michael Stabenow wiedergibt: „Tritt man an diesem Morgen aus den spärlich beleuchteten Katakomben des Brüsseler Schuman-Bahnhofs ins Freie, ist man zumindest vorgewarnt. Stetig tropft Wasser aus der Decke in einem am Aus-

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gang stehenden Eimer. Nach einem Schlenker um den gut gefüllten Behälter geht es, im strömenden Regen, viele Treppen hinauf. Die Rolltreppe steht seit Monaten still und dient mittlerweile als Sammellager für Papier, Dosen und Zigarettenkippen. Willkommen im Herzen des Brüsseler EU-Viertels.“ Die Schilderung Stabenows stammt aus dem Dezember 2010. Der seelenlose, chaotisch-schmuddelige Gesamteindruck der belgischen Metropole hat sich allenfalls über die europafernen Veränderungen, wie im Brüsseler Stadtviertel Molenbeek mit seinem hohen Bevölkerungsanteil an Muslimen, deutlich sichtbar noch verstärkt. 2010 war allerdings auch das Jahr, in dem Straubs Essay „Zur Tyrannei der Wer-

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PORTRAIT

te“ erstmals erschien. Benedikt Kaiser bewertete 2019 die Neuausgabe des Buches im Jungeuropa Verlag als wichtigen Beitrag zur grundlegenden „Neujustierung (neu-)rechter Denk- und Handlungsweisen für die heterogene ‚Mosaik-Rechte‘“ und sah den Autor als kontemplativen Forscher und geistreichen Analysten gegenwärtiger Zustände „in einer nur selten erreichbaren Brillanz“. Straub, der auch als Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft arbeitete und „als universalgebildeter Europäer par excellence“ in deutscher wie romanischer Kunst- und Völkergeschichte zu Hause ist, verrät in seinen Schriften besonderen Bezug auf und wesentliche Prägung durch Carl Schmitt. „Zur Tyrannei der Werte“ sei – so Kaiser – als substanzielle Vervollständigung von Schmitts „Tyrannei der Werte“ zu lesen: „Straub schreibt an gegen die Totalökonomisierung des Lebens in einer durch und durch ökonomischen ‚Werten‘ folgenden Gesellschaftsform.“ Für Eberhard Straub heißt die Neuzeit „nicht zuletzt so, weil sie unter dem Druck des ruhelosen, ganz der wechselnden Aktualität ausgelieferten Marktes ständig neuer Dinge begierig ist und sich über Novitäten und Innovationen davon überzeugen muss und kann, nicht zu stagnieren oder zu veralten. Alles Alte ‚erledigt sich selbst und von selbst in dem wissenschaftlich-technischindustriellen Prozess-Progress, der das Alte entweder – nach dem Maß neuer Verwertbarkeit – verwertet oder als unverwertbar ignoriert oder als störenden Unwert vernichtet‘, wie Carl Schmitt feststellte. Die Freiheit büßt unter solchen Bedingungen ihre politische Bedeutung ein.“ Kein Geringerer als Alexander Gauland zeigte sich 2010 im „Deutschlandfunk Kultur“ als Kritiker von „Zur Tyrannei der Werte“ leicht ungnädig. „Man muss nicht gleich wie Eberhard Straub von einer Tyrannei der Werte sprechen“, meinte das damalige Noch-CDU-Mitglied Gauland, „doch auf die Nerven kann einem das fortwährende Gerede von den Werten schon gehen, zumal eben keiner so richtig zu erklären vermag, welche Werte wir am Ende verteidigen sollen. Doch leider tut das auch Straub nicht. […] Nun hat es Straub in vielen seiner Bücher in guter konservativer Manier mit dem Sein statt mit dem Haben. Und auch hier scheint er das Sein, die Würde des Menschen, gegen das Haben von Werten, also die Ökonomisierung des angeblich Idealischen verteidi-

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gen zu wollen.“ Womit die zu verteidigenden Werte allerdings angedeutet scheinen. Im Kapitel über die „Wesensfreiheit des Marktes“ heißt es bei Straub, dass Goethe, Schiller, Hegel oder Marx „in der Bildung zu allgemeiner Menschlichkeit die höchste Bestimmung des Menschen [sahen], der der Humanisierung bedürfe, um nicht nur, von sich entfremdet, Berufsmensch und Leistungsträger zu bleiben. […] Alle Bildung sollte Charakterbildung sein […]. Geschmackvoll, besonnen, schön, so sollte sich auch in bürgerlicher Zeit die sieghafte Freiheit des Menschen von allen materiellen Zwängen und Zwecken äußern.“ Doch gegen Ende zeigt sich auch Alexander Gauland versöhnlich und stellt völlig richtig fest: „Straub hat recht, wenn er den Werten in der Politik misstraut. Er hat unrecht, wenn sein Misstrauen nur die jüngste Zeit umfasst. Die angebliche Tyrannei der Werte hat eine ziemlich lange Geschichte.“ Die laut „Zeit“ von 2011 angeblich aufs „Altmodischste marxistisch getönte“ Schrift Straubs reiht sich indes in eine ganze Reihe von Publikationen ein. Der Fleiß des „Abendlanddenkers“ scheint unerschöpflich. Heute ist Straub unter anderem Autor des von Götz Kubitschek verantworteten Theorieorgans „Sezession“ und als Vortragender etwa beim Institut für Staatspolitik und im KulturHaus Loschwitz zu erleben. Der Vorwurf, sich altmodisch marxistisch zu äußern, dürfte einen Souverän wie Straub kaltlassen. Er erklärte dazu, dass Marx sich nicht mit Handreichungen ökonomischer Vereinseitigung zufriedengab: „Irgendwann sollte der Mensch doch in die Rechte seiner Majestät gesetzt werden, zweckfrei ganz sich selber anzugehören […]. Denn der Aufstieg vom Bürger über den Menschen zum Endverbraucher lässt sich wunderbar vereinen mit der Renaturalisierung des Menschen.“ So jedenfalls Eberhard Straubs Hoffnung. Und Ortega y Gasset, sicher freiwilliger marxistischer Nähe unverdächtig und auch Zitatespender in „Zur Tyrannei der Werte“, meinte in „Auf bau und Verfall einer Nation“ 1920: „Die Krise des europäischen Lebens spielt sich in so verborgenen Seelenschichten ab, daß kein Krieg bis zu ihnen hinunterreichen kann und selbst der ungeheuerlichste und verbissenste über die kranken Tiefen nur leicht dahinstreicht. […] Noch heute hat Europa nicht mit seiner Wiederherstellung begonnen.“

Straub gilt „als universalgebildeter Europäer par excellence“, der in der deutschen wie romanischen Kunst- und Völkergeschichte zu Hause ist.

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Foto: volkerpreusser / Alamy Stock Foto

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In Wien dreht sich alles ums Riesenrad. Naja, im Roman von Rudolf Preyer vielleicht nicht …

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enn man August Ruhs, Wiener Psychoanalytiker, Glauben schenken darf, gelten Kreis und Girlande in Wien als kürzeste Verbindungen zwischen zwei Punkten. Der Professor sah zur Jahrhundertwende „Phantasmen des Untergangs und Bestrebungen des Aufbruchs – besonders in Wien“, ein Aufeinanderprallen von zwei Welten, einer untergehenden und einer aufkommenden. Vielleicht gilt auch in das Folgezentennium hinein, dass sich die sozialen Entwicklungen Wiens in einer typischen Figur darstellen: jener des Kreises und Einkreisens. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls das neue Buch von Rudolf Preyer, doch zieht die Schicksalskurve der Familie Gottmann schlussendlich wieder nach oben. Obwohl man die Protagonisten herzlich unsympathisch und alle Klischees bestätigt finden mag, siegen durch die Gottmanns doch so etwas wie Gerechtigkeit und der Antrieb zur Selbstverteidigung. Der Verlag schreibt: „Ein fetziger Roman, absurd, rasant, voller Klischees! Die Gottmanns (typisches Wiener Bürgertum,

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Villa und Landhaus, zwei Kinder, moderner Wohlstand) sind auf Zack, sollen trotzdem ausgeraubt werden und müssen plötzlich schießen. Und sonst? Es wird geschossen, gefochten, gegrillt, tätowiert, geliebt, gedealt und gechattet – mal nichts Schweres halt.“ Dem ist hinzuzufügen: Die Wiener Boshaftigkeit, die unwissende Entspanntheit in den Untiefen des Lebens suggeriert, aber nur eine genervte Fatalismusvariante ist, prägt auch Preyer und seine Schreibkunst. Er schrieb schon über die Mitbegründerin der APA Elisabeth Thury Sätze wie: „Geboren als serbische Fürstentochter kam sie relativ bald in den Verdacht Giftmorde begangen zu haben, und zwar an der Gattin des Bruders des Kardinal Piffel. Genau so später an der Gattin eines Verlegers. Dann wurde sie Journalistin für bedeutende Wiener Zeitungen […] und später auch für ausländische Nachrichtenagenturen.“ Möglich, dass Wolf Wondratschek wegen dieser Wiener Einsichten gegenwärtig vorwiegend in Wien lebt. Der ’68er-Poet, der Marcel Reich-Ranicki mit „einem seiner Lieblingsthemen“ auf die Nerven ging („[er]

redet und schreibt gern und oft über Nutten und Bordelle“), widmet sich auch fachkundig dem Boxsport. Der gebürtige Weinviertler Preyer treibt es ähnlich und macht aus seiner Liebe zum Wrestling keinen Hehl; er gibt das Fachmagazin „In de Goschn“ heraus. Außerdem arbeitete der Journalist und Autor mehrerer Kriminalromane als Theaterregisseur und Produzent und war nach eigenen Angaben jüngster Theaterintendant Österreichs. Preyer gibt nicht nur sich, sondern auch anderen eine Chance und ist Geschäftsführer des Wiener Heftiger Verlages.

Rudolf Preyer Fall und Aufstieg der Familie Gottmann Verlag Antaios, Steigra 2021, 197 Seiten ISBN 978-3-949041-11-2 A € 16,50 / D € 16,00

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BÜCHER

Vom Händereiben ohne Desinfektion

„Corona“ wirkt wie jede Krisensituation als Katalysator für Spannungen innerhalb der Gesellschaft und die Kontrollsucht der Herrschenden, daran besteht kein Zweifel. Um nicht überrumpelt zu werden, bedarf es der Analyse: Cui bono? Und wie geht es nun mit uns weiter? Die historisch bewährte Fragestellung lautet: Was tun? Benedikt Kaiser: Corona und Profit. Gewinner und Verlierer der Krise Verein für Staatspolitik, Steigra, 2021, 96 Seiten, € 7,20

Das letzte Aufgebot, einmal mehr

Historiker Hardinghaus setzt in sozialen Medien befragte Teenager publizistisch ebenso um wie Greise aus der Erlebnisgeneration – oft zu Standardthemen wie Antisemitismus und NS-Zeit. Muss man nicht „gewohnt mutig“ (Verlag) finden. Interessant wird es zusammengelesen mit Maschkes „Verschwörung der Flakhelfer“. Christian Hardinghaus: Die verlorene Generation Europa Verlag, München, 2021, 344 Seiten, € 20,60

Das schwarze Gold ist lästig geworden

Klimawandel! Der Ausstieg aus den fossilen Energien versteht sich scheinbar von selbst. Kaum jemand weiß aber um die Bedeutung der Erschließung des Energieträgers Kohle für die Entwicklung der modernen Zivilisation. Sieferles historisches Pionierwerk – nach 40 Jahren endlich wieder verfügbar und lesenswerter denn je! Rolf Peter Sieferle: Der unterirdische Wald. Energiekrise und Zivilisation Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Lüdinghausen, 2021, 410 Seiten, € 49,40

Wert gegen (Gemein-)Wohl

„Wer vom Populismus sprechen will, darf über den Liberalismus nicht schweigen“? Nun denn. Für „Neurechte“ steht wie für ihre Vordenker die Wurzel allen Übels fest: „der Liberalismus“. Aber – warum eigentlich? Alain de Benoist, seit 60 Jahren zentraler Theoretiker des europäischen Milieus, hat 2019 dazu ein Grundlagenwerk veröffentlicht, das nun endlich in deutscher Übersetzung vorliegt und in Erstauflage schon vor Erscheinen fast ausverkauft war: Da erklärt ein beinahe 80-Jähriger, wie es mit Robotik und künstlicher Intelligenz weitergehen wird, und zeigt die Veränderungen der Arbeitswelt dadurch glasklar auf. Wirtschaftswunder-Rechte dies- wie jenseits des Rheines sind indes damit beschäftigt, zu murren, dass Kritiker von Marktideologie und egoistischer Freiheit nicht „echt rechts“, sondern vielmehr Linke seien. Benoists Kapitalismus- und Liberalismuskritik aber hat die Sinnfälligkeit auf ihrer Seite, ebenso wie einen je nach eigener Sicht mehr oder minder kathartischen Ausblick: „Was aus dem Geld entstanden ist, wird durch Geld untergehen.“ 15 / D E Z EM B ER 2021

Alain de Benoist Gegen den Liberalismus. Die Gesellschaft ist kein Markt Jungeuropa Verlag, Dresden 2021, 412 Seiten, A € 30,90 / D € 30,00

Kreuzweg Krieg Christen verweigerten vor allem in den Anfängen ihrer Geschichte jede militärische Gewalt. Erst unter dem römischen Kaiser Konstantin begann, was manche für den Sündenfall der Kirche halten: „der Flirt mit dem römischen Staat“, wie Manfred Lütz schreibt, denn „mit Totalpazifismus war kein Staat zu machen“. Auch heute stehen Christen angesichts etlicher Kriege, Konflikte und des religiös fanatisierten Terrorismus vor der Frage der Wehrhaftigkeit und Selbstverteidigung. Christoph Rohde belegt in „Das Kreuz und der Krieg“, dass die katholische Lehre dazu höchst spannende Antworten liefert. „Linke Wange, rechte Wange“ war einmal, denn nach Rohde sind die Appelle, zivile Lösungen zu suchen, häufig verantwortungslos, wenn nicht gar heuchlerisch. Mit seinem Buch legt er ein Plädoyer für einen realistischen Zugang zum Phänomen gewaltsamer Auseinandersetzungen vor. Die Beurteilung der politischen Wirklichkeit habe der christlichen Anthropologie zu folgen und sich illusionslos der Sündhaftigkeit und der immanenten Konfliktträchtigkeit der Welt zu stellen, so der promovierte Politologe. Der Kirche misst Rohde deshalb eine besondere Rolle bei Friedensprozessen zu. Schließlich trug sie in den eingangs erwähnten Frühzeiten auch zur Humanisierung des römischen Staates bei. Von Augustinus’ Konzept des „Gerechten Krieges“ über die „Zwei-ReicheLehre“ Luthers bis hin zu vatikanischer Diplomatie und kirchlichen Friedensinitiativen der Gegenwart erhält der Leser profunden Einblick in Theorie und Praxis des katholischen Umganges mit Krieg und Frieden. Dabei geht der Autor auch auf zahlreiche aktuelle Problemfelder ein, etwa den „Islamischen Staat“ oder den Drohnenkrieg. Abschließend formuliert er zehn Grundpfeiler einer realistischen katholischen Friedensethik. Christoph Rohde: Das Kreuz und der Krieg Lepanto, Rückersdorf 2021. 368 Seiten, A € 19,10 / D € 18,50

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Bücher zur Zeit Freilich-Buchladen Spannende Zeiten brauchen eine kritische Lektüre. Wir lesen die Gegenwart gegen den Strich und stellen Bücher bereit, die zeigen, wo die Bruchstellen sind. Die aber auch Lesefutter für Zukunftswillige sind. Denn nach Neujahr geht es weiter. Lesen bildet nicht nur, es kann auch widerständig machen.

Bendikt Kaiser: Solidarischer Patriotismus

Martin van Creveld: Wir Weicheier

John Hoewer: EuropaPowerbrutal

Ares Verlag, Graz 2017 224 Seiten ISBN 978-3-902732-67-5 A € 19,00 / D € 19,90

Jungeuropa, Dresden 2021 360 Seiten ISBN 978-3-948145-12-5 A € 18,50 / D € 19,00

Heinrich Sickl: Das Lob der Grenze

Irfan Peci: Wider die Islamisten

Hans-Jörg Jenewein: Der Schwarze Faden

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KOLUMNE

Das Letzte (15):

Eines Morgens bin ich erwacht, Oh Schöne, ciao! Schöne, ciao! Schöne, ciao, ciao, ciao! Eines Morgens bin ich erwacht, Und ich traf auf den Feind.

Martin Lichtmesz wurde 1976 in Wien geboren. Nach Jahren in Berlin lebt er inzwischen wieder in seiner Heimat und arbeitet als freier Publizist.

Die liberale

In unserem Buch „Mit Linken leben“, erschienen 2017 am Höhepunkt der „rechtspopulistischen“ Welle, versuchten Caroline Sommerfeld und ich die „Spaltung der Gesellschaft“ zu analysieren, die damals in aller Munde lag. Niemals hätten wir uns träumen lassen, dass es noch viel, viel schlimmer kommen würde. Trotz des Titels haben wir diese gesellschaftliche Spaltung in unserem Buch nicht direkt anhand der Linien „links“ und „rechts“ im streng politologischen Sinne festgemacht. Als die drei wesentlichen „Bruchlinien“ erschienen uns: 1. Vertrauen vs. Misstrauen in etablierte Politik und Leitmedien, wie wir auch überhaupt im „Vertrauensverlust“ den „Kern der Polarisierung“ sahen; 2. Realismus vs. Utopismus; 3. Globalismus vs. Partikularismus. Die aktuelle Spaltung durch die Corona-Politik weist frappante Parallelen auf. Zwar haben sich neue Schnittmengen gebildet, aber einige Muster sind gleich geblieben: Praktisch das gesamte rechte Spektrum steht heute im Lager der „Maßnahmenkritiker“ und auf der Seite der individuellen Freiheit, während das linke Spektrum überwiegend Lockdowns, Maskenpflicht oder Impfzwang befürwortet, ja zum Teil fanatisch einfordert. Das ist eine etwas seltsame Wendung der Geschichte, standen doch historisch gesehen die Konservativen eher für hierarchische, autoritäre Gesellschaftsordnungen, während die Linken danach trachteten, Individuen und Klassen zu „emanzipieren“, ein Bestreben, das in der Regel rasch in sein dialektisches Gegenteil, den Jakobinerstaat und den egalitären Kollektivismus, umschlug. Auf der anderen Seite pappt das herrschende System seinen Kritikern das altbewährte Feindetikett auf: „Querdenker“ und „Verschwörungstheoretiker“, egal aus welcher Ecke sie kommen, werden pauschal mit einem „rechten“ Ruch belegt. Körperliche Selbstbestimmung, Einforderung von Grundrechten, Misstrauen in die „Experten“, „informierte Einwilligung“, Zweifel am grenzenlosen Wohlwollen von Bourla, Schwab und Gates, Kritik an „ImpfApartheid“ – das alles ist jetzt „rechtsextrem“ und „demokratiefeindlich“. Auf der anderen Seite ist „Corona“, kristallisiert und zugespitzt in der Impffrage, neben dem Antirassismus, dem LGBTKult und dem Klimaschutz zum weiteren fi xen Glaubenssatz der Linken geworden. Auch hier treffen unsere Analysen aus dem Jahr

2017 ziemlich genau zu: Impffanatismus ist eine „Klassendistinktion“, die der Erhöhung des sozialen Status und dem „virtue signalling“ (der „Tugendprahlerei“) dient; das Versagen der Impf-„Utopie“ (analog zum Versagen der Multikulti-Utopie) gebiert Ressentiments und den Zwang, nach Sündenböcken zu suchen. Kryptoreligiös Corona-Gläubige sind gleich den Linken „Komplizen des Globalismus“, die die Vorhut einer technokratischen Weltregierung bilden. Identisch sind auch die diskursiven Methoden, derer sie sich bedienen, um sachlichen Argumenten auszuweichen, allen voran das „Gaslichtern“, eine besonders bösartige Form der Manipulation, die darauf abzielt, dem anderen die eigenen Wahrnehmungen auszureden. Damit eng verbunden ist der Hang der Linken zur psychologischen Projektion, den wir zum „Lichtmesz-Sommerfeld-Gesetz“ zuspitzten: „Alles, was Linke über Rechte sagen, schreiben, denken, trifft immer und ausnahmslos auf sie selber zu.“ Man könnte es etwa so adaptieren: „Alles, was Maßnahmenfanatiker über Maßnahmenkritiker sagen, schreiben, denken, trifft immer und ausnahmslos auf sie selber zu.“ Der frühere Ärztekammerpräsident Frank Ulrich Montgomery lieferte das klassische Beispiel, als er von einer „Tyrannei der Ungeimpften“ sprach, um die Tyrannei gegen die Ungeimpften zu rechtfertigen. Der Maßnahmenfanatiker gibt den „Maßnahmenverweigerern“ die Schuld, dass „die Pandemie“ nicht endet, während es in Wahrheit seine eigene Gefügigkeit ist, die den Alptraum ins Unendliche verlängert. Als Leitartikler oder politischer Wortführer gibt er sich „solidarisch“ und humanistisch, während er einem Drittel der Bevölkerung den Entzug der Grundrechte oder gar den Tod an den Hals wünscht. Er hält den Maßnahmenkritiker für einen paranoiden „Schwurbler“, während er selber in ständiger Virenpanik lebt, sich trotz „Vollimmunisierung“ und FFP2-Maske von Ungeimpften bedroht fühlt. Er glaubt, „die Wissenschaft“ auf seiner Seite zu haben, während er nur Propagandaphrasen wiederkäut. Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Selbst wenn der Corona-Spuk eines Tages vorbeigehen sollte, wird er dauerhafte Spuren der Zerrüttung hinterlassen. Die liberale Demokratie liegt in ihren letzten Zügen, aufgelöst in einer Hirnpest aus Angst, Desinformation und Infantilisierung. Ein neues totalitäres Zeitalter ist angebrochen.

Demokratie liegt in

ihren letzten Zügen, aufgelöst in einer

Hirnpest aus Angst,

Desinformation und Infantilisierung.



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Kolumne: Das Letzte

3min
pages 103-104

Bücher

6min
pages 100-102

Kämpfer für den alten Kontinent

4min
pages 98-99

Europa im Umbruch

14min
pages 92-97

Brot und Spiele

15min
pages 78-85

Kurz hat System“

15min
pages 86-91

Die große Enteignung

11min
pages 62-65

Dänen lügen nicht

18min
pages 50-61

Der kommende Konservatismus

26min
pages 34-43

Die vertriebene rechte Intelligenz

19min
pages 22-31

Editorial

2min
page 3

Der Waldgang

3min
pages 32-33

Bei mir schrillen die Alarmglocken …“

28min
pages 10-21

Frisch gekeult

13min
pages 44-49

Impressum

1min
page 5

Kurz & bündig aktuelle Neuigkeiten

3min
pages 8-9
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