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Europa im Umbruch

AUS DEM BUCH: EUROPA. EIN UNGESICHERTER BEGRIFF LESESTÜCK

Von großen Epochen und einer kleinen Hauptstadt – ein Streifzug durch Europa.

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VON EBERHARD STRAUB

Das Ende einer großen Epoche

Eines der letzten großen Ereignisse unmittelbar vor Ausbruch des Krieges war die Premiere des Balletts „Josephs Legende“ am 14. Mai 1914 in der Pariser Grand Opéra. Dort traf sich die vornehme Welt Europas und feierte sich als eine gemeinsame große Welt, geprägt von aristokratischen Allüren und bezaubernden Lebensformen. Komponist und Dirigent war der Preußische Generalmusikdirektor Richard Strauss, ein geborener Bayer, die Handlung hatten Graf Harry Kessler aus Weimar, Sohn eines Schweizers und einer Irin, sowie der Österreicher Hugo von Hofmannsthal mit italienischen Vorfahren entworfen. Die Bühnenbilder stammten von dem spanisch-katalanischen Maler José-Maria Sert, verheiratet mit einer der legendärsten Schönheiten, der Misia Sert, einer polnischen Russin mit belgischer Mutter, aufgewachsen in Frankreich, früher die Muse der Maler Henri de ToulouseLautrec und Jean Renoir. Für die Choreogra e war der Russe Michel Fokine verantwortlich. Den Joseph tanzte Leonid Mjasin, französisiert Léonide Massine, und Potiphars Weib, das den keuschen Joseph bedrängte, die Russin Marie Kussnetzo , für deren Ruhm die deutsche Firma Rosenthal mit Porzellan guren der Tänzerin sorgte.

Diese „gute Gesellscha “, zu der auch die Künstler gehörten, hatte nichts mit heutigen Global Players und Prominenten zu tun. Denn allein der gute Geschmack und elegante Konversation gewährten den Zugang zu diesen die europäische Lebenskultur repräsentierenden Kreisen. Deutsche und Österreicher gehörten noch ganz selbstverständlich dazu. Ein paar Monate später wurden sie allerdings von Briten und Franzosen als neue Hunnen bekämp und aus der gesitteten Menschheit und deren Zivilisation ausgeschlossen.

Beides identi zierten die Westalliierten mit ihrer Kultur und Lebensart. Die Idee des Westens und der Humanisierung durch dauernde Verwestlichung ward den preußischen Militaristen, Junkern und ihrem Zwilling, den österreichischen, katholischen Reaktionären, an Despotien gewöhnt und mit der Freiheit nicht vertraut, schro entgegengestellt. Selbstverständlich gehörten die Russen, verbündet mit den Westmächten, auf einmal zu den Menschenfreunden

Die Deutschen staunten. Denn sowohl Briten wie Franzosen hatten üher in den Germanen die Sti er der politischen Freiheit gefeiert.

und Verteidigern der Freiheit. Dabei hatten gerade Briten in ihnen beharrlich nstere Tataren bekämp , die möglichst aus Europa abgedrängt und auf ein Großfürstentum Moskau beschränkt werden sollten.

Die Deutschen staunten. Denn sowohl protestantische Briten wie liberale Franzosen hatten früher in den Germanen die Sti er der politischen Freiheit, eben auch ihrer Freiheit, gefeiert und in den Deutschen der Reformation und später den maßgeblichen Philosophen die großen Befreier zu geistiger Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gewürdigt. Die Deutschen wurden zu ihrer Überraschung nicht mehr als gleichberechtigte Europäer anerkannt.

Das war eine Folge des Krieges, mit der sie nicht gerechnet hatten. Denn seit dem Frieden von Münster und Osnabrück 1648 galt der Feind wie im Duell als ein gleichwertiger Partner, mit dem man sich schlug, wenn alle anderen Mittel versagten, um seine Interessen und seine Ehre wie das ö entliche Ansehen zu wahren.

Dieses Übereinkommen setzten die Westalliierten außer Kra . Sie revolutionierten damit den Krieg.

Sie führten wie vor 1648 und im Mittelalter einen gerechten Krieg gegen Ungerechte, gegen Unholde, gegen Verbrecher. Die Deutschen wurden kriminalisiert. Britische Berichte über ihre Grausamkeiten im besetzten Belgien übertrafen fast die Schreckensgemälde von türkischen Gräueltaten auf dem Balkan, die 50 Jahre früher der liberale Oppositionsführer Gladstone mit grellen Farben entworfen hatte. Bevor die Deutschen und ihre Verbündeten überhaupt besiegt worden waren, erlitten sie eine moralische Niederlage. Sie wehrten sich entschieden gegen die Unterstellungen ihrer Feinde, mit Verfassungsrechten, der Demokratie und den bürgerlichen Freiheiten sowie den Menschenrechten gar nicht vertraut zu sein. Professoren, Politiker und Journalisten erinnerten in trotzigem Patriotismus daran, dass Monarchie und Parlamentarismus einander in Deutschland ergänzten. War in Frankreich oder Großbritannien das Parlament vor allem der Ort, wo die Klassengegensätze aufeinanderprallten, so fügte sich im Deutschen Reich als einer sozialen Monarchie das Parlament in die gesellscha liche Solidarität, deren Symbol der Kaiser und die anderen Herrscher waren mit ihren Regierungen, die auf die Unterstützung von parlamentarischen Mehrheiten angewiesen waren. In Deutschland hatte sich für dessen Verteidiger der Rechts- und Kulturstaat im Sozialstaat vollendet.

Die Deutschen waren deshalb für diese Verteidiger deutscher Vorzüge den kapitalistisch-egoistischen Staaten wie Frankreich und England weit überlegen, weil ihr Reich bourgeoise Eigenwilligkeit erfolgreich entschär e und das Bürgertum insgesamt einer gesellscha lichen Ordnung einfügte, die dem Bürger keine bevorzugte Stellung einräumte, in der vielmehr alle Staatsbürger und einander gleich waren. Gerade dieser durch den Staat gewährleistete Ausgleich der Klassen ermögliche eine wahre Freiheit selbsttätiger Mitbestimmung auf vielen Gebieten, wirtscha licher Tüchtigkeit, wissenscha licher Unabhängigkeit und unbeschränkter künstlerischer Fantasie. Das verscha e den Deutschen das Ansehen, in dem sie bis vor dem Krieg standen, manchmal beneidet, aber immer anerkannt als unentbehrliches Element der freien Welt, die in Europa sich glänzend manifestierte. Die Verfechter eines deutschen Weges der Freiheit wahrten eine Distanz zur Demokratie und der Tyrannei willkürlicher Mehrheiten mit den naheliegenden Versuchungen, Parteiinteressen zu verabsolutieren, statt das Gemeinwohl dabei aus den Augen zu verlieren. Kurzum, die Deutschen – und auch die meisten Sozialdemokraten unter ihnen – kamen sich den beiden demokratischen Staaten überlegen vor. Sie verstanden gar nicht, warum angebliche demokratische De zite wie in der Zeit der Religionskriege als Sündenschuld und moralische Unzulänglichkeit bekämp wurden.

Die Moralisierung der Demokratie als innerweltliche Erlösung von sämtlichen Unvollkommenheiten und des Krieges als gerechtes, ja notwendiges Unternehmen, sofern im Namen der Demokratie geführt, galt ihnen als ein Umsturz der herkömmlichen Vorstellungen vom Krieg und seiner Rechtfertigung. Die Deutschen stritten, indem sie ihre Position kämpferisch vertraten, für die alteuropäischen Grundsätze, wie sie seit zweieinhalb Jahrhunderten Gültigkeit besaßen. Ihre Niederlage ist mit dem selbstherrlichen Akt verbunden, europäisches Recht außer Kra zu setzen und damit das alte Europa als veraltet beiseitezuschieben.

Der Friede von Versailles war daher für die besiegten Deutschen so unerträglich, weil sie moralisch infrage gestellt wurden. Der Kaiser sollte als Repräsentant eines kriminellen Volkes als Kriegsverbrecher angeklagt werden und stellvertretend für alle Deut-

schen wegen Schuld am Krieg und im Krieg bestra werden. Der Friede bereitete keinen Friedenszustand vor, er war – wie manche Briten sagten – a peace to end all peace.

Die Deutschen hatten sich 1918/19 in alle Forderungen gefügt, die mit einem Regimewechsel verknüp sind. Sie gaben sich eine neue Verfassung, reihten sich be issen unter die Demokraten ein und übernahmen die westliche Ideologie der Humanisierung durch Verwestlichung. Aber sie mussten gleich feststellen – zu ihrer Enttäuschung –, dass sie damit nicht moralisch gerechtfertigt waren und von den liberalen Siegern als ihresgleichen behandelt wurden. Es waren bürgerlichliberale Sieger, die deutsche Liberale, Bürger und Sozialdemokraten auch weiterhin – in Versailles – aus der Zivilisation ausschlossen, so wie sie diese verstanden.

Das radikalisierte nach dem Krieg und nach Versailles deutsche Bürger, aber auch Arbeiter, die nun veranschaulicht bekamen, dass die Demokratie im Solde des Kapitalismus gerade nicht Freiheit und sozialen Frieden ermöglicht und bewahrt. Die moralische Demütigung der Deutschen untergrub das Vertrauen in die westlichen Heilsversprechen, in die eigene Republik und führte 1933 zum Erfolg der NSDAP, die versprach, das deutsche Reich westlicher Bevormundung zu entziehen. Die ungemeine Enttäuschung über die europäischen und amerikanischen Demokraten, die auch ein demokratisches Deutschland als Feind behandelten oder mit erheblichem Misstrauen betrachteten, war keineswegs ein Zeichen deutscher Unbelehrbarkeit oder bornierten nationalen Trotzes. Deutschland war im Kaiserreich tatsächlich zu einer Großmacht geworden – nicht nur wegen militärischer Rüstung und seiner wirtscha lichen Kra , sondern eine Großmacht in Kunst und Wissenscha , die anziehend auf alle Europäer wirkte und viele dazu überredete, hier zu studieren, zu leben und zu arbeiten, um sich mit unzähligen neuen Tendenzen vertraut zu machen.

Wäre Deutschland ein Dunkeldeutschland gewesen, dann hätte es damals nicht weltweite Aufmerksamkeit auf sich gelenkt wegen seiner Maler, Musiker und Architekten, wegen seiner Chemiker, Physiker, Philosophen oder eologen und Juristen. Deutschland und sein Verbündeter Österreich-Ungarn waren das Laboratorium des kommenden Europa, einer nicht mehr bürgerlichen Welt. Hier wurden die Ideen entwickelt, wie eine veraltete Welt verjüngt werden könnte, indem sie sich auf den raschen Wandel in sämtlichen Verhältnissen unverkramp einließ. Die Veränderungen in der Gesellscha forderten auch die Politiker heraus und die Soziologen oder Politologen, die ihnen die Umbrüche erklärten, um sie zu befähigen, den neuen Entwicklungen gewachsen zu sein. Ein Prototyp für alle ist Walther Rathenau: Unternehmer, Schri steller, Mäzen von Künstlern und Architekten, Freund von Schri stellern, Professoren oder Politikern, ein Praktiker, der als solcher so erfolgreich war, weil als Schöngeist und Kulturphilosoph dauernd von Ideen herausgefordert, um praktische Lösungen für neue Aufgaben zu nden.

Alles Neue gefällt, so lautete eine Devise im 11. Jahrhundert, als Europa aufbrach, um sich vollständig zu erneuern und überholte Lebensformen abzuschütteln. Um 1900 befand sich Europa unter deutscher Anleitung ebenfalls in einem Aufbruch hin zu einer neuen Moderne, über die es die unterschiedlichsten Vorstellungen gab, die aufeinanderprallten oder sich ergänzten. Wer über Europas Zukun nachdachte, musste nach Berlin, Leipzig, München, Wien und Budapest reisen. Mitteleuropa war tatsächlich die Mitte Europas. Im Ersten Weltkrieg ging das bekannte Europa unter. Die Mitte Europas löste sich auf. Europa wurde darüber zu einem völlig ungesicherten Begri , was zu weiteren Katastrophen führte, deutschen und europäischen. Deutschland mag wieder eine wirtscha liche Großmacht sein und kann sich einen üppigen Wissenscha s- und Kulturbetrieb leisten, der routiniert vor sich hinschnurrt. Geistige Krä e gehen nicht von hier aus. Jedenfalls nicht in dem Maße, wie in der Wilhelminischen Epoche, die mitten in Europa eine der glänzendsten war, die es in Deutschland und in Europa gegeben hat.

Um 1900 befand sich Europa unter deutscher Anleitung in einem Aufbruch hin zu einer neuen Moderne, über die es die unterschiedlichsten Vorstellungen gab, die aufeinanderprallten oder sich ergänzten.

Das Sinnbild einer europäischen Stadt

Brüssel gehörte einmal zu den schönsten und elegantesten Städten in Europa. Obschon es dort immer noch ehrwürdige Kirchen und vornehme Häuser gibt, beachtliche Ensembles von Straßen und Plätzen, steht es nicht mehr im Rufe, ein Ort urbaner Verheißungen zu sein. Die Bürobauten der EU und der NATO vermitteln mit ihrer Banalität ein Bild erstarrten Lebens, ins Monumentale gesteigert, um von seiner Nichtigkeit abzulenken. Sie künden von der mechanisierten Versteinerung, die Max Weber für die Zukunft erwartete, wenn „Fachmenschen ohne Geist und Genussmenschen ohne Herz“ das Übergewicht erlangen und sich in ihrem Nichts einbilden, „eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben“! Diese Festungen aus abweisendem Glas und einschüchterndem Beton verdeutlichen mit fast gewalttätigem Kraftaufwand, dass die Europäische Union – bar jeder Idee – sich allein mit ihrem prallen Dasein rechtfertigt. Deren monotone Gegenwart widerspricht dem Geist der Stadt Brüssel und der Lebenskraft eines vielgestaltigen Europa, die sich beide im Laufe der Jahrhunderte in mannigfachen Metamorphosen entwickelten. „Es ist Europa der Welt herrliches Antlitz: stolz in Spanien, schön in England, anmutig in Frankreich, klug in Italien, frisch in Deutschland, kraus in Schweden, sanftmütig in Polen, liebreizend in Griechenland und düster in Moskowien“. So beschrieb der Spanier Baltasar Gracián 1651 in seinem Roman „El criticón“ die Einheit in Vielfalt des erstaunlichen Europa, das in den Nationen sein Wesen mit einem jeweils anderen Gesicht zeigt und damit Nuancen seiner immer beweglichen Lebenslust. Belgien mit seiner Hauptstadt Brüssel gehörte damals zur Monarchie der spanischen Casa de Austria und war zugleich ein Teil des Römischen Reiches, dessen Kaiser gewohnheitsmäßig aus dem Hause Österreich stammten. Belgien war also eingebunden in weite Zusammenhänge, denn die beiden Machtblöcke, die durch das Haus Österreich von Kaiser Karl V. miteinander verschränkt worden waren, nahmen die Idee eines einigen Europa schon vorweg.

Italien und Belgien, Mailand und Brüssel waren die Säulen, auf denen das spanische Reich in Europa ruhte. Die Spanier, klug gemacht durch die Rebellion der nördlichen und protestantischen Niederlande, respektierten trotz gelegentlich he iger Reibereien die Freiheiten und Rechte der Belgier genauso wie die Kaiser, die nach dem Aussterben der spanischen Linie ihres Hauses Belgien seit 1713 mit der österreichischen Monarchie vereinigten. Der Partikularismus oder Nationalismus war nie ein Gegensatz zum Universalismus, dem Zusammenschluss mehrerer Staaten in einem Reich oder einer „Monarchie“. Seit Karl dem Großen waren Völker in ihrer Eigenart, mit ihren besonderen Rechten, Gewohnheiten, Sprachen und Sitten geschützt von einem Oberherrn, zuerst dem römischen Kaiser, der sie in einer größeren Ordnung aufeinander bezog, deren Würde darin bestand, Eintracht zu sti en, Einigkeit, nicht Einheit. Das konnte später auch der spanische König sein, der französische, oder im Norden der schwedische, der seinen Nachbarn versprach, deren Interessen besser wahrnehmen zu können als andere Herrscher.

Dem Pluriversum partikularer Autonomien entsprach ein Pluriversum konkurrierender Reichs- und Ordnungsideen mit ihren Verheißungen einer besonderen Friedensordnung, die durchaus dem Vorteil der Christenheit, des Abendlandes und später eben Europas gelten sollten. Die Teile und das Ganze, das mehr ist als die Summe aller Teile, standen in lebha em Austausch. Belgien, am Rande des Heiligen Reiches gelegen, unterhielt immer mit den anderen Randgebieten gute Beziehungen, also mit Lothringen und der Freigrafscha Burgund bis hinunter nach Savoyen und Piemont und hinüber nach Mailand. Locker gefügt, wie alle Ordnungen im alte Europa, boten solche Verknüpfungen alle möglichen Gelegenheiten, sich etwa mit dem König von Frankreich oder Gegnern des Kaisers im Reich zu verständigen, wenn solche Kombinationen dem regionalen Ehrgeiz nützlich sein konnten.

Dies Europa der Sonderformen, die gleichwohl, um überleben zu können, auf umfassendere Gemeinschaften angewiesen waren, befand sich in dauernder Bewegung, wie das individuelle Leben der unerschöp ichen Einzelnen, das sich im Kleinen in freien und überraschenden Lebensbezügen entwickelte. […]

Dem Pluriversum partikularer Autonomien entsprach ein Pluriversum konkurrierender Reichs- und Ordnungsideen mit ihren Verheißungen einer besonderen Friedensordnung.

Als Europäer verstanden sich alle, die dauernd unterwegs waren: die Aristokraten der Geburt und des Geistes, Künstler, Fernhändler oder Abenteurer, die das Wagnis suchten und sich nicht am wärmenden Ofen verhocken wollten. Insofern konnten sich gerade im kleinteiligen, etwas unübersichtlichen Raum städtischer und grä icher Selbstbestimmung, vieler freier Genossenscha en und bei der Andacht auch vor dem unscheinbarsten Eigentum wahre Europäer bilden, weil wie in Brüssel auf vielfache Weise mit den wichtigen Städten im engeren oder weiten Europa verbunden. Es sei nur an einen der größten Maler erinnert, an den Flamen Peter Paul Rubens, einen Künstler, der in Rom, Madrid und London zu Hause war, einen Humanisten, der Latein wie Italienisch mühelos sprach und schrieb und der als gründlicher Kenner klassischer Historiker wie Livius und Tacitus – ein politischer Kopf im Verständnis damaliger Zeiten – auch für diplomatische Aufgaben vom spanischen König 1629 eingesetzt werden konnte, um zum Wohle Europas und auch Belgiens eine spanisch-englische Annäherung vorzubereiten. Der europäische Geist gerade in einer kleineren Residenz, die sich im Einverständnis mit einer großen Macht befand, aber auch an ihren begrenzten Interessen beharrlich festhielt und deshalb auf eine gewisse Beweglichkeit und Unabhängigkeit achtete, empfahl Brüssel nach den Katastrophen im 20. Jahrhundert als idealen europäischen Ort. […]

Brüssel lag auf altrömischen Boden, es gehörte zum fränkischen Reich Karls des Großen, zum mittelalterlichen großen Lothringen, zu Burgund, das zwischen Frankreich und dem Reich zeitweise eine eigene Welt bildete, zwischen beiden vermittelnd, und über das Haus Österreich dennoch in dessen Gegensatz zu Frankreich hineingezogen wurde. Belgien bewahrte sich seine Freiheiten im Heiligen Römischen Reich, es wurde von den Großmächten nach dem gewaltsamen Anschluss an das revolutionäre Frankreich 1815 mit den Niederlanden vereint, von denen es sich 1830 wieder löste. Die Erinnerungen an die hergebrachte Selbstständigkeit verlangten ihr Recht. Als spanische und österreichische Niederlande blieben weite raumübergreifende Traditionen lebendig. 1839 für neutral erklärt, sollte das Königreich der Belgier eine besondere Funktion im Konzert der europäischen Mächte erfüllen, nämlich, um den allgemeinen Frieden vor grundsätzlichen Erschütterungen zu bewahren, in Übereinstimmung mit England und Preußen Frankreich davon abzuhalten, sich Belgien abermals unterzuordnen. In diesem Sinne fassten auch nach den Katastrophen die alten Europäer, die an ein neues Europa dachten, Belgien als ein ideales europäisches Land auf, im 19. Jahrhundert auch von einem großherzigen Liberalismus geprägt, der keinen Kulturkampf mit der katholischen Kirche führte. So konnten christliche Demokraten, wie sie sich nach 1945 in Europa zusammenfanden, gerade in Belgien ein Modell für ihre erho e Symbiose von Partikularismus und Universalismus, von Eigenart und Versöhnung alles Besonderen im gemeinsamen Europa würdigen. Keiner dachte bei der Gründung der EWG 1957 an eine Gleichheit der Lebensverhältnisse, der Rechtsgewohnheiten, des Denkens und des Fühlens, an eine totale Wertegemeinscha total Gleicher.

Das beziehungsreiche Brüssel glich dem Wechselspiel der Atome in der Großplastik des Atomiums, während der Weltausstellung von 1958 errichtet. Diese Stadt konnte damals als Unterpfand der Freiheit vieler Eigenwilligkeiten mit ihrem Élan vital gelten, also einer nie versiegenden Lebenslust, in der sich die europäische Freude am anderen herzbezwingend äußerte.

Von dieser Begeisterung ist nichts mehr übrig geblieben. Brüssel ist zum Symbol einer antihistorischen und antieuropäischen Homogenisierung der Verschiedenheiten geworden, die im anderen, in jeder europäischen Abweichung von der Norm, die nun in Brüssel von sogenannten Europäern festgelegt wird, ein abweichendes Verhalten missbilligt, das dringend durch Erziehungsmaßnahmen korrigiert werden muss. Eine Besinnung auf das historische Brüssel der Eigenheiten in wechselnden europäischen Gemeinscha en ist nicht „europafeindlich“. Im Gegenteil, sie verhil den Europäern dazu, nicht jeweilige Normierungsschwächen be issen zu überwinden, sondern sich als wahre Europäer zu verstehen, gerade weil alle sich unterscheiden und im Anderssein des Nächsten eine ungemeine Verwandtscha ahnen.

Von dieser Begeisterung ist nichts mehr übrig geblieben. Brüssel ist zum Symbol einer antieuropäischen Homogenisierung geworden.

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