FREILICH Ausgabe 16

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POLITIK

Interview: Manfred Haimbuchner, Landeshauptmann-Stellvertreter, über die Zukunft der FPÖ. S. 10 GESELLSCHAFT

Kurz danach Der VP-Nachwuchspolitiker ist weg. Wie geht es jetzt weiter? S. 18 E S S AY

Des Menschen Wolf Kampfbegriff neu: „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. S. 26

DAS MAGA ZIN FÜR SELBSTDENKER

SCHWERPUNKT

Der Kampf um die Ukraine ist zum Krieg eskaliert. Eine Nation kämpft gegen die Angreifer.

Die Freiheit führt das Volk Reise nach Kiew – FREILICH am Weg in eine umkämpfte Stadt S. 46

Ausgabe No. 16 / 2022

freilich-magazin.at � Ö & DE: € 13,00 / CHF 13,00

APRIL 2022


Dr. Wilfried Hartwagner

Facharzt für Unfallchirurgie und Sporttraumatologie „Der Mensch ist für mich ein Gesamtkunstwerk, bei dem jeder operative Eingriff zur Vollkommenheit beitragen muss.“ Durch meine 15-jährige Aktivität im Spitzensport als Florettfechter (Staatsmeister, Mitglied der Nationalmannschaft, Weltcupmannschaft und des Kaders für die olympischen Spiele in Barcelona 1992) habe ich ein tiefes Verständnis sowohl für die Anforderungen im Hochleistungs- als auch im Hobbysport. Dadurch bin ich auch in der Lage, für meine Patienten individuelle Therapikonzepte in Abstimmung auf ihre sportlichen Herausforderungen zu erarbeiten.

Verletzungen des Knies - insbesondere der vordere Kreuzbandriss - sind mein Spezialgebiet. Neben der Kreuzbandrekonstruktion setze ich wo immer möglich die Kreuzband erhaltende Methode der arthroskopischen Kreuzbandnaht ein. Ich bin Österreichs erfahrenster Sportchirurg in der Kreuzband erhaltenden Chirurgie - und das mit überragendem Erfolg. Gemeinsam mit einigen wenigen Kollegen aus der Schweiz und Deutschland gelte ich weltweit als Opinion Leader auf diesem Gebiet.

Ich freue mich darauf, auch Sie schnell wieder fit zu machen! Ärztezentrum prophy docs, Brunngasse 3, 8010 Graz Ordinationszeiten: Montag & Mittwoch Dienstag & Donnerstag Freitag

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Während der Ordinationszeiten freut sich mein Sekretariat unter der Telefonnummer 0316/424398 auf Ihre Terminvereinbarung. Oder vereinbaren Sie einen Termin ganz einfach auf meiner Website.

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EDITORIAL

Werte Leser! Z

u paraphrasieren ist übliches Handwerk in der Schreibwerkstatt. Autoren bedienen sich der Wiederholung bereits verfasster Gedanken im eigenen Stil. Sie geben dabei wieder, was andere Gescheite oder Gescheitere schon einmal dachten. Überhaupt soll journalistische Wahrnehmung erst durch soziale Verifi kation mit anderen möglich werden – so Wolfgang Donsbach. Was der Kommunikationswissenschaftler das Konzept der Shared reality nennt, führt zur Rezeption von Thomas Fasbenders luzider Einschätzung 2014: „Kosovo, Krim, Ukraine, Baltikum, NATO-Erweiterung, Eindämmungspolitik … Die Argumente sind alle bekannt und durchgekaut. Beide Seiten sind überzeugt, im Recht zu sein. Und so wird das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen immer mehr zu einer Geschichte unerfüllter Hoffnungen und Illusionen – auf beiden Seiten.“

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nd Antaios-Verleger Götz Kubitschek meint aktuell: „Wir müssen das alles zurückweisen: dieses ganze Gefühlige, diese verlogene Verbrüderung mit der einen oder der anderen Seite, die romantische Beteiligung an einem Kampf, der 2000 Kilometer von uns entfernt nicht nur nachempfunden, sondern tatsächlich ausgetragen wird. Wer dort kämpft, wendet an, was er kann oder rasch noch lernen muß, und es wird von Tugenden getragen, die den Deutschen ausgetrieben wurden, und es ist das Gegenteil von dem, was hierzulande einen Mann ausmachen soll.“ Stattdessen sei „kühle Scham“ als angemessene Haltung einzunehmen: unter anderem „Scham darüber, die Regierung zu haben, die wir verdienen, also seit Jahrzehnten von einer Bande Gesinnungsethiker regiert zu werden und dies nicht verhindert zu haben“. Seine Stellungnahme führt uns die Ursachen des totalen deutschen Desasters vor Augen, das der konservative Roland Tichy freundlich umschreibt: „Im Ergebnis ist Deutschland führungslos, richtungslos, hilflos. Seine classe politique wirkt derangiert, wirr, un-

Meine Leseempfehlungen:

U LR ICH NOVA K Chefredak teur

fähig, unwillig.“ Eine Einschätzung, die haargenau auch auf Österreich passt. Churchills Wunsch nach unfruchtbaren, satten, feigen Deutschen scheint wahr geworden. Es zeigen sich angesichts der europäischen Entwicklung die Früchte seiner Vision. Erhellend dazu die Gedanken des italienischen Wirtschaftshistorikers Carlo Cipolla über die Gesetze der menschlichen Dummheit. Die von ihm herausgearbeiteten fünf Gesetze dieser leider weit verbreiteten mentalen Verfasstheit fußen auf der Unterscheidung zwischen hilflosen, dummen, intelligenten Menschen und den „Banditen“. Letztere sind gesellschaftlich besonders relevant. Sie handeln egoistisch und nehmen die negativen Nettofolgen für eine Gesellschaft, mit der sie sich nicht ehrlich identifizieren wollen, in Kauf. Dumme Menschen hält Cipolla dagegen für gefährlich, weil sie freiwillig und wissentlich Entscheidungen zum Nachteil aller fällen. Diese Klassifizierung scheint nicht nur die personelle Besetzung der politischen Klasse im deutschsprachigen Raum, sondern auch das Wahlverhalten eines Großteils der Österreicher und Deutschen abzubilden.

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ie Linzer Psychiaterin Adelheid Kastner präzisiert Cipollas Ansatz. Sie hält Dummheit für ein „zumeist selbstgewähltes Verhalten, das aus Entscheidungen resultiert, die nicht auf der Wahrnehmung der Realität beruhen, sondern auf gefühlten Wahrheiten“. Besonders gefährlich wird es laut Kastner, im Falle solcher „Entscheidungsträger, die dumm sind oder die Dummheit vieler ausnützen, um ihre Macht und ihren Reichtum zu vergrößern“. Kastners Ausweg: der Wahlzettel. Mit ihm lasse sich vielleicht verhindern, dass Dumme in Entscheidungspositionen kämen. Nun denn.

Seite 10 / INTERVIEW / Ulrich Novak

Interview mit Manfred Haimbuchner Seite 46 / FOTOSTRECKE / Redaktion

Am Weg nach Kiew N °16 / A PR I L 2022

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N ° 16 � A P R I L 2 0 2 2

Wir Putinversteher

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„In der Krise zeigt sich der Charakter“ – Manfred Haimbuchner im FREILICH-Gespräch.

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Editorial

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Inhalt

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Impressum

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Ansichtssache: Mehr Weitblick Das James-Webb-Weltraumteleskop ist ein Weltraumteleskop für die Infrarotastronomie. Mit ihm sollen neue Erkenntnisse über das All gewonnen werden.

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Kurz & bündig: aktuelle Neuigkeiten Unsere politische Buchreihe „Politikon“ wächst weiter – FREILICH Politische Studien über die„kinderlose Gesellschaft“ – NS-Devotionalien ins Museum

I N T E RV I E W

E S S AY

10 „In der Krise zeigt sich der Charakter“ Rechts der Mitte, aber konstruktiv in der Arbeit. FREILICH sprach mit Manfred Haimbuchner über seine „Corona“-Erfahrungen, die ÖVP als Partner und den Weg der Freiheitlichen.

26 Des Menschen Wolf „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ist der neue Steckenpferdbegriff im politischen Kampf.

INNENPOLITIK

18 Kurz danach Österreich, was kommt auf dich zu? Ist das Ende Kurz’ der Beginn der linken Renaissance? Heimo Lepuschitz über die nachhaltige Veränderung der politischen Landschaft in Österreich.

R E P O R TAG E

32 Wir Putinversteher Der Krieg in der Ukraine entsetzt Europa. Warum wir im Umgang mit Russland umdenken müssen. I N FO G R A F I K

44 Krieg in der Ukraine Der Krieg auf der Karte. Plus: die wichtigsten Daten und Zahlen zum Konflikt.

IMPRESSUM: Freilich – Das Magazin für Selbstdenker. Erscheinungsort: Graz. Medieninhaber und Herausgeber: Freilich Medien Ges.m.b.H., Chefredakteur: Ulrich Novak, Redaktion & Verlag: Mandellstraße 7, A-8010 Graz, Österreich. Bankverbindungen: Steiermärkische Graz, IBAN: AT38 2081 5000 0009 8004, BIC: STSPAT2G; Postbank München, IBAN: DE44 7001 0080 0120 1628 06. Abonnement-Preise: Österreich Euro 85,–, Deutschland Euro 94,–, Schweiz SFR 102,–. Tel.: +43(0)316/32 70 09, Internet: freilich-magazin.at, E-Mail: redaktion@freilich-magazin.at

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F O R M AT

AU S DE R R E DA K TI ON

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„Die Ukraine ist nur eine Arena!“

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Reise nach Kiew

FOTO S T R E C K E

K U LT U R

46 Reise nach Kiew Die Russen haben die Ukraine angegriffen. Wir sind durch die Westukraine nach Kiew gefahren, um den Widerstand zu treffen.

70 Gegen das Leben oder dafür Abtreibung ist immer noch Thema, zeigen vier aktuelle Filme.

60 Der rechte Sektor Die „Entnazifizierung“ der Ukraine ist nicht nur Wladimir Putin ein Anliegen, sondern auch Medien im Westen. I N T E RV I E W

62 „Die Ukraine ist nur eine Arena!“ Thomas Fasbender hat eine politische Biografie Putins geschrieben. Wir wollten wissen, wie wir Russland und diesen Krieg verstehen sollen.

LESESTÜCK

78 Demokratie illiberal gedacht Warum Demokratie und Liberalismus nicht mehr zusammengehen. 86 Den Menschen die Freiheit Alain de Benoist und die neurechte Kritik am Liberalismus. MEDIA

88 Bücher 91 Kolumne: Das Letzte Corona, zum Letzten.

Amerikas Krieg Manchmal begegnen Gramschi, unser Redaktionskater, Sie erinnern sich, und ich der russischen Gräfin Petrovna im dämmrigen Stiegenhaus unseres Bürohauses. Sommers wie Winters trägt sie eine angejahrte Nerzstola, deren haarige Silhouette Gramschis Jagdtrieb zu wecken scheint. Unruhe überkommt ihn, wenn er das vermeintliche Beutetier auf den schmalen Schultern der alten Dame erblickt. „Ach, so ein stolzes Tierchen“, sagt die Gräfin jedes Mal mit tiefer Stimme und streckt die gepflegten, mit Altersflecken übersäten, schwer beringten Hände aus, um Gramschi streichelnd zu besänftigen. Sie beliebt heute, gesprächig zu sein. „Grauenhaft, diese Amerikaner“, sagt die Gräfin, „jetzt bauen sie sogar Roboterkatzen und -hunde, um sie in Kriegsgebiete als Kampfmaschinen zu entsenden!“ Ein kühler Blick durch die Gläser ihrer Prada Black Havanna Oversize bleibt auf mir haften. „Das Treiben dieser vulgären Kapitalisten können Sie nicht gutheißen!“, werde ich kurz moralisch eingegleist und dann mit einem Nicken entlassen. Gramschi schaut zu mir auf. Eine Debatte um die hegemoniale Qualität des Neoliberalismus und „postneoliberale“ Projekte mit dazugehöriger Begriffsarbeit wäre jetzt zu viel. Gramschi will nur zur Sonne, zur Freiheit, zur Katzentoilette im Innenhof.

redaktion@freilich-magazin.at freilich-magazin.at

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ANSICHTSSACHE DAS WELTALL , UNENDLICHE WEITEN

Seit 24. Jänner ist es im Umlaufpunkt, rund 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Die Reise dorthin hatte am 25. Jänner 2021 begonnen. Das James-Webb-Weltraumteleskop ist ein Teleskop für die Infrarotastronomie. Es besteht aus einem mehrschichtigen, tennisplatzgroßen Sonnenschild und einem aus 18 Segmenten zusammengesetzten sechseinhalb Meter großen Primärspiegel. Die Aufgabe: „Die Auflösung von ‚James Webb‘ ist die höchste jemals von einem Weltraumteleskop im Infrarotbereich erreichte“, berichtet Projektwissenschaftler Scott Acton. Die ersten Bilder begeistern die Experten, weil man hinter Sternen gleich neue Galaxien entdeckt.

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Foto: NASA / Chris Gunn

ANSICHTSSACHE

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AKTUELL

Die islamistischen Metapolitiker

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P OILITI N N . 0 0 - 0 8 01 -7 S B NKO : 978 - 3R-2

DIE KINDERLOSE GESELLSCHAFT

WERNER REICHEL

MAX MUSTERMANN

NR. 4

NR. 3 VER VLEAG R L AG

P O L I T I KO N

WERNER REICHEL

POLITIKON

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P O LITI KO NI SNBRN. : 978 - 3 -2 0 0 - 07 72 - 6

DER SCHWARZE FADEN MAX MUSTERMANN

NR. 2 V E R L AG

POLITIKON

NR. 1 POLITIKON

V E R L AG

GESELLSCHAFT

„Ihr Kinderlein kommet …“, klappt nicht mehr. So viel individuelle Freiheit wie nie zuvor, aber keine Zukunft.

HANS-JÖRG JENEWEIN

MAX MUSTERMANN

MAX MUSTERMANN

KINDERLOSE P O L IDIE T I KO N

DIE KINDERLOSE GESELLSCHAFT

WIDER DIE ISLAMISTEN IRFAN PECI

HEINRICH SICKL

I S B N : 978 - 3 -2 0 0 - 072 6 0 -2

Wie Sebastian Kurz und türkise Netzwerke ihren Tiefen Staat weben

V E R L AG V E R L AG

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POLITIKON

DAS LOB DER GRENZE

I R FA N P E C I

P O LDER I T I KO N SCHWARZE FADEN

Wer ihn verbreitet, wer ihm folgt und wie man ihn zum Schweigen bringt.

DER SCHWARZE FADEN HANS-JÖRG JENEWEIN

P O L I T I KO N RUF DER ISLAMISTEN DER

WIDER DIE ISLAMISTEN

DAS LOB DER GRENZE

HEINRICH SICKL

Politikon

P O LITII S KO N: N R . - 3 -2 0 0 - 0 816 7- 3 BN 978

V E R L AG

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P O LITI KO N N R .

Die volle Reihe: POLITIKON bringt aktuelle politische Themen gut aufbereitet.

FREILICH POLITIKON wächst weiter Lesen bildet. Und daher kann FREILICH nicht genug publizieren. Der vierte Band von POLITIKON setzt sich mit der kinderlosen Gesellschaft auseinander. Alle wollen Spaß. Und Kinder können da ziemlich lästig sein. Werner Reichel untersucht im neuen POLITIKON „Die kinderlose Gesellschaft“. Das fängt an bei der politischen Klasse: Wie viele Politiker und -innen, die über die Zukunft des Landes entscheiden sollen, glauben noch selbst an die Zukunft und haben Kinder? Weiter geht das mit einem seltsamen Klima, in dem Menschen auf Kinder verzichten, weil sie das Klima retten wollen.

Was tut eigentlich die Muslimbruderschaft? Einblicke in den legalistischen Islam. Die Muslimbruderschaft, 1928 in Ägypten gegründet, verbreitet sich bereits seit den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren auch in vielen westlichen Ländern. Ziel der Muslimbruderschaft ist die graduelle Islamisierung der Gesellschaft. Zu diesem Zweck haben Personen, die der Muslimbruderschaft nahestehen, inzwischen in vielen europäischen Staaten ein Netzwerk aus sozialen Organisationen, Bildungseinrichtungen und Unternehmen aufgebaut. In mehreren Staaten des Nahen Ostens, wie etwa in Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten, wird die Muslimbruderschaft als Terrororgasa o ass e . Die Muslimbruderschaft befördert das Narrativ des Opfertums von Muslimen und nutzt antimuslimische Vorfälle zur verstärkten Propagierung einer „Wirgegen-Sie“-Haltung: Jede Kritik am Islam wird kategorisch als „Islamophobie“ abgelehnt.

Demnächst als FREILICH Politische Studie: die Muslimbruderschaft und wie sie den Islam zu etablieren sucht.

POLITIKON im Internet: freilich-magazin.at/politikon

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AKTUELL Foto: HDGOE

Geschichte sind auch die Überreste der Geschichte. Überbleibsel vom 1.000-jährigen Reich finden sich noch immer in Österreichs Heimen.

Hitler entsorgen: Flohmarkt im Museum

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as tun mit den Überbleibseln des Nationalsozialismus? Gehören sie in ein Museum? Sollten sie entsorgt werden? Ist es vertretbar, sie am Flohmarkt oder im Internet zu verkaufen? Was ist Erinnerung, was Verklärung und was gar Wiederbetätigung? Diese Fragen greift die neue Ausstellung im Haus der Geschichte Österreich (hdgö) auf. Das Museum gibt einerseits anhand von 14 ausgewählten Objekten Einblicke in seine wachsende Sammlung und legt offen, anhand welcher Kriterien über mögliche Schenkungen entschieden wird. 14 Objekte, die „vom Keller ins Museum“ gewandert sind, wurden für die Ausstellung ausgewählt. Dazu gehören etwa die Bronzeköpfe, die Adolf Hitler darstellen und erst 2017 bei Sanierungsarbeiten im Keller des Parlamentes entdeckt wurden, ein Zelt der Wehrmacht, in dem später Kinder spielten, oder auch ein Mikrofon, das Adolf Hitler angeb-

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lich für seine „Anschluss“-Rede in Linz verwendete und das lange im ORF-Landesstudio Oberösterreich aufbewahrt wurde. In den meisten Fällen ist es in Österreich verboten, Gegenstände mit NS-Symbolen zu zeigen. In der Öffentlichkeit sind sie daher selten sichtbar. Am ehesten sind sie in Museen zu finden – oder in den Medien. Wer danach sucht, kann aber einen relativ offenen Onlinehandel entdecken. Auch auf Flohmärkten oder in Antiquariaten bieten Händler Gegenstände an, meist jedoch verdeckt. Privat besitzen viele Menschen Dinge, die sie zufällig oder aus Interesse übernommen haben – oder die in Bezug zu ihrer Familiengeschichte stehen. Manche Menschen wollen diese Objekte loswerden, andere sammeln sie gezielt. Auch Institutionen oder Unternehmen sind immer wieder mit NS-Gegenständen konfrontiert, die mit ihrer eigenen Geschichte zu tun haben.

Das Haus der Geschichte Österreich präsentiert Geschichte, wie sie in vielen Häusern zu finden ist: „Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum“ ist bis 9. Oktober zu sehen.

Mehr Informationen zur Schau: hdgoe.at/hitler_entsorgen

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Foto: FPÖ OÖ

INTERVIEW

Politisch verantwortlich und bei den Menschen: Manfred Haimbuchner trägt Verantwortung in Oberösterreich.

FR E I L I CH


INTERVIEW

„In der Krise zeigt sich der Charakter“ Rechts der Mitte, aber konstruktiv in der Arbeit. FREILICH sprach mit Manfred Haimbuchner über seine „Corona“-Erfahrungen, die ÖVP als Partner und den Weg der Freiheitlichen.

INTE RVIE W: ULRICH NOVAK

FREILICH: Herr Haimbuchner, Sie sind als einer der führenden Freiheitlichen recht früh an „Corona“ erkrankt. Ein Jahr später, im Rückblick: Wie war es?

Manfred Haimbuchner: Es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Irgendwann war ich im Krankenhaus und hatte nicht das Gefühl, dass es mir so schlecht ging. Das war eigentlich das Teuflische an der Sache. Ich kann mich nur mehr daran erinnern, dass ich irgendwann munter wurde und eine Ärztin in bundesdeutschem Akzent sagte: „Grüß Gott, Dr. Haimbuchner. Sie haben jetzt fünf Tage geschlafen. Wie geht es Ihnen?“ Und ich habe mir spontan gedacht, was mache ich jetzt eigentlich in Deutschland? Nach insgesamt 14 Tagen Krankenhausaufenthalt bin ich, schwer angeschlagen, mit einem Physiotherapieprogramm nach Hause gegangen. Mittlerweile bin ich vollkommen gesund, habe keine Spätfolgen und danke all jenen, die mich medizinisch betreut haben. Jetzt ist „Corona“ auch eine Krankheit mit politischer Dimension. Die Medien feixten, ausgerechnet ein Freiheitlicher hatte „Corona“. Haben Sie das mitbekommen? Wie ist es Ihnen dabei gegangen?

Das war eine sehr schwierige Situation. Diese mediale Begleitmusik darf man N °16 / A PR I L 2022

nicht übersehen, und das hat auch meinen Genesungsverlauf nicht unbedingt verbessert. Aber, ehrlich gesagt, es war mir dann zum Schluss egal. Wenn man kurz vor dem Sterben ist, hat man andere Sorgen. Klar ist im Endeffekt, dass es bei dem gesamten Thema „Corona“ schwierig geworden ist, differenziert zu argumentieren. Ich persönlich bin zur Erkenntnis gelangt, dass man mit diesem Virus, auch mit den schlimmeren Verläufen, leben muss. Interessant war, was während der Pandemie auch zu Tage trat: nämlich das gesellschaftspolitische Wirken einiger Personen. Der Volksmund weiß, in der Krise zeigt sich der Charakter, bei manchen hat diese Krise nicht den besten Charakter ans Licht gebracht. Das Thema „Corona“ habe ich immer differenziert gesehen. Ich hatte schon vor meiner Erkrankung schwere Verläufe mitbekommen, aber es ist nicht die Pest ausgebrochen, das muss man auch sagen. Man sah jedoch, dass Leute nicht mehr bereit waren, zuzugeben, dass sie mit ihrem Latein am Ende waren. Jeder mutierte zum Experten. Auch Wissenschaftler und Ärzte, die dann später ihre Meinung revidieren mussten. Ich glaube, dass man – wie in der Wissenschaft üblich – mit ausgetauschten Erkenntnissen gescheiter werden darf.

Welche Probleme hat die Pandemie aus Ihrer Sicht am Patienten Gesellschaft ausgelöst?

Das wird man erst in einigen Jahren richtig beurteilen können. Meines Erachtens sind die Hauptbetroffenen dieser Pandemie die Familien, die Kinder und die alten Menschen. Es gibt Kinder, die 2020 das erste Schuljahr begonnen haben und die bis vor Kurzem noch nie einen normalen Unterricht sahen. Was haben wir als Jugendliche gemacht? Jedes Jahr war damals entscheidend. Wir müssen feststellen, dass nicht nur in Oberösterreich die psychiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser massiv überlastet sind. Erkennbar ist, dass mit einer Generation etwas gemacht wurde, was Spätfolgen zeitigen wird. Auch das Thema der zwischenmenschlichen Begegnungskultur, des sozialen Lebens ist ein schwieriges. Mit der Generation der Großeltern ist ebenfalls viel durch die Isolation passiert. Manche sind in diesen zwei Jahren aufgrund der fehlenden sozialen Kontakte extrem gealtert. Wie beurteilen Sie die sogenannte Performance der Regierung angesichts der Krise?

Naja, wenn man überhaupt von Performance sprechen kann. Man hat sich nur noch auf der Basis von PR-Strategien

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Foto: IMAGO / Rudolf Gigler

INTERVIEW

Manfred Haimbuchner steht in Oberösterreich für die kontinuierlich arbeitenden Freiheitlichen, die auch Verantwortung tragen wollen.

bewegt. Man schaue sich nur das Beispiel der Impfpflicht an, deren Durchsetzung jetzt komplett ausgeartet ist. Diesbezüglich gibt es nur medial perfide eingesetzte Narrative und keine normalen Diskussionen mehr. Ich will mich gar nicht so sehr auf die Impfpflicht konzentrieren. Denn letztlich ist dieses Vorhaben ja nur noch der letzte Tropfen, der das Fass wirklich zum Überlaufen gebracht hat. Dafür oder dagegen?

Ich bin persönlich Gegner einer Impfpflicht, aber kein Impfgegner. Abgesehen davon bin ich bei dem Thema auch nicht der bekannte „Experte für eh alles“ des Kabarettisten Gunkl. Schlimm finde ich, dass man an die Bürger ohne faktenbasierte Aufklärung herangetreten ist. Wer den Narrativen nicht glaubt oder nicht folgt, ist Mensch zweiter Klasse. Verrückt war in dem Zusammenhang die Ankündigung des Ex-Kanzlers Schallenberg, der ein für Ungeimpfte ungemütliches Weihnachten prophezeite. Es ist mir ein Rätsel, wie man ein zentrales Glaubensund Familienfest derartig propagandistisch missbrauchen kann. Die Rechtsunsicherheit bei den Pandemiebekämpfungsmaßnahmen hat das Vertrauen in Staat und Regierung unterminiert. Ich erinnere an

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den Ostererlass unter Anschober im Jahr 2020, als auch hohe Beamte nicht wussten, was erlaubt ist und was nicht. Ich erinnere mich, dass Leute, die zu Ostern Verwandte besuchen wollten, polizeilich genauestens kontrolliert wurden. Ich würde mir wünschen, dass man illegale Migranten in Österreich auch einmal so kontrolliert. Vielleicht wäre die Lösung des Migrationsproblems, dass man die 2G-Regelung gleich an der Grenze exekutiert und jeden als Illegalen zurückweist, der mit einem nicht zugelassenen Impfstoff geimpft wurde. Die Regierung versuchte es mit „Sperrts zu, seid leise, wir zahlen alles“. Wie sehen Sie die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und dieser Lockdown-Politik, die die Regierung verfolgt hat?

Ich habe mitbekommen, dass viele Unternehmer nicht zusperren wollten. Sie wollten auch keine staatlichen Hilfen als wirtschaftliche Existenzsicherung. Es entstand irgendwann allerdings eine Art Fatalismus nach der Devise: „Die tun eh mit uns, was sie wollen.“ Die wirtschaftlichen Folgen werden vor allem für die kleinen Gewerbetreibenden in den Städten, die besonders gelitten haben, schwerwiegend sein. Da wird es einige geben,

die die Verluste auf Dauer sicher nicht mehr stemmen können. Vor allem im Gastronomiebereich werden viele nicht wiederkommen und dauerhaft zusperren. Kommt die Krise nach der Krise?

Die Krise nach der Krise ist schon da. Nehmen Sie nur die Verwerfungen im Baubereich und seinen Nebengewerben über die extrem hohen Baustoffkosten. Zahlen werden am Ende der österreichische Steuerzahler und der Mittelstand, der hier besonders zur Kassa gebeten werden wird. Und nochmal zum Bauen: Die Preise sind in diesem Sektor um 30 % gestiegen, und das wird sich nicht so schnell wieder normalisieren. Eigenheime werden auch mit allen möglichen staatlichen Unterstützungen, die wir seitens des Landes Oberösterreich geben, in der Breite kaum leistbar. Wir werden das Gesamtproblem nicht lösen können, denn schauen Sie sich in dem Zusammenhang die EZB-Politik an, die völlig aus dem Blickfeld geraten ist. Wir reden ständig über explodierende Energiepreise, doch das ist nur eine Facette geopolitisch-strategischer Gründe. Die Inflation und die immer noch lockere Geldmittel- und Zinspolitik der EZB stellen eine umfassende Enteignung dar, die der Bürger erst in FR E I L I CH


Foto: IMAGO / Eibner Europa

INTERVIEW

OBERÖSTERREICH FREIHEITLICH

MFG ist als Partei aus dem Protest gegen die Corona-Maßnahmen gewachsen. „Monothematische Glücksritter“, so Haimbuchner.

den kommenden Jahren spüren wird. Dieser Prozess wird immer offensichtlicher, und leider ist kein Licht am Ende des Tunnels in Sicht. Jetzt ist neben der impfkritischen FPÖ noch jemand auf der politischen Bühne aufgetaucht: die MFG. Wie schätzen Sie Ernsthaftigkeit und Zukunftsfähigkeit dieser Partei ein?

Genauso wie die aller anderen „Protestparteien“, die ich in den vergangenen 20 Jahren erlebt habe. Das waren alles Bewegungen, die am Ende bedeutungslos wurden. Letztlich handelt es sich um politische Glücksritter, denn rein monothematisch ausgerichtet zu sein, funktioniert auf Dauer nicht. „Corona“ wird vorbeigehen, die anderen großen Probleme unserer Zeit werden verstärkt in den Fokus kommen. Da sind zum Beispiel die Migrationspolitik, zu der die MFG einen offensichtlich linken Zugang hat, oder Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Im oberösterreichischen Landtag ist bei der MFG erkennbar, dass abseits von Fragen um „Corona“ und Impfen jeder der Abgeordneten seinen eigenen Zugang zum Parteiprogramm hat. Für manche, die gegen das System und die „böse“ FPÖ sind, ist die MFG eine Alternative, um das vermeintlich gute Gewissen zu erhalten. N °16 / A PR I L 2022

„Wir waren die einzigen im Parlament, die die Maßnahmen hinterfragt haben.“ Wie zufrieden sind Sie mit dem Auftritt der FPÖ nach Hofer und in der Pandemiezeit?

Die freiheitliche Partei war die einzige politische Kraft im Parlament, die sehr bald die Pandemiebekämpfungsmaßnahmen hinterfragte und einen offenen Diskurs forderte. Es gibt unzählige Anträge und Anregungen von freiheitlichen Politikern, mit deren Hilfe Alternativen dargelegt wurden. Wir konzentrieren uns nun auf die brisanten, wichtigen Grundrechtsfragen. Manche glauben deshalb, die freiheitliche Partei suche jetzt den „Protest auf der Straße“. Ich meine, der Bürger muss sein hohes Recht der Demonstrationsfreiheit nutzen und seinen Unwillen ausdrücken. Dem Vorwurf, dass ich nicht auf diesen Demonstrationen zugegen bin, begegne ich mit der einfachen Begründung: Ich habe als gewählter Politiker vorrangig mein Amt wahrzunehmen und meine Wirkungsmöglichkeiten im Parlament zu nutzen.

Der Videoskandal von Ibiza schien ein tiefgehender Schnitt für die Erfolgsgeschichte der FPÖ zu sein. Konnte sich die Partei nach diesem Tiefschlag überhaupt wieder erholen? Offenbar schon. Denn in Oberösterreich konnte die FPÖ mit Manfred Haimbuchner an der Spitze ihre 20 % Wähleranteil bei den Landtagswahlen 2021 halten. Zwei Bewertungen liegen nahe: Zum einen scheint die oberösterreichische FPÖ durch ihre Koalition mit der ÖVP nicht unbedingt die Wählergunst zu verspielen, und zum anderen scheint sich ein harter Kern freiheitlicher Stammwählerschaft zu sublimieren, der nun doch bei immerhin circa 20 % zu liegen scheint. Es ist die Frage, ob dieser Ansatz Modellcharakter für andere Bundesländer haben kann und ob er nicht die FPÖKernbotschaften verwässert und beliebig macht.

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INTERVIEW

„Es hat viele Momente in der FPÖ gegeben, etwa nach Knittelfeld, in denen man sagte, bereinigen wir die Vergangenheit, treffen wir uns auf ein Bier. So sollte es auch sein.“

Ich wünsche mir aber, dass man die Bürger versteht, die den Protest auf die Straße getragen haben; ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass man die Demonstranten in ein radikales Eck stellt. Denn das war dann natürlich irgendwann die Absicht, und wir kennen den Versuch, Demonstranten als Extremisten abzustempeln. Andererseits ist aber auch die politische Arbeit in den Institutionen ernst zu nehmen. Als mein Interesse für Politik geweckt wurde, begriff ich schnell, dass man die Dinge nur ändern kann, wenn man regiert, wenn man in den Institutionen Persönlichkeiten platzieren kann, die dazu geeignet sind. Ansonsten wird man über uns lachen und Politik über uns hinweg machen. Ich will, dass wir einen Plan für die Zukunft haben, strategisch vorgehen und eine wesentliche politische Kraft sind, die man auf keiner Ebene negieren kann. Die FPÖ hat gerade eine große Krise hinter sich. Wieder eine persönliche Frage: Wie haben Sie „Ibiza“ erlebt?

Am Rasenmähtraktor. Ich saß auf dem Rasenmähtraktor, und meine Frau kam aufgeregt mit dem Handy zu mir gelaufen. Ich dachte mir, wer ruft denn jetzt schon wieder an, kann ich nicht mal in Ruhe Rasen mähen? Und sie sagte dann, da ist irgendwas mit einem Video, und der Herbert Kickl möchte mit mir reden, und ob ich schon irgendetwas gehört hätte. Ich hatte nichts gehört, ich hatte keine Ahnung und bin daraufhin zu meinem Nachbarn. Da gab’s eine Feuerwehrübung, und ich habe ein Bier getrunken und mir gedacht, jetzt sind wir wieder so weit. Wie weit?

So weit, dass wieder viel an geleisteter Arbeit und an Idealismus mit Füßen getreten wurde und wir wieder neu anfangen mussten. Schnell zeichnete sich ab, dass die FPÖ gefestigt ist. Die

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freiheitliche Partei und ihre Verantwortungsträger sind sich bewusst, welche Verantwortung sie für dieses Land und für ihre Anhänger haben. Die gesamte Aufarbeitung war sehr mühsam, wobei man schon sagen muss: „Ibiza“ war nur ein Teil, es kamen die Spesenaffäre dazu und andere Diskussionen. Das hat uns wahrscheinlich mehr an Reputation gekostet, als manche glauben. Inzwischen ist schon viel Wasser den Bach hinuntergegangen. Zwei Personen aus der Vergangenheit: HC Strache – Sebastian Kurz. Was verbinden Sie mit denen?

Dass das, worüber Heinz-Christian Strache im Leiberl beim Wodka auf Ibiza sinnierte, der Sebastian Kurz eher nüchtern ausgeführt hat. Wird einer von ihnen jemals wieder politisch zurückkommen?

Nein, und ich wünsche mir das auch nicht. Wobei schon mal eines deutlich gesagt werden muss: Herr Kurz hat einen wahrscheinlich wohldotierten Job, und der ehemalige Bundesparteiobmann HC Strache kämpft um seine Existenz. Ich wünsche mir, dass man auf HC Strache nicht noch herumtrampelt, das hielte ich ehrlich gesagt für ungustiös, das gefiele mir gar nicht. Das heißt, dass das Treffen Hofer-Strache unter die Auseinandersetzungen der Vergangenheit einen Schlussstrich setzte?

Das kann man nicht zu politisch werten. Ich habe das eher als persönliches Treffen wahrgenommen, bei dem man sich ausspricht. So, wie es im Leben immer wieder zum Glück auch passiert, anstatt nicht miteinander zu reden. Es hat schon viele Momente in der FPÖ gegeben, etwa nach Knittelfeld, in denen man sagte, bereinigen wir die Vergangenheit, treffen wir uns mal auf ein Bier. So sollte es auch sein.

Als gewählter Politiker die Wirkungsmöglichkeiten im Amt zu nutzen, das ist Ihr pragmatischer Ansatz. Haben Sie in der Koalition mit einer mehr als anrüchigen ÖVP diese Möglichkeit? Haben Sie Gestaltungsmöglichkeiten, freiheitliche Politik durchzusetzen?

Ja. Wir haben das in den vergangenen Jahren gezeigt, und ich verweise dabei beispielsweise auf ein Leuchtturmprojekt, nämlich die Vergabe von Wohnbauförderungsmitteln an nachgewiesene Deutschkenntnisse zu knüpfen. Das haben wir umgesetzt, und – ich sage das deutlich – das ist nur mit der ÖVP möglich gewesen. Die ÖVP hat in den Arbeitsprogrammen zu unseren Punkten ihre Zustimmung erteilt. Deswegen war und ist diese Zusammenarbeit richtig. Was wäre denn die Alternative in diesem Bundesland? Die Alternative wäre Schwarz-Grün. Gelegentlich sind also Kompromisse zu schließen, das ist so im politischen Alltag. Ein Kompromiss darf allerdings nicht die politische Regel werden, dann scheitert man. Vergessen Sie nicht: Alle anderen großen politischen Projekte in Oberösterreich wären alternativ „schwarz-grün“ gewesen, und deshalb haben wir uns für den Weg nach der Wahl 2021 entschieden. Ich habe gewusst, dass es schwierig wird, weil 2015 ein Ausnahmejahr war. Da war die Flüchtlingskrise, es gab eine rot-schwarze Bundesregierung, dann einen Landeshauptmann, von dem man wusste, dass er nicht mehr alle sechs Jahre durchdient, obwohl er das im Wahlkampf bestritten hat. Es hat viele Leihstimmen der österreichischen Volkspartei gegeben, und man darf nicht übersehen, dass wir zwischenzeitig Zweite in einer Regierung waren. Und doch war es schwer. Außerdem hat die ÖVP eine andere mediale Unterstützung als die FPÖ, denn wir sind nicht das journalistische Lieblingskind. Die zweite Belastung war FR E I L I CH


Foto: IMAGO / Eibner Europa

INTERVIEW

Ein Bild aus anderen Zeiten: drei Männer, drei Wege, eine Partei – auch wenn „Ibiza“ die Freiheitlichen in eine Krise geführt hat, die sie bewältigt haben.

„Ibiza“ etc., dazu die innerparteilichen Diskussionen und schließlich die Pandemie, bei der freiheitliche Wähler als Extremisten desavouiert wurden. Wir haben dann ja die 20 % nicht ganz erreicht, was ich gern auf meine Kappe nehme. Durch meine Erkrankung im Frühling wussten wir zeitweise auch nicht einmal, wie und ob das funktionieren kann. Mit diesen schlechten Rahmenbedingungen sind wir dann trotzdem brauchbar zurechtgekommen. Unter Sebastian Kurz hatte man das Gefühl, dass die ÖVP plötzlich versucht, die Inhalte der Freiheitlichen zu übernehmen. Chats aus der Zeit belegen, dass sich die Regierung schon überlegte, wie es ohne Freiheitliche aussähe.

Politik ist kein Ponyhof. Wenn man mit einem politischen Mitbewerber eine Koalition abschließt und dieser noch dazu solchen Aufwind hat wie damals die FPÖ, dann überlegt ein Spekulant wie Sebastian Kurz: „Kann man die Geschichte allein durchziehen?“ Ich finde es interessant, dass man in der FPÖ nur mehr über die ÖVP, das türkise System diskutiert. In Wirklichkeit geht es jedoch nur darum, wie sich die Freiheitliche Partei selbst sieht, sich selbst N °16 / A PR I L 2022

organisiert, ihre Strategien fährt und kontinuierlich arbeitet. Nur das bringt den Erfolg. Ich definiere mich als Freiheitlicher nicht und nie über einen „Koalitionspartner“. Ich definiere diese Politik, die wir in Oberösterreich machen, über Inhalte und persönliche Beziehungen. Man kann nicht Inhalte umsetzen, wenn man mit dem politischen Mitbewerber nicht arbeiten und kein Vertrauen haben kann, das wird nicht funktionieren. Wir haben im freiheitlichen Lager schon sehr viele Dolchstoßlegenden und müssen es dann eben – mit Verlaub – gescheiter machen. Nein, es sind nicht alle böse, nicht die ganze Welt ist gegen uns. Wir hätten es eigentlich gut gehabt, aber auf Ibiza saß nicht der Sebastian Kurz, sondern der Bundesparteiobmann der Freiheitlichen Partei. Wie begegnen Sie den Vorwürfen, wenn die Leute im eigenen Lager gelegentlich behaupten: Der Haimbuchner sagt ja ohnehin das Gleiche wie der Koalitionspartner, der kommt rüber wie eine ÖVP 2.0?

Ich habe in der Freiheitlichen Partei die Erfahrung gemacht, dass man als Abgeordneter, der einen Dienstwagen oder ein Büro hat, dass man irgendwie als Teil

des Systems wahrgenommen wird. Das ist ein bisserl Urfreiheitliches, was da durchschlägt. Das nehme ich niemandem übel und spiele auch damit, weil ich in der freiheitlichen Partei nicht „Everbody’s darling“ bin. Ich bin Waffenstudent, seit 2003 Gemeinderat in meiner Heimatgemeinde, bin seit 2005 Bezirks-, seit 2010 Landesparteiobmann. Ich habe meine politische Agenda nie verändert, und mein Ziel war immer, entsprechend Verantwortung zu übernehmen. Dass es auf diesem Weg dorthin Leute gibt, die es nicht gut mit einem meinen oder unter einem gewissen Neidkomplex leiden und dann zu Mitteln greifen, die im freiheitlichen Lager immer erfolgreich waren, das gehört wohl dazu. Ich persönlich halte das aus und lasse mich nicht beeinflussen, sondern mache das, was ich für richtig erachte. Ich lasse mir auch normalen Umgang mit meinen politischen Mitbewerbern nicht nehmen. Ich habe ein paar gute persönliche Kontakte zur ÖVP und auch zur Sozialdemokratie. Ich bin kein Selbstisolierer, der sich immer im politischen Lockdown befindet. Sie sollen angeblich gesagt haben, dass eine geregelte Zuwanderung von Fachkräften

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INTERVIEW

„Wir müssen auf allen Ebenen Politik rechts der Mitte machen. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, es allen recht machen zu wollen, das wird nicht funktionieren.“

den Fachkräftemangel beheben könne und dass so der Ausweg aus der Misere der Massenmigration aussehe. Ist das korrekt wiedergegeben oder Unfug?

Ich bin immer überrascht, wenn man liest, was man gesagt haben soll. Tatsache ist, dass ich mich ausdrücklich gegen die Migration, die derzeit stattfindet, ausgesprochen habe. Ich halte auch die Rot-Weiß-Rot-Karte, die eine legale Migration erlauben würde, für kein wirklich taugliches Mittel, um ausgebildete Arbeitskräfte zu gewinnen. Wir wissen, dass die Migration nicht die Fachkräfte liefert, die wir benötigen. Das ist einfach die Wahrheit. Um es zusammenzufassen: Sowohl die FPÖ als auch die ÖVP sprechen sich gegen die Migration, wie sie derzeit stattfindet, aus, aber es gibt Sektoren, in denen wir Arbeitskräfte brauchen. Das Problem, das ich sehe, ist die je nach Interessenlage medial gespielte Vermischung Migration, illegale Migration, Arbeitskräfte, die man benötigt usw. Ich stelle fest, auch die freiheitliche Partei und das nationale Lager müssen sich darüber klar sein, dass ein gewisser Zuzug von qualifizierten Persönlichkeiten notwendig war, notwendig ist und notwendig sein wird. Unabhängig davon, was Familienpolitik betrifft, was die Versäumnisse in der Bildungspolitik betrifft, die Versäumnisse im Respekt gegenüber der Arbeit im Pflegeberuf. Das steht nicht zur Diskussion, das ist sowieso alles vollkommen klar, aber wer als Freiheitlicher oder als Nationaler glaubt, wir benötigten überhaupt keinen Zuzug, der irrt. Sie sagten Ende 2021 angeblich in der Presse: „Ich schreibe gerade als Familienpolitiker niemandem vor, wie er leben soll. Ich sehe mich als Politiker ganz klar der liberalen Tradition verbunden.“ Sollen „Verantwortungsgemeinschaften“ neben Ehe und Familie tolerierte Lebens-

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formen sein, oder legen Sie Wert auf das traditionelle Familienbild?

Soweit ich mich erinnern kann, war das richtig zitiert. Ich habe allerdings damit nur gesagt, dass ich niemandem etwas vorschreibe. Ich bin ein Verfechter der traditionellen Familie, und die besteht aus Mutter, Vater und Kindern. Ich halte es für eine Psychose in der Gesellschaft, wenn mittlerweile alle möglichen Lebensformen in den Mittelpunkt gestellt werden. Sie begegnen dieser Psychose entspannt, oder? „Es ist jedermanns freie Entscheidung, kann man nichts machen. Ich nehme die Realität zur Kenntnis, und es gibt diese Partnerschaften.“

Ich nehme auch Homosexualität zur Kenntnis, weil es die auch immer gegeben hat. Denken Sie dabei gern an entsprechende Persönlichkeiten im freiheitlichen Lager, die hat es immer wieder gegeben. Ich lebe mein Familienbild, will es aber niemandem vorschreiben, was nicht heißt, dass mein politischer Wille und mein politisches Tun nicht eindeutig darauf ausgerichtet sind, dass wir natürlich die herkömmliche Familie unterstützen. Ich bin der einzige Politiker, der einen Kinderbetreuungsbonus eingeführt hat, der vom politischen Gegner als Herdprämie herabgewürdigt wird. Was mich besonders stört, ist, ein traditionelles Familienbild vorzugeben und dann ganz anders zu leben. Wo steht die FPÖ? Sie hat sich nach dem letzten Tiefschlag erholt und geht wieder Richtung 20 %. Was ist die Perspektive für die Partei aus Ihrer Sicht?

Ich bin optimistisch, dass die Freiheitlichen nach der Pandemie personell und inhaltlich gestärkt dieses Land mitgestalten werden. Entscheidend ist, dass die Freiheitliche Partei eine

stringente Strategie für die Zukunft hat. Abgesehen davon wird die Partei immer auch eine Form des Protests sein, weil wir in diesem System von RotSchwarzGrünNEOS nicht verankert sind und auch nicht verankert sein wollen. Aber wenn wir in der Zukunft eine Rolle spielen wollen, dann müssen wir auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen, dann müssen wir auch in den Institutionen Platz greifen. Wir müssen dem mehrheitlichen Willen des Volkes Rechnung tragen, und dieser Wille ist strukturell rechts der Mitte angesiedelt. Deshalb muss die Freiheitliche Partei auf allen Ebenen Politik rechts der Mitte machen. Wir müssen uns klar entscheiden, denn es wird schwieriger in der Zukunft. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass wir es allen recht machen wollen, das wird nicht funktionieren. Ich habe immer den Weg der Schweizer Volkspartei als Weg einer rechtskonservativen Partei mit liberaler Wirtschaftsausrichtung und sozialer Verantwortung beobachtet. Diese Partei der Handwerker, der Bauern, des Mittelstandes und der Freiberufler, das sollte die Freiheitliche Partei sein, und das sind wir ja in den meisten Bereichen auch. Ich bin kein Freund der Sozialromantik, auch eine patriotische Sozialromantik wird nicht mehr funktionieren. Heißt, wenn es funktioniert, wird wieder Regierungsverantwortung übernommen?

Für eine politische Kraft, die sich ernst nimmt, kann es kein anderes Ziel geben. Ich bin nicht in die Politik gegangen, um von anderen regiert zu werden. Politik als Selbstzweck oder Geschäft, das ist der falsche Weg. Regieren um jeden Preis geht natürlich auch nicht, das weiß ich schon, aber ich gehe auch nicht um jeden Preis in die Opposition. Herzlichen Dank für das Gespräch! FR E I L I CH


Foto: FPÖ OÖ

INTERVIEW

Zur Person

Bodenständig und handfest Manfred Haimbuchners Kurs schmeckt in der freiheitlichen Szene nicht jedem. Doch die in den Medien gern zur Polarität hochgespielten Unterschiede zwischen dem „harten Kern“ der Freiheitlichen und der FPÖ-Koalition mit den Schwarzen im Linzer Landhaus sind für Aufmerksame lediglich Fragen unterschiedlichen Stils. Denn Manfred Haimbuchner ist kein an der Leine liegender Blauer, kein Papiertiger. Man muss ihm nur zuhören.

PORTRÄT EINES PRAKTIKERS

Haimbuchner, als entschiedener Nationalliberaler bekannt, wird den Kurs seiner Partei in den kommenden Jahren entscheidend mitbestimmen. Im Gespräch mit ORF-Aushängeschild Klaus Edlinger spricht er Klartext über seine Biografie, Wertvorstellungen und politische Ziele. Klaus Edlinger: Manfred Haimbuchner. Heimat, Sicherheit, Leistung Leopold Stocker Verlag, Graz 2020. ISBN 978-3-7020-1871-9 A € 20,00 / D € 20,00

Im FREILICH-Buchladen erhältlich: freilich-magazin.at/buchladen

Wo immer Haimbuchners Gegner auch herkommen, sie setzen meist auf die manipulative Inszenierung. So beispielsweise 2016, als Greenpeace, WWF und „GLOBAL 2000“ dem oberösterreichischen Landeshauptmann-Stellvertreter und FPÖ-Chef den „Black Globe Award“ verliehen. Der promovierte Jurist, der – 1978 geboren – in Steinhaus bei Wels aufwuchs, sah in dem Preis eine „Anerkennung für Politik mit Hausverstand“. Wenn ihm die Umweltschutzorganisationen hätten erklären können, wie sie die „durch den Dämmwahnsinn der letzten Jahre“ entstandene Abfallproblematik lösen wollten, hätte Haimbuchner die Urkunde sicher entgegengenommen. Dazu wird er mit dem Satz zitiert: „Die derzeitigen überschießenden Maßa e o a e o bau s s a ss , es o s e ,u se e e die sozial Schwächsten in unserer Gesellschaft.“ Darin zeigte sich eine gewisse ideologieferne Pragmatik, die sich am Machbaren und am von freiheitlichen Wählern Gewünschten orientiert.

Die Heimat im umfassenden Sinn, die Österreicherinnen und Österreicher haben mit ihren existenziellen Bedürfnissen Vorrang vor Kotaus nach außen hin oder internem Machtkalkül. Haimbuchner ist nicht vor mehr als 20 Jahren in der Politik angetreten, um regiert zu werden, sondern um seine freiheitlichen Vorstellungen weitestmöglich umsetzen zu können. Das Leben in der Koalition dürfte dabei nicht immer harmonisch sein, denn der schwarze Partner ist angeschlagen, seine Reputation durch das totale Versagen der ÖVP nicht nur auf Bundesebene im Keller. Der Landeshauptmann-Stellvertreter und Familienvater übt sich derweil in der fairen Tugend der Handschlagqualität und der Erfüllung des Wählerwillens im Amt. Dabei were H e , o a u F eu e ge ege as eu A be e u g ausgelegt. In der Regel allerdings von denjenigen, die mit dem D-Zug durch die Kinderstube rauschten und mit nuanciertem Auftreten nichts anfangen können. Bei aller Sympathie bleibt zu klären, wie sich innerhalb der FPÖ die Mächte ordnen. Denn sicher ist, dass der pragmatische Kurs des Manfred Haimbuchner zwar sein unbezweifelbar u es a , ass abe e g u e e e, o es e e e u o e s e e e F Ö mit seiner nicht zur Disposition stehenden Wertebasis und seinem Willen, den politischen Gegner in die Schranken zu weisen, einen enorm wichtigen Bestandteil des freiheitlichen Genoms darstellt. Ohne die eloquenten, mutigen und kämpferischen Blauen landauf, landab wäre eine prominent wahrgenommene oberösterreichische FPÖ nicht dort, wo sie ist. Ohne den konstruktiv-gestalterischen, bürgerlich-ruhigeren Flügel des oberösterreichischen Landesverbandes indes bliebe die FPÖ aktuell den Beweis der Regierungsfähigkeit schuldig. Es b e b u o e , ass e os e E sse u e o age e e s u ge e obe österreichischen Freiheitlichen mit Manfred Haimbuchner an der Spitze in den Kabinetten Stelzer I und II nicht vergessen oder anderen, die damit nichts zu tun hatten, zugeschrieben werden. Denn wenn der politische Gegner auch wenig kann, eines kann er gewiss: sich mit fremden Federn schmücken.

Manfred Haimbucher: fpoe-ooe.at N °16 / A PR I L 2022

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INNENPOLITIK

Weg ist er und hat einen guten Job jenseits des Großen Teiches. Weg ist aber auch die Mehrheit rechts der Mitte.

Österreich, was kommt auf dich zu? Ist das Ende Kurz’ der Beginn der linken Renaissance? VON HEIMO LEPUSCHITZ

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Foto: IMAGO / Alex Halada

Kurz danach

FR E I L I CH


INNENPOLITIK

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roß ist der Jubel in freiheitlichen Kreisen über das politische Ende von Sebastian Kurz und den Niedergang der Österreichischen Volkspartei in den Umfragen. „Kurz muss weg“, der Schlachtruf der letzten Jahre war letztlich erfolgreich. Der türkise Shootingstar wurde durch die Chats seines Umfeldes von den Mächtigen seiner Partei unfreiwillig aus dem Amt geschossen und steht vor zumindest einer bis zwei Anklagen, wenn man den Gerüchten aus Justizkreisen folgen darf. Gleichzeitig steht die ÖVP nach ihrem Dreikanzlerjahr mit dem kommenden Untersuchungsausschuss vor einem Minenfeld, die Regierung agiert wie bei „Mr. Bean macht Regierung“, und eine massive Protestwelle fegt durch das Land. Der neue Bundeskanzler Karl Nehammer und sein Koalitionspartner, der türkise Umweltbund um Werner Kogler und Sigrid Maurer, verfügen nicht einmal mehr über die Unterstützung von 40 % der Bevölkerung. Die unbeliebteste Regierung aller Zeiten – mit einem Personal, so überfordert, dass man „Heimat bist du großer Töchter, Söhne“ auf dieses Kabinett sicherlich nicht anwenden kann. Große Zeiten für die Opposition – sollte man meinen. Und doch grundelt die SPÖ mit ihrer Parteichefin auf Abruf bei 25 %, die FPÖ hat sich mit ihrem Parteichef Herbert Kickl wieder auf 20 % hinaufgearbeitet und stellt den unbestrittenen Oppositionsführer, profitiert aber nicht wirklich vom Absturz der ÖVP, und die NEOS haben so viel Profil wie ein Sommerreifen mit 100.000 Kilometer Laufleistung. Bleibt die neue Protestbewegung MFG übrig, deren Erfolg aber nur mit einem Wunder länger andauern wird als das gescheiterte Katastrophenprojekt des Frank Stronach. Was ist also die große Veränderung des Endes der kurzen Kurz-Ära? Gibt es überhaupt eine, bis auf die wählertechnische „Normalisierung“ der Volkspartei nach dem türkisen Höhenflug?

N °16 / A PR I L 2022

Ja, denn derzeit ist die seit Jahrzehnten existierende bürgerliche Mitte-rechts-Mehrheit in Umfragen nicht mehr vorhanden. Und das deutlich. Gleichzeitig verfügt auch der linksliberale Block über keine Mehrheit, ist aber durchaus chancenreicher. Sie werden mit Recht einwenden, Umfragen seien wie Parfüm, man dürfe an ihnen riechen, aber nie trinken, doch der Trend ist eindeutig. Mit einer MFG, die knapp unter der Zweistelligkeit liegt, haben jedoch beide Reichshälften keine Hälfte, nicht einmal die für eine Mandatsmehrheit nötigen rund 47 % der abgegebenen Stimmen. Und Prognosen sind so schwer wie nie, weil es noch nie so viel unterdrückte Wut in der Bevölkerung gab. Jeder, der in Neuwahlen geht, kann sich nicht sicher sein, wie er abschneidet. FPÖ und MFG wohl ohne gröberes Risiko, aber für alle anderen Parteien kann alles passieren.

War also das Ende von Sebastian Kurz ein Pyrrhussieg für das bürgerliche Lager in Österreich? Ein klares Jein. Kurz war ein Janusgesicht. Einerseits eine erfolgreiche Koalition mit der FPÖ, andererseits anschließend problemlos mit den Grünen. Einerseits Handschlagqualität, andererseits der, der bei der ersten wirklichen Möglichkeit dem Partner das Messer in den Rücken rammt, während er ihn tröstend umarmt. Einerseits jemand, der freiheitliche Inhalte verkauft, aber gleichzeitig im Jahr 2021 in Koalition mit den Grünen die Asylquote um unglaubliche 162 % gesteigert hat. Ein EU-kritischer Politiker, der Milliarden mehr nach Brüssel überweist. Also eine Mogelpackung, inhaltlich flexibel wie ein Blatt im Wind, nur in freiheitlicher Regierungsbeteiligung mitte-rechts festgezurrt. Danach grüne Politik mit türkis-blauer PR. In der Privatwirt-

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INNENPOLITIK

Unter Kurz hat sich die „Neue Volkspartei“ stabilisiert gefühlt und hinter dem Superkanzler gesammelt. Jetzt ist wieder ÖVP angesagt.

schaft wird für die „dreisteste Werbelüge“ der „Goldene Windbeutel“ verliehen. Politisch hätte Kurz ein Dauerabo auf diesen Titel gehabt.

Was ist also im Jahr 1 nach Kurz die politische Perspektive, speziell für das bürgerliche Lager? Wer das mit Sicherheit beantworten kann, der weiß wohl auch die Lottozahlen vom kommenden Sonntag. Aber versuchen wir eine Analyse aus freiheitlicher Sicht. Die FPÖ ist unter Kickl trotz massivsten Gegenwindes aller maßgeblichen politischen und medialen Player wieder ein stabiler Machtfaktor in unruhigen politischen Zeiten. Jeder fünfte Wahlberechtigte unterstützt derzeit die Partei. Tendenz langfristig wohl steigend. Kickl hat die FPÖ von breiter Regierungspartei zu knallharter Opposition umprogrammiert. Die CoronaPolitik des neuen Parteichefs hat die FPÖ im österreichischen Parteienspektrum völlig isoliert, wie es nur zu Hochzeiten Jörg Haiders der Fall war. Der gewiefte Stratege an der Parteispitze weiß aber ganz genau, dass die Entwicklung der Pandemie ihm und seinem konsequenten Weg recht geben wird. In solchen Auseinandersetzungen gilt es, egal welcher Widerstand kommt, USP aufzubauen und später gemäßigter und bestätigt die Ernte am Wahltag einzufahren. Viele Leser dieses Beitrages werden sich an das „Ausländervolksbegehren – Österreich zuerst!“ von Jörg Haider erinnern. Es war kein Riesenerfolg, mittelfristig hat sich sogar ein Teil der Partei um Heide Schmidt abgespal-

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DAS BUCH

Hans-Jörg Jenewein, Autor und ehemaliger FP-Abgeordneter, kann ein Lied vom schwarzen Staat singen. Der Enthüller hat eine Hausdurchsuchung geschenkt bekommen, weil er sich den BVT-Apparat und dessen politische Einflussnehmer zu genau angeschaut hat. Hans-Jörg Jenewein: Der schwarze Faden Freilich Verlag, Graz 2021. ISBN 978-3-200-08015-7 A € 19,90 / D € 19,90

Im FREILICH-Buchladen erhältlich: freilich-magazin.at/buchladen

ten, und in den Umfragen war man in der Defensive. Mittelfristig war jedoch diese knallharte Positionierung der Grundstein für den weiteren Aufstieg der HaiderFPÖ. Und inhaltlich sind die damals für Lichtermeere sorgenden Forderungen in Österreich mehrheitsfähig geworden. Kickl setzt augenscheinlich auf eine ähnliche Methodik. Gewählt werden nicht Zauderer und Beliebigkeit, sondern Macher, denen man Veränderung zutraut, solange man die Balance zwischen Wählbarkeit und Kante nicht verliert. Kickl spielt auch gekonnt damit, dass er das gesamte Netzwerk aus Politik und Medien gegen sich hat. Gar nicht so sehr die FPÖ, sondern er als Person. Damit macht er sich zur zentralen Figur und zum Wahlmotiv.Auch wird die Bedeutung der Polarisierung oft unterschätzt. Heute, in Zeiten gewaltiger Politverdrossenheit, gewinnt derjenige Wahlen, der seine Anhänger zur Wahlurne bringt. Was der FPÖ-Chef vielleicht in Breitenwirkung an Defizit hat, das kompensiert er in Mobilisierung mehr als deutlich. Die FPÖ hatte bei den letzten Wahlen generell ein Mobilisierungsproblem, und ohne Kickl wäre das für die Freiheitlichen derzeit eine wirkliche Bedrohung.

Aber abgesehen von inhaltlichen Positionen: Niemand will mit einer KicklFPÖ, werden viele entgegnen. Derzeit ja, unbestreitbar. Neben dem Parteichef wecken ja auch viele zur Zeit medial exponierte Spitzenfunktionäre auf Bundesebene bei den anderen ParFR E I L I CH


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INNENPOLITIK

Das Theater um Kurz und Konsorten führt bei vielen Menschen zu intensiven Gefühlen der negativen Art.

teien nicht gerade den intensiven Wunsch nach einer koalitionären Zusammenarbeit. Aber die FPÖ war nie eine hübsche Braut für die Mitbewerber. Sexy waren immer die anderen. Und doch hat die FPÖ als Outlaw vier Regierungsbeteiligungen in Österreich erreicht. Dreimal mit der ÖVP, einmal mit der SPÖ. Warum? Weil speziell die ÖVP die FPÖ gebraucht hat. Weil es sonst keine Alternative zur Großen Koalition gab oder die Gefahr einer SPÖ-FPÖ-Koalition bestand. Wenn man die FPÖ braucht, wird man die FPÖ bitten, wenn nicht, dann wird man Kickl und Co. weiter dämonisieren. So ist Politik. Es geht um Macht und Machterhalt. Speziell die ÖVP ist hier flexibel wie ein Gartenschlauch. Selbst der türkise Messias Kurz wurde binnen Stunden geopfert, als man die reale Chance eines Machtverlustes wahrgenommen hatte. Und selbst die SPÖ wird zumindest überlegen, wenn sie die Wahl hat, Juniorpartner der ÖVP zu werden oder Kanzlerpartei mit der FPÖ. Diesbezügliche Signale der wahren sozialdemokratischen Mächtigen gibt es durchaus. Plus, ein gewaltiger Vorteil der Freiheitlichen: Sie können (mittlerweile) regieren, aber sie müssen nicht. Die FPÖ ist in der Opposition immer auf der sichereren Seite. Im Gegensatz zu SPÖ und besonders ÖVP hängt man nicht von Regierungsbeteiligungen ab. Eine ÖVP, nach über einem Vierteljahrhundert Regierungsabo im Trockendock der Opposition, ist überlebensgefährdet. Ohne Posten, ohne Regierungsbüros fehlt das zentrale Motiv und Bindeglied der ÖVP: Macht. Die Freiheitlichen sind jedoch in ihrer Grundstruktur keine automatische Regierungspartei. Zusätzlich ist hier die mangelnde personelle SystemN °16 / A PR I L 2022

verankerung der FPÖ ein Vorteil. Man hat kaum etwas zu verlieren, wenn man nicht regiert, und kann als Regierung politische Veränderung predigen wie auch umsetzen, ohne sich ins eigene Fleisch zu schneiden.

Aber das bürgerliche Lager, verliert es seine Mehrheit dauerhaft? Zumindest in den größeren Städten ist die sogenannte bürgerliche Mehrheit Geschichte. Wien ist eine linke Hochburg, und die demografische Entwicklung spricht auch nicht gerade für Rechtsparteien mit unveränderter Positionierung. Während es zum Beispiel Trump durchaus gut verstanden hat, auch normalerweise fast nur den Demokraten zugeneigte Bevölkerungsgruppen zu begeistern, schwächeln Österreichs Mitte-rechts-Parteien hier deutlich. Das hat natürlich diverse Gründe. Erstens sind Parteien, die das „christlich“ voranstellen, für die wachsende moslemische Bevölkerung eher subattraktiv, und Rechtsparteien, die „Daham statt Islam“ plakatieren und u. a. dafür gewählt werden, punkten deshalb aber auch schwer im ansonsten eher strukturkonservativen Zuwandererbereich, abgesehen von Zuwanderergruppen vom Balkan und aus Osteuropa, die aber in ihrer Wahlunterstützung deutlich überschätzt werden, wie die Wiener Landtagswahl gezeigt hat. Auch der gesellschaftliche Wertewandel unterstützt leistungsorientierte Parteien in keinster Weise. Wenn in Wien die überwiegende Mehrheit vom Staat lebt und ein Viertel der 18-Jährigen in der Mindestsicherung schaukelt, dann werden

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Foto: demofotos.at - Alois Endl

INNENPOLITIK

Klassisch rechtspopulistische Politik: Die FPÖ hat sich auch an der Corona-Protestbewegung gesundgestoßen.

DAS MAGA ZIN FÜR SELBSTDENKER

diese Bevölkerungsgruppen automatisch eher den Sozialregenparteien ihre Stimmen geben. Simplifiziert gesagt: Die, die immer mehr wollen, ohne mehr dafür zu tun, sind bei Links besser bedient und wissen das auch. ÖVP und besonders FPÖ werden sich hier eine neue politische Erzählung, neudeutsch: Narrativ einfallen lassen müssen. Ob das den Vertretern der reinen Lehre passt oder nicht. Entweder Kleinpartei oder Weiterentwicklung, wie Jörg Haider das unter dem Murren der immer Gleichen hervorragend geschafft hat. Haider ist nicht dem Zeitgeist hinterhergehechelt, er hat ihn geprägt. Am Land sieht die Situation generell noch anders aus. Aber auch hier werden sich Mitte- und Rechtsparteien etwas überlegen müssen, denn auch hier verändert sich die Bevölkerungszusammensetzung deutlich. Das US-Modell des Staatspatriotismus statt nationaler Modelle aus dem 19. Jahrhundert wäre beispielsweise eine Lösung. Eine Leistungserzählung wie unter Kreisky könnte dem bürgerlichen Lager neue Wählerkreise erschließen. Vereinfacht: „Es ist egal, woher du kommst, was du bist, sondern es zählt, wer du bist. Unterstütze die Gesellschaft, und die Gesellschaft unterstützt dich. Aufstieg durch Leistung. Gleiche Chancen für alle, aber keine soziale Hängematte für alle. Wer will, der soll können. Wer nicht will, der soll müssen. Wer nicht kann, der soll vertrauen können“, sind einfache Schlagsätze, die wohl mehrheitsfähig wären. Auch sind die Zeiten des Lagerdenkens überholt. Bis auf Freiheitliche und Grüne haben Österreichs Parlamentsparteien ihre Ideologie so lange durch Prag-

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POLITI SCHE STU DIE 10

Die Kickl-FPÖ Ausblick auf die politische Zukunft der Freiheitlichen in Österreich

DIE KICKL-FPÖ

Ist die Partei der Mann? Die Freiheitlichen sind so schnell benannt: Der Steger-FPÖ folgte die Haider-FPÖ, dann die Strache-FPÖ. Und nun, seit dem 19. Juni 2021, die Kickl-FPÖ. Anlässlich der notwendigen Obmannwahl nach dem Rücktritt Norbert Hofers hat die „Tagesstimme“ Autoren und politische Intellektuelle des Dritten Lagers gebeten, ihre Stellungnahmen abzugeben. Herausgekommen ist eine mehrstimmige Analyse des Ist-Zustandes der Freiheitlichen. Gratisdownload: freilich-magazin.at/studien

matismus ersetzt, bis der Pragmatismus zur machterhaltungsorientierten Beliebigkeit geworden ist. Mit brüchigem Fundament steht aber kein Haus auf Dauer, mag es noch so behübscht und mit neuen, beispielsweise türkisen Fassaden ausgestattet werden. Die Zeiten der bürgerlichen Allianz aus FPÖ und ÖVP gegen das „rote Gsindl“, wie die jetzige niederösterreichische Landeshauptfrau Mikl-Leitner den damaligen sozialdemokratischen Koalitionspartner bezeichnet hat, hat es ja auch nie gegeben. Diese Allianz wurde nur beschworen, wenn die ÖVP einen Vorteil dadurch hatte. Sonst waren die Freiheitlichen für die ÖVP widerwärtige Ausländerhasser, ungebildet und ungewaschen. Antieuropäische Böspopulisten. Und die erfolgreiche Positionierung der FPÖ als „Soziale Heimatpartei“ war eine klare und erfolgreiche rechtspopulistische Positionierung, keine klassisch rechte Politik. Die ÖVP ist wie der entfernte Cousin, der sich nur meldet, wenn er Hilfe braucht.

Was heißt das jetzt alles für Österreichs nächste Zukunft? Klare Antwort: nichts. Österreich befindet sich derzeit in einem politischen Patt und durch die CoronaPandemie in einer Ausnahmesituation, die ausklingend aussieht, wo sich aber niemand darauf verlassen kann. Bleibt die Corona-Situation bestimmend, wird sich wohl am Patt wenig ändern. Niemand, der das entscheidet, will wirklich Neuwahlen, trotzdem hat das ganze Land das Gefühl, in solche hineinzutreiben. FR E I L I CH


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Herbert Kickl ist ein stabiler Obmann, der freilich auch im Volk gut ankommt.

Was Neuwahlen gravierend ändern sollen, ist aber die Frage, denn keine Partei wird die Corona-Politik der FPÖ mittragen, und die FPÖ unter Kickl ist unverdächtig, ihre Positionen über Bord zu werfen. Wer Kickl für einen Kogler hält, der irrt. Bleibt also nur eine Koalition der „Systemparteien“, also jener politischen Bewegungen, die im Grunde inhaltlich austauschbar sind. Veränderungspotenzial: gering – bis auf noch höhere Steuern, noch höhere Zuwanderung, kombiniert mit noch belastenderer Klimapolitik. So reizvoll wie eine Corona-Infektion oder eine Zwangsimpfung. Anders wäre die Lage, wenn Medikamente, immer harmloser mutierende Varianten und wirtschaftliche Zwänge die Pandemie real beendeten. Dann rückten wieder andere Themen in den Mittelpunkt. Asyl- und Teuerungswelle wären perfekte Surfthemen für die FPÖ, aber auch die SPÖ, während ÖVP, Grüne und Linksliberale hier ein schweres Auswärtsspiel hätten. Eine rot-blaue Koalition wäre hier zumindest möglich, und, damit verbunden, weitaus bessere Karten für die SPÖ im Machtpoker. Auch hier würden beiderseits die Vertreter der reinen Lehre wohl die Nase rümpfen. Bisher waren aber Posten und Positionen immer noch attraktiver als Dünkel und Ideologie. Gute Verkäufer verkaufen aber nicht ihre Seele, sondern ihr Produkt in möglichst attraktiver Form. Die Frage ist grundsätzlich nicht: Mit wem?, sondern: Was setzt man durch, und was ist die mittelfristige Perspektive? Aber abseits aller strategischen Fantasiespielchen, die gerade die Politberater so gern betreiben, die loN °16 / A PR I L 2022

gischste Koalitionsvariante nach Wahlen ist bei derzeitiger Umfragelage völlig klar: die Renaissance der ehemals „Großen Koalition“. Haben ÖVP/FPÖ, ÖVP/Grüne/NEOS oder SPÖ/Grüne/NEOS, SPÖ/ FPÖ (als unvermeidbarer Notnagel bei Führungswechsel in der SPÖ) keine Mehrheit, dann ist die erneute Zusammenarbeit von Christlichsozialen mit Sozialdemokraten wohl wahrscheinlich. Wohl auch wahrscheinlicher als jede Dreierkonstellation bis auf SPÖ/Grüne/NEOS. Die Sozialdemokraten brauchen eine Regierungsbeteiligung wie einen Bissen Brot, weil in noch einer Legislaturperiode in Opposition ihr gesamtes Netzwerk im staatsnahen Bereich endgültig verschwindet, und die ÖVP hängt an der Regierung wie ein Heroinabhängiger an der Nadel. Inhaltlich sind beide Parteien großteils austauschbar und hätten hier wohl nur in der Macht- und Postenverteilung gröbere Probleme. Einzige Schwierigkeit: die unglaubliche gegenseitige Aversion und speziell der fast schon Hass der türkisen Truppe auf die Sozialdemokratie. Man darf nicht vergessen, es war das erklärte strategische Ziel der Kurz-ÖVP, die SPÖ langfristig als Gegner um die Kanzlerschaft auszuschalten. Man will nicht teilen. Das türkise Kuchendenken lässt dem Koalitionspartner keinen gleichen Anteil. Gleichzeitig haben die erneuten Mächtigen der Volkspartei, die Landeshauptleute, immer noch den Eigennutz über das Wohlergehen der Bundespartei gestellt. Wien ist weit, die Landespartei nah. Die Bundespartei zählt nur, wenn man etwas braucht, und brauchen kann man nur von einer Regierungspartei etwas. Das ÖVP-Sys-

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tem der Freunderlwirtschaft , immer an der Grenze zur Korruption, funktioniert nur mittels Ministerbüros.

Aber werden U-Ausschüsse, Prozesse und Wahlen nicht zum reinigenden Gewitter für Österreichs Parteien? Man muss kein Prophet sein. Österreichs Parteien werden ein neues Parteienfinanzierungsgesetz verabschieden, ein Transparenzpaket durch den Nationalrat schicken, neue Objektivierungsverfahren auf die Reihe bringen, eine Compliance beschließen – und ändern wird sich de facto? Nichts. Außer, dass Interventionen und Chats nicht mehr via WhatsApp passieren, sondern nach altem Modell direkt oder über sichere Messenger ohne Backup und mit automatischer Löschung. Solange die Wurst vor dem Hund hängt, wird er sie irgendwann fressen, egal, wie streng seine Erziehung war. Speziell, wenn der Hund so konditioniert ist. Postenschacher ist der Pawlow’sche Reflex der Parteien. Gibt es etwas zu verteilen, fangen sie an, gierig zu sabbern. Langfristig bleibt also alles beim Alten, bis auf einen dauerhaften Verlust der bürgerlichen Mehrheit? Das wäre möglich. Der unsichere Faktor ist aber die MFG. Nehmen wir hypothetisch an, die MFG zerstreitet sich nicht vor einer Nationalratswahl, was schwierig ist, denn in einem Bundeswahlkampf werden auch andere Positionen bekannt und sind zu klären, und eine so diverse Protestbewegung wird hier in massive Probleme schlittern. Beispielsweise werden FPÖ- oder ÖVP-affine Wähler, aber auch bisher nicht wählende Protestwähler mehrheitlich die MFG-Position zu mehr Sozialgeld für Zuwanderer ablehnen, der große grün-esoterische Teil dies befürworten. Aber raten wir, die MFG kommt deutlich in den Nationalrat. Dann wird Österreich wohl von einer „Großen Koalition“ aus SPÖ und ÖVP regiert. Nehmen wir weiters an, die MFG erleidet das Schicksal des BZÖ und des Team Stronach und zerfällt im Laufe der Legislaturperiode. Dann wird es mittelfristig spannend, weil ein großer Teil der MFG-Wähler nach derzeitigen Umfragen zur FPÖ wandern würde und es dazu kommen könnte, dass die dann durch die letzte Wahl höchstwahrscheinlich schon deutlich gestärkte FPÖ dadurch im Bestfall sogar zur Nummer eins in den Umfragen wird. Und damit werden alle Karten wieder neu gemischt. Aber das sind strategische Spielchen und Gedanken, die durch einen Skandal, eine Veröffentlichung, eine Personalie völlig verändert werden können. Nehmen wir nur zum Beispiel den gewaltigen Unterschied, ob Pamela Rendi-Wagner, Hans Peter Doskozil oder Michael Ludwig die SPÖ in die Nationalratswahl führen.

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Nicht nur in Prozenten wohl gewaltige Unterschiede, was ganz andere Koalitionen ermöglichen kann, sondern auch inhaltlich, was ebenso neue Möglichkeiten erschließt oder verschließt.

Heimo Lepuschitz ist politischer Kommunikationsspezialist und war Medienkoordinator der letzten ÖVP-FPÖRegierung. Er ist auf Strategieberatung, Public Affairs und Krisenkommunikation spezialisiert.

Was ist fix? Was soll die FPÖ machen? Wie beim Lotto: „Nix is fi x“, aber aus freiheitlich-affiner Beratersicht würde der Autor dieser Zeichen folgende Binsenweisheiten voranstellen. Sei als FPÖ wie die FPÖ, verbiege und verstelle dich nicht. Übertreibe nicht, ohne zu vermainstreamen. Der politische und mediale Mainstream wird immer woanders sein. Halte zusammen. Stark wird eine FPÖ nur durch ihre Wählerschaft und ihren Zusammenhalt. Lass dir nicht jeden Funktionär oder jedes Mitglied bei der kleinsten Aufgeregtheit herausschießen, aber klare Kante bei Grenzüberschreitungen. Erschließe systematisch neue Zielgruppen, ohne den Markenkern zu verändern. Härte und Konsequenz werden bewundert, aber ohne Sympathie wird es schwierig. Keine Buberlpartie, aber Schmäh und Lässigkeit erreichen oft mehr als Schreien und Keifen auf den hinteren Rängen. Und finde eine neue Erzählung für urbanes Publikum, für Junge, für Frauen. Lederhosen und Humptata sind großartig, aber gerade im urbanen Bereich politisch nicht der Bringer. Und, ganz wichtig: Bau dir eine treue Stammwählerschaft. Nur mit dieser kann man langfristig alles überleben. Kurzfristige Protestwähler sind die Marmelade, nicht das Brot. Kurzzusammenfassung: Was bringt die Zukunft? Niemand kann das mit Sicherheit beantworten. Sicher ist nur: Wer nichts tut, mit dem kann man alles machen. Es gibt aber trotzdem eine bürgerlich-konservative Mehrheit in diesem Land, wenn man die Sozialdemokraten jenseits der Boboviertel miteinrechnet. Der linksliberale mediale Mainstream mag mittlerweile die veröffentlichte Meinung beherrschen. Österreichweit hat er noch nie Wahlen gewonnen. Ob das so bleibt, liegt an der Standhaftigkeit der Bürgerlichen. Knicken sie weiter so ein, weil sie vom selbst ernannten Mainstream der Minderheit geliebt werden wollen, dann werden sie verlieren. Oder besinnen sich Österreichs Bürgerliche ihrer Grundwerte und vertreten diese auch selbstbewusst und modern, dann ist eine linksliberale Mehrheit chancenlos. Wenn Bürgerliche die besseren Linken sein wollen, werden sie aufgerieben. Die CDU nach Merkel, die Mitterlehner-ÖVP sind beste Worst-Case-Beispiele. Politiker, am höchsten gelobt von jenen, die diese nie wählen würden. Besser bei den Bobos unbeliebt, aber bei den Bürgern mehrheitsfähig. FR E I L I CH


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Die AfD komplettiert die Der Kampf um die Ukraine ist Demokratie als parlamentarische zum Krieg eskaliert. Eine Nation Rechte. Wir erklären, was das kämpft gegen die Angreifer. freiheitliche Lager in Deutschland ausmacht. Seite 20

gerüstet Zukunft

Die einen denken so. Die anderen so. Leider gibt mehr solche. Wie sich Linke und Rechte umkreisen. Und warum wir mit dem Spiel mehr Spaß haben sollten. Seite 10

Die Kinder übernehmen das Kommando. Und wollen verbieten, umregeln und eine schöne neue Welt bauen. Das neue BürDer Soldat allein ist längst kein gertumRadikalisierung ist außen grün –und Lockdown, politische freier Mann mehr. Und umund den innen rot. Untergang des Abendlandes: Da kommt Zustand der heimischen Armeen 20 ganzDabei schöndrohen wasSeite zusammen. Doch mit der steht es schlecht. wächst Rettende auch. Warum immer mehr Gefahr Gefahren. Wiedas schaut widerständiges die Zukunft des Krieges aus?Dasein so wichtig ist. Seite 10

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N °16 / A PR I L 2022

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E S S AY

Des Menschen Wolf VON NIKLAS E. HARTMANN

„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ist der neue Steckenpferdbegriff im politischen Kampf. Wer wen nicht mag, darf damit gegeißelt werden. 26

FR E I L I CH


E S S AY

Wir sind wir

Foto: Warner Bros / Ronald Grant Archive / Alamy Stock Foto

Jeder gegen jeden ist nicht. Menschen organisieren sich gern in Gruppen, und manchmal meinen auch Gruppen, dass sie andere nicht mögen. Szene aus dem Filmklassiker „Uhrwerk Orange“ (1971) von Stanley Kubrick.

Mitte Mai 2021 teilte die deutsche Bundesregierung in einer Pressemitteilung mit, dass für sie „die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus, von Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit und allen weiteren Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit [GMF] oberste politische Priorität“ habe. Deutschland sei „ein Land der Vielfalt“. Diese „Priorität“ lässt sich die Bundesregierung etwas kosten. Bei der Bekämpfung von GMF wird nämlich nicht gekleckert, sondern geklotzt. Rund eine Milliarde Euro, nur für den Zeitraum von 2021 bis 2024, soll hierfür bewegt werden. Während in der obigen Aufzählung Rechtsextremismus noch eine Erscheinungsform Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit darstellt, erfolgt bei der SPÖ ihre Gleichsetzung mit Rechtsextremismus, wenn auf deren Netzseiten davon die Rede ist, dass RechtsexN °16 / A PR I L 2022

tremismus „ein Sammelbegriff für alle Haltungen“ sei, „die von einer radikalen Ungleichheit und einer damit verbundenen Ungleichwertigkeit von Menschen bzw. Menschengruppen ausgehen“. GMF richte sich besonders „oft gegen Frauen, Jüdinnen und Juden, Migrantinnen und Migranten, aber auch Arbeitssuchende und arme Menschen“. „Pseudobiologistische Argumente“ würden ausgegraben, um „natürliche“ Hierarchien zu begründen, in denen sich Rechtsextreme „ausgerechnet selbst als Elite“ sähen. Damit ist klar, dass das breite Spektrum von Erscheinungsformen der GMF für Rechtsextreme oder diejenigen, die dafür erklärt werden, reserviert ist. Die Häufigkeit, mit der das Begriffsungetüm GMF im öffentlichen Diskurs ins Gespräch gebracht wird, unterstreicht dessen beachtliche Karriere in den letzten Jahren. Mittlerweile

GESPROCHENE WAHRHEIT

Der Autor, ein gelernter Literaturwissenschaftler, unterwirft die Narrative deutscher Politik einer scharfen Analyse, so z. B. auf den Feldern der „Willkommenskultur“ oder des menschengemachten Klimawandels. Nur wer die Bewegungsgesetze dieses Sprachregimes dechiffrieren kann, so die Kernbotschaft des Buches, ist in der Lage, seine Macht einzudämmen oder zu brechen. Michael Esders: Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Lüdinghausen u. Berlin 2020, 148 Seiten. ISBN 978-3-948075-14-9 A € 18,50 / D € 18,00

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E S S AY WENDE

Auf Anregung ihres Lehrers Friedrich H. Tenbruck versuchen die Autoren, allesamt Soziologen, vor allem aufzuzeigen, welchen Einfluss die Frankfurter Schule auf die intellektuelle Bewältigung der NS-Zeit hatte. Die Autoren zeichnen nach, wie die Begründer der Kritischen Theorie, vorrangig Adorno und Horkheimer, als „Vollstrecker des ,Reeducation‘Programms“ der USA, so Uwe Justus Wenzel in einer Rezension für die „Neue Zürcher Zeitung“, so etwas wie die geistigen „Gründungsväter“ der Bundesrepublik werden konnten. Clemens Albrecht, Günter C. Behrmann, Michael Bock, Harald Homann, Friedrich H. Tenbruck: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule Campus Verlag, Frankfurt u. Berlin 2007, 649 Seiten ISBN 978-3-5933854-4-0 A € 41,10 / D € 39,95

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begründet es sogar Nationale Aktionspläne, wie der Verfasser in dieser Zeitschrift (Freilich 15/2021) bereits dargelegt hat. Als sein Urheber gilt der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer, der 1996–2013 das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) leitete. Seit Heitmeyers Ausscheiden leitet Andreas Zick das Institut, der in den bundesdeutschen Leitmedien ein gern gesehener Interviewpartner ist. Auch in seiner Arbeit bildet GMF einen wichtigen Baustein. Worin der Reiz dieses Begriffes liegt, liegt auf der Hand: Er ist für das linke Milieu eine ideale Begriffswaffe, die zudem mit den Weihen sozialwissenschaftlicher Absicherung versehen ist. Der Begriff GMF will abwertende Einstellungen gegenüber Gruppen oder Personen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit markieren. Die Bielefelder Forscher sprechen in diesem Zusammenhang von der GMF als einem „Syndrom“, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass verschiedene Symptome – oder besser Vorurteile – häufig gleichzeitig oder korreliert auftreten können. Das Syndrom GMF umfasst derzeit die Elemente Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Behinderten, Islamfeindlichkeit, Sexismus, Etabliertenvorrechte, Abwertung von Langzeitarbeitslosen. Da sich dem einen oder anderen womöglich nicht erschließt, was Etabliertenvorrechte in diesem Umfeld bedeuten: Gemeint sind hier zum Beispiel autochthone Deutsche oder Österreicher, die der Auffassung sind, dass sie mehr Rechte haben sollten als etwa zugezogene Migranten. Diese abwertenden Einstellungen werden in der Sozialpsychologie als Vorurteile bezeichnet. Deren Ausdrucksformen seien laut Zick und der Sozialwissenschaftlerin Beate Küpper „Hass, stereotype Wahrnehmung oder diskriminierendes Verhalten“. Zu den Postulaten der GMF gehört, dass Vorurteile gegenüber einer Gruppe, wie beispielsweise Migranten, in der Regel nicht allein aufträten, sondern zusammen mit der Abwertung anderer Gruppen. Beide Wissenschaftler sind sich einig, dass es vor allem eine ideologische Grundhaltung ist, die ein besonders wichtiger Faktor für Menschenfeindlichkeit ist, nämlich die „Neigung einer Person zum Autoritarismus“, was beispielsweise in einer „übersteigerten positiven Einstellung zu Law-and-Order“ zum Ausdruck kommen soll. Weiter wird die „Bereitschaft zu Gehorsam“ genannt, die mit einer „expliziten Befürwortung von sozialen Hierarchien und

[der] generelle[n] Ablehnung von kultureller und religiöser Vielfalt“ einhergeht. Diese Disposition führt zu einer „höheren Zustimmung zu allen Elementen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. „Wer ganz allgemein Hierarchien zwischen sozialen Gruppen“ befürworte, der tendiere nach Zick und Küpper „mit einer höheren Wahrscheinlichkeit nicht nur zur Abwertung einer spezifischen Gruppe, sondern in der Regel zur Abwertung einer ganzen Reihe von Gruppen“. So gingen beispielsweise „Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Homophobie nicht selten Hand in Hand“. Dieses Zusammenspiel von Vorurteilen bildet nach Heitmeyer das „Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, das von einem „gemeinsamen Kern“ zusammengehalten werde, der sich als „Ideologie der Ungleichwertigkeit beschreiben“ lasse. Über die Entwicklung der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Deutschland wird jährlich Bericht erstattet. Von 2002 bis 2011 untersuchte eine Forschergruppe unter der Leitung des Soziologen Wilhelm Heitmeyer mittels repräsentativer Befragungen deren Entwicklung und veröffentlichte die Ergebnisse jährlich in der Reihe „Deutsche Zustände“. Seit 2002 erscheinen weiter die Leipziger Studien zu autoritären und rechtsextremen Einstellungen in Deutschland, erarbeitet von einer Arbeitsgruppe der Universität Leipzig um die Sozialpsychologen Oliver Decker und Elmar Brähler. Seit 2018 ist nicht mehr von „Mitte“-, sondern von „Autoritarismus“-Studien die Rede, und zwar deshalb, weil nun der Schwerpunkt auf der Untersuchung „autoritärer Dynamiken“ liegt. Auf den Netzseiten der Universität Leipzig kann nachgelesen werden, dass die Studie von 2006 bis 2012 „in Kooperation“ mit der SPDnahen Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt wurde. 2016 konnten die Otto-Brenner-Stiftung (Stiftung der Gewerkschaft IG Metall), die Linke-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung als Kooperationspartner gewonnen werden. 2018 und 2020 wurde die Studie von der HeinrichBöll-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung unterstützt. Die Präsentation dieser ideologielastigen Studien erfreuen sich eines großen medialen Interesses, werden sie doch gern als Beleg dafür hergenommen, wie groß die Gefahr von rechts in Deutschland sei, was wiederum einen warmen staatlichen Geldregen für alle möglichen „Kampf-gegen-rechts“-Initiativen zur Folge hat. Wem das alles – Autoritarismus, VorurteiFR E I L I CH


E S S AY

le – irgendwie vertraut klingt, liegt nicht falsch. Es handelt sich hier um Leitbegriffe des Instituts für Sozialforschung (IfS), die in der von Theodor W. Adorno herausgebrachten Studie „The Authoritarian Personality“ (New York 1950, dt. „Studien zum autoritären Charakter“, 1973) ihre theoretische Unterfütterung fanden. Die Adaption dieser Studie durch die Leipziger „Mitte“- bzw. „Autoritarismus“-Studien und Heitmeyers Ausweitung der Theorie der „autoritären Persönlichkeit“ hin zum „Syndrom GFM“ bedeuten die Übernahme ideologischer, konkret: neomarxistischer Gehalte, die weitreichende Konsequenzen für deren Erklärungswert haben. Die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule steht für eine Synthese von neomarxistischen und psychologischen Theorien, die mit Sigmund Freud in Verbindung stehen. Der Sozialwissenschaftler Albert Krölls nannte das daraus entstehende Amalgam, das heute laut „Spiegel“ (34/2019) vor dem Hintergrund des Aufstiegs des Rechtspopulismus wieder „Konjunktur“ habe, „Psychomarxismus“. Von diesem Geist sind denn auch etliche der Studien des Bielefelder IKG geprägt, wie sie hier bereits vorgestellt wurden. Ihr Ausstoß, häufig durch staatliche Fördergelder alimentiert, steigt proportional zur Intensität, mit der von staatlicher Seite der Kampf gegen rechts forciert wird. Hierbei spielt, das zeigen die Beispiele des Bielefelder IKG, aber auch die „Mitte“- und „Autoritarismus“-Studien, auf die noch zurückzukommen sein wird, der Frankfurter „Psychomarxismus“ eine zentrale Rolle. Er gehört zur DNA der „intellektuellen Gründung der Bundesrepublik“ (2007), wie sie von Clemens Albrecht u. a. skizziert worden ist. Ohne diesen „Psychomarxismus“ wäre eine Begriffswaffe wie die GMF nicht denkbar. Und in diesem Zusammenhang kommt der 1950 publizierten Studie „The Authoritarian Personality“ eine Schlüsselrolle zu. Der eigentliche Theoretiker des „autoritären Charakters“ ist aber nicht Adorno oder einer der anderen (heute weitgehend unbekannten) Autoren dieser Studie, sondern Erich Fromm, der Mitte der 1930er-Jahre von Horkheimer und Adorno aus dem IfS gedrängt wurde. Fromm rezipierte dabei Thesen des Psychoanalytikers Wilhelm Reich zum Zusammenhang von „autoritärer Triebunterdrückung“ und „faschistischer Ideologie“. Fromms Vergehen bestand darin, so Jochen Fahrenberg und John M. Steiner in einem Beitrag für die „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ (56/2004), Sigmund Freuds Theorie „in unzulässiger Weise revidieN °16 / A PR I L 2022

ren [zu] wollen“. Im Kern ging es hierbei darum, dass sich Fromm vom Triebmodell Freuds allmählich löste und sich den Neoanalytikern annäherte, die die Bedeutung der interpersonalen Beziehungen für die Entwicklung des Menschen stark akzentuierten und damit dem angeborenen Sexual- und Aggressionstrieb eine geringere Rolle zuwiesen. Mit seiner Revidierung des psychoanalytischen Konzeptes von Freud (Triebstruktur, Libido, Todestrieb, Ödipuskomplex) geriet Fromm zunehmend in Opposition zu Adorno und Horkheimer, die Fromms Aktivitäten als „revisionistische“ Infragestellung des Kerns der „Kritischen Theorie“ deuteten, nämlich der Verbindung von marxistischer Kapitalismuskritik mit der Triebtheorie Freuds. Im Freud’schen Gegensatz von Trieb und Kultur sahen die Vertreter der Frankfurter Schule, so der Psychologe Moritz Nestor in der Schweizer Zeitung „ZeitFragen“ (1999), nämlich „den Ansatzpunkt, um die bürgerliche Gesellschaft zu erschüttern“. Es galt, „die durch die Kultur angeblich unterdrückten Triebe zu entfesseln und die Menschen in den Kampf gegen die Normen und Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft zu führen“. Der Sexual- und Aggressionstrieb verkörpere den „gesellschaftlichen Gegensatz von Kapitalisten und Arbeitern“. Eine psychotherapeutische Auflösung des Aggressionstriebes lehnten sie als „Revisionismus“ ab, weil damit das Widerstandspotenzial gegen die bürgerliche Gesellschaft geschwächt werde und eine Anpassung an die Gesellschaft die Folge sei. „Revisionisten“ waren für Adorno letztlich all jene, so resümiert Nestor, „die einen Anspruch auf therapeutische Arbeit im Hier und Jetzt und am einzelnen Menschen haben“, die in der bestehenden Gesellschaft „konstruktiv wirken wollen“. Das lief aus seiner Sicht auf eine „Verlängerung des Fortbestandes der demokratischen Ordnung“ hinaus, die „letztlich in den Faschismus geführt“ habe. Dieser Standpunkt ist vor dem Hintergrund der marxistischen Kontinuitätsthese und auch Klassentheorie zu sehen, bei der der „Bürger“ im Ruch steht, latent „faschistoid“ und vorurteilsbehaftet gegenüber „Schwachen“ und „Marginalisierten“ zu sein, die nicht mit dem „bürgerlichen“ Wertekonsens in Übereinstimmung zu bringen sind. Trotz dieser neomarxistischen Verortung bildet die Studie „The Authoritarian Personality“ eine Art Blaupause für die Bielefelder Reihe „Deutsche Zustände“ (2002–2011) unter der Leitung von Heitmeyer und die bereits angesprochenen „Mitte“- oder „Autoritarismus“Studien. Die „Deutschen Zustände“ beabsich-

Der eigentliche Theoretiker des „autoritären Charakters“ ist nicht Adorno, sondern Erich Fromm, der Mitte der 1930er-Jahre als „Revisionist“ aus dem Institut für Sozialwissenschaften (IfS) gedrängt wurde.

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Der angebliche „antiautoritäre Impuls“ der Frankfurter Schule ist zu einem „Politwächtertum“ mutiert und als „autoritärer Charakter“ wiedererstanden.

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tigten, so Heitmeyer und seine Mitstreiter 2002 im ersten Band, „einen Beitrag zur Selbstaufklärung der Gesellschaft zu leisten sowie eine Art der Selbstreflexion auf Dauer etablieren“. Heitmeyer versucht den Zusammenhang mit der „Authoritarian Personality“ zumindest in den Hintergrund zu drängen, als er mit Blick auf seine Buchreihe „Deutsche Zustände“ auf die Artikelserie „Französische Zustände“ rekurrierte, die Heinrich Heine 1832 verfasste. Dem Bielefelder Soziologen und seinen Adepten geht es darum, das gesellschaftliche Umfeld daraufhin abzuklopfen, ob und inwieweit es Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder Diskriminierung begünstigt. Adornos Blick hingegen galt vor allem dem Antisemitismus, der nur einen Teilbereich innerhalb der Merkmale der GMF bildet. Auch die Leipziger „Mitte“- und „Autoritarismus“-Studien kommen nicht ohne das Syndrom GMF aus, rekurrieren aber ganz offen auf Adornos Vorarbeiten. Sie verstehen, so Oliver Decker, GMF als „Teil des autoritären Syndroms“. Wer diese „Aggressionen in sich“ trage, schaffe „sich die Objekte für die Abwertung“. Gemäß den Ausführungen des Sozialpsychologen Decker und des medizinischen Soziologen Brähler auf den Netzseiten des „Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft“ umfasse das „autoritäre Syndrom“ als „individuelle Ausprägung“ in direkter Anknüpfung an die Thesen Adornos „als zentrale Elemente Konventionalismus, autoritäre Unterwürfigkeit und autoritäre Aggression“. Konventionalismus meint hier „die rigide und unhinterfragte Übernahme gesellschaftlicher Normen, autoritäre Unterwürfigkeit die unkritische Unterwerfung unter Autoritäten“. En passant: Das „Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft – Thüringer Dokumentations- und Forschungsstelle gegen Menschenfeindlichkeit“ (IDZ) mit Sitz in Jena ist eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung in Trägerschaft der bestens bekannten AmadeuAntonio-Stiftung. Es ist Teil des 2020 gegründeten „Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ), das von dem deutschen Ministerium für Bildung und Forschung bis 2024 mit 40 Millionen Euro gefördert wird. Hier beschäftigt sich das IDZ mit Themen wie „Internationaler Rechtspopulismus im Kontext globaler ökologischer Krisen“, „Relativierung, Revisionismus, Wiederkehr. Die Abwehr der Erinnerung an den Nationalsozialismus seit 1990 und ihre Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“ oder „Diversität – Engagement – Zusammenhalt: In- und Exklusions-

erfahrungen gesellschaftlich marginalisierter Gruppen“. In der Medizin und der Psychologie bezeichnet „Syndrom“ ein durch das gemeinsame Auftreten bestimmter charakteristischer Symptome gekennzeichnetes Krankheitsbild, womit sowohl Decker und Brähler, aber auch Heitmeyer und seine Adepten hinsichtlich der GMF zu erkennen geben, was ihnen mit Blick auf ihr Forschungsfeld „Autoritarismus“ und, dahinterstehend, die „rechtsextreme Persönlichkeit“ von Bedeutung ist, nämlich den Nachweis zu führen, dass es sich hier um ein Krankheitsbild handelt. Rechtsextremisten oder wahlweise auch Rechte sind demnach Menschen mit gestörter Psyche, die „irrationale“ Standpunkte vertreten. Es geht den Leipziger und Bielefelder Gesinnungswächtern aber nicht nur um den „rechtsextremen“ Rand; verdächtig ist ihnen auch die „Mitte“, die in der Leipziger „Mitte“-Studie 2016 als „enthemmt“ charakterisiert wurde. Diese Charakterisierung ist indes nur folgerichtig, hatten doch Brähler und Decker bereits 2013 ein Kompilat ihrer „Mitte“-Studien unter dem bizarren Titel „Rechtsextremismus der Mitte“ herausgegeben. Unheilschwanger heißt es hier mit Rückgriff auf die einschlägige Studie des US-Politologen Seymour Martin Lipset über den „Extremismus der Mitte“ (in dessen Buch „Political Man“, 1959): „Das gesellschaftliche Zentrum kann zur Bedrohung der bestehenden Gesellschaftsordnung werden“, die „gesellschaftliche Mitte ist nicht davor geschützt, selbst zur Bedrohung der demokratisch verfassten Gesellschaft zu werden“. In „unseren ,Mitte‘-Studien“, so die Herausgeber, seien Lipsets „Erkenntnisse mit den prominenten ersten Untersuchungen zum Vorurteil des exilierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung verbunden [worden]. Von den Studien ,Autorität und Familie‘ und ,Der autoritäre Charakter‘ ausgehend, haben wir mit unserer Formulierung vom ,Veralten des autoritären Charakters‘ die Gültigkeit ihrer Annahmen für die heutige Zeit bestätigt.“ Einmal mehr wird hier der Versuch unternommen, zwischen bürgerlicher Gesinnung und Rechtsextremismus eine Verbindung herzustellen. Dieser von interessierten linken Kreisen immer wieder unternommene Versuch, diese Verbindung in immer wieder neuen Anläufen zu erhärten und nachzuweisen, kommt nicht von ungefähr. Er folgt dem marxistischen Ideologem, dass die bürgerlich-demokratische Gesellschaft immer anfällig für totalitäre Herrschaft sei, dass sie latent „faschistisch“ sei und FR E I L I CH


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damit das auspräge, was Heitmeyer und seine Adepten als „Syndrom der GMF“ ausgemacht haben wollen. Daraus folgt, dass die bürgerlich geprägte Gesellschaftsordnung nie dagegen gefeit ist, in eine autoritäre, „faschistische“ Diktatur zu mutieren. Welcher Geist hinter dieser Annahme steht, hat der Bildungsforscher Joachim Hoefele in einem Beitrag für „Zeit-Fragen“ (1999) aufgezeigt. Er verweist auf den VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, auf dem deren Generalsekretär Georgi Dimitroff behauptete, der „totalitäre Staat“ sei die Ablösung einer „Staatsform der Klassenherrschaft der Bourgeosie, der bürgerlichen Demokratie“, durch eine andere, durch die „offene terroristische Diktatur“. Die von linker Seite hergestellte Verbindung von „bürgerlicher Gesinnung“ und Rechtsextremismus in Gestalt des „autoritären Charakters“ – oder, jetzt im neuen Gewand, in Gestalt der Erscheinungsformen des „Syndroms der GMF“ – gehe, so Hoefele, „letzten Endes auf die marxistische Geschichtskonstruktion“ zurück, die von Horkheimer und Adorno aufgegriffen worden sei. Damals wie heute lautet das Ziel letztlich, „jeden unbescholtenen Bürger als einen heimlichen Faschisten, Rassisten oder Antisemiten“ und damit als „menschenfeindlich“ zu denunzieren. Damit aber werden auch die Werte und Normen der „bürgerlichen Gesellschaft“ als „unterschwellig faschistisch, rassistisch oder potentiell antisemitisch“ (Hoefele) kontaminiert. Diese Diagnose wirft ein grelles Licht auf die aktuellen Ausprägungen und die Schärfe des „Kulturkampfes“ sowohl in Deutschland als auch in Österreich, in dem die linke Seite im Sinne Herbert Marcuses immer offener „parteiische Toleranz“ zur Durchsetzung von Diversität, Gleichberechtigung oder Multikulturalität an den Tag legt, die gleichsam die Antithesen zur „autoritären Persönlichkeit“ und deren Anfälligkeit für die verschiedenen Ausprägungen der GMF bilden. Nicht die Duldung divergierender Ideen ist nach Marcuse ein Zeichen von Toleranz, so der Politologe Stefan Wallaschek, sondern gerade deren Ablehnung zugunsten eines Verständnisses von Toleranz, das für die Emanzipation der Individuen jenseits existierender Herrschaftsmechanismen optiert. Die Linke reklamiert für sich, genau dafür einzustehen. Neutrale Toleranz, die alle möglichen (und damit auch „rechten“) Meinungen nebeneinanderstehen lasse, wirke hingegen als „repressive Toleranz“ systemstabilisierend, weil sie die wirklichen Machtverhältnisse „verschleiere“. Es geht Marcuse demnach N °16 / A PR I L 2022

um die „Negation des Bestehenden“ und, so Wallaschek, „um die Emanzipation aus eben diesen Verhältnissen“, was nichts anderes als Gesellschaftstransformation heißt. Es liegt in der Logik dieses Denkens, dass der angebliche „antiautoritäre Impuls“, der von der Frankfurter Schule ausgegangen sein soll, zu einem „Politwächtertum“ mutiert und damit als „autoritärer Charakter“ wiedererstanden ist, wie der Philosoph Alexander Grau in einem Beitrag für die „Neue Zürcher Zeitung“ feststellte. Diese „autoritären Charaktere“ finden sich heute allerdings in den Reihen der sich weltläufig gebenden Toleranzprediger, die mittels einer „rigiden Intoleranz“ – deren Legitimation wahlweise aus den Konsequenzen von Klimakrise und Energiewende, der Globalisierung oder den Folgen der Massenmigration abgeleitet wird – bestrebt sind, Meinungsmacht auszuüben, um damit den „vorpolitischen Raum der Diskurse zu beherrschen“. Das geschieht durch systematische Ausgrenzung, Sprachkontrolle – vgl. z. B. Michael Esders’ „Sprachregime“ – und andere Formen der Meinungsbeeinflussung. Alexander Grau ist deshalb der Auffassung, dass es ein „neues (und anderes) 68 braucht“. Er verkennt, dass es hierfür mit Blick auf Deutschland einer intellektuellen Umgründung der Bundesrepublik bedarf, die, folgt man den Thesen von Clemens Albrecht u. a. zur „Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule“, auf den neomarxistisch inspirierten Theoremen der Frankfurter Schule und ihrer Adepten fußt. Spätestens mit der Formel „Rechtsextremismus der Mitte“ sieht sich jeder autochthone Deutsche und auch Österreicher unter Faschismusverdacht gestellt. Aufgabe rechter oder auch konservativer Politik im „Kulturkampf “ muss es daher sein, die skizzierten Zusammenhänge, die unsere Demokratie in ihrem Kern zu verändern drohen, immer wieder offenzulegen und zu bekämpfen. Es gilt, der Linken die sprachliche Deutungshoheit über pseudowissenschaftliche Erklärungsmodelle wie „Autoritarismus“ oder „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ streitig zu machen, mit deren Implementierung sie gesellschaftsverändernde Ziele verknüpft. Umso wichtiger ist es, Begriffswaffen wie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ oder „Autoritarismus“ als das zu entlarven, was sie sind: Ideologeme, die einzig dazu dienen, den letzten Rest von nationalem und kulturellem Eigensinn, der in Deutschland und Österreich noch verblieben ist, im Namen von „Diversität“ und „Toleranz“ zu schleifen.

Niklas E. Hartmann geb. 1991 in Stade, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte. Lebt und arbeitet als freier Lektor, Publizist und Übersetzer in Hamburg.

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Wir Putinversteher VON HANS-JÖRG JENEWEIN

Der Krieg in der Ukraine entsetzt Europa. Das Abenteuer ist aber auch Ergebnis einer Politik, der Russland durch Setzen militärischer Tatsachen entkommen will.

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Der Naturbursch: Wladimir Putin wird auch als Jäger inszeniert und genießt seine Präsidentschaft in der Landschaft.

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enn sich historische Ereignisse überschlagen – und der zur Stunde laufende Krieg in der Ukraine ist zweifelsfrei ein solches Ereignis – sind sowohl die Beurteilung der Lage als auch die Einordnung des eigenen Standpunktes und die Reflexion der bisherigen Überzeugungen höchst schwierig und – um ein Modewort zu gebrauchen – volatil. Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation, galt schon in der Vergangenheit als Reibebaum bei jenen, deren politische Sympathien im anglo-amerikanischen Raum und dort wiederum eher im linken oder liberalen Eck zu finden war. Putin war so etwas wie die „Antithese“ zum westlichen Zeitgeist, das Gegenteil von stromlinienförmig, und seine gesellschaftspolitische Ausrichtung passte so gar nicht zum „Genderzeitgeist“, zu den Problemchen der westlichen Welt, die sich in den vergangenen Jahren zwischen Lastenfahrrad, Greta Thunberg, #metoo-Bewegung und Diversitätsdebatte verloren hatte. An Wladimir Putin ist die westliche Identitätspolitik vorbeigegangen, der westeuropäische Zeitgeist konnte sich daher an Putin fantastisch reiben. Auch als im Jahr 2020, die Corona-Pandemie die Staaten fest im Griff hatte, war es Russland, das den ersten Impfstoff auf den Markt brachte. Und ob der „Westen“ das goutierte, ob jene Geimpften, die in Russland dann als „immunisiert“ galten, in anderen Staaten anerkannt wurden oder nicht, war dem Präsidenten herzlich egal. Er machte sein Ding, er war unkonventionell, und die Kritik des Westens prallte wirkungslos ab. Für viele der „alten weißen Männer“, wie uns die Sprache der linken Dialektik so gern abwertend nennt,

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Matryoschkas mit Putin. Immer die Frage: Was ist drin?

dieser Wladimir Putin auch ein Anker, denn wähDurch Russland war rend man in Europa für eine flapsige Bemerkung sehr fühlten sich schnell einen „Shitstorm“ erntet, während die Meinungsmacher – auch repräsentiert durch sogenannte vor allem jene „Putinversteher“ Alphajournalisten – mittels Moraldebatte die willkürlichen Grenzen der politischen Korrektheit mal so und repräsentiert, mal so definieren, vermittelt das russische Imperium, dieser staatliche und gesellschaftliche Koloss, Ruhe, Gedie an konserlassenheit und Konservativismus (welch abscheuliches vative HeimatWort …). und FamilienWenn wieder einmal in einer hysterisch besetzten werte glauben. Runde des öffentlichen Rundfunks über Putin hergezogen wurde, dann konnte man sich sicher sein: Ganz so Aber es ist mit falsch lag man mit den eigenen Beurteilungen gar nicht. Westeuropa Ganz im Gegenteil. nicht zu vergleichen. Russland Das Messen mit zweierlei Maß Durch Russland fühlten sich vor allem jene repräsenist eine Autotiert, die an konservative Heimat- und Familienwerte kratie. glauben, deren politische Agenda nicht von Alarmismus und Hysterie geprägt ist, und auch all jene, die der Ansicht sind, dass Gesellschaftspolitik nicht von einer lauten politischen Minderheit verordnet und mit dem pädagogischen Zeigefinger auferlegt werden darf. Und was war mit den Menschenrechtsverletzungen in Russland? Hat die der „Putinversteher“ einfach akzeptiert? Die Auftragsmorde? Die Gefängnisstrafen für Oppositionelle? Die Verfolgung Homosexueller? Nun, damit man mich hier nicht falsch versteht: Nein, Menschenrechtsverletzungen kann niemand akzeptieren. Und nein, man kann die russischen VerhältFR E I L I CH


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Ein Mann ist ein Mann, und man kann sich auch als erster Mann im Staate als richtiger Mann inszenieren.

nisse auch nicht mit jenen der angeblich so aufgeklärten Demokratien in Westeuropa vergleichen. Russland ist eine Autokratie. Punkt. Das hat nie jemand bestritten. Die Verlogenheit jedoch, wie im Westen mit zweierlei Maß gemessen wird, muss auch hier einmal mehr besprochen sein. Während jede Demonstration in Moskau, wo ein paar Hundert Menschen festgenommen werden, bei uns ganze Nachrichtenblöcke füllt, spricht niemand über die Repressionen der Chinesen gegenüber den Uiguren. Wenn etwa ein chinesischer Staatsbesuch in Wien stattfindet, dann wird die Demonstration der Tibeter einfach aus Sichtweite verbannt. Weil, mit den Chinesen wollen wir doch gute Geschäft machen … Wenn die USA – momentan wieder einmal die engsten Verbündeten Europas – gute Geschäfte mit SaudiArabien machen, dann ist uns das keine Empörung wert. Obwohl dort Menschen ausgepeitscht, gesteinigt und ermordet werden. Wenn etwa die Punkband Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale den Ambo entert, um ihre Protestaktion dort abzuhalten, und daraufhin verhaftet wird, dann gibt es Solidaritätsadressen aus ganz Europa. Dass durch solch eine Aktion auch religiöse Gefühle verletzt werden können, wird bei den Gutmenschen indes einfach nicht mehr zur Kenntnis genommen. Andere Länder, andere Sitten, könnte man meinen, aber bei Putin ist das eben was anderes. Da ist es „politisch korrekt“, sich zu empören, zu zeigen, dass man zu „den Guten“ gehört, dass man auf der richtigen Seite steht. Aber das war nicht immer so. Dieser Wladimir Putin N °16 / A PR I L 2022

hat uns jedenfalls in der Vergangenheit, muss man sich erregen, ganz schön eingekocht.

Der Russe, der perfekt Deutsch spricht Wer erinnert sich nicht an seinen charmanten Auftritt im September 2001 im deutschen Bundestag? Erstmals sprach ein russisches Staatsoberhaupt im deutschen Parlament. Viel Süßholz wurde da geraspelt – von beiden Seiten. Spätestens, als Putin auf Deutsch zu sprechen begann, konnte man sich seiner Anziehungskraft nur schwer entziehen. Endlich ein russisches Staatsoberhaupt, das Entspannung bringt. Frieden in Europa, eine oftmals verwendete Phrase, war nicht nur auf lange Sicht gesichert, mit Putin als Freund der Deutschen konnte es ja nur eine gute Zukunft für diesen gerüttelten Kontinent geben. Was für ein Glücksfall. Damals war der Jugoslawienkrieg erst sechs Jahre vorbei. Jetzt war ein Ende der Nachkriegsordnung in greifbarer Nähe. Und doch sollte alles anders kommen, und zwar ganz anders. Als Wladimir Putin bei der Sicherheitskonferenz 2007 in München die NATO-Erweiterung der Amerikaner verdammte, sagte er dort wörtlich: „Es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung […] ein provozierender Faktor [ist], der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht, zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben? Wo sind jetzt diese Erklärungen? An sie erinnert man sich nicht einmal mehr.“

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Im Westen ist alles irgendwie Hitler, was nicht Westen ist. Da bricht es aus der woken Klientel ungebremst heraus.

Am großen Bissen Ukraine scheint sich der russische Präsident freilich wirklich verschluckt zu haben.

Also bereits vor 15 Jahren warnte Putin den Westen – damals noch als hoch angesehener Staatschef –, dass die NATO-Erweiterung das subjektive Sicherheitsgefühl der Russen massiv einschränke. Was den russischen Präsidenten damals so erzürnt hat, kann nur vermutet werden, aber er bezieht sich in seiner Rede ausdrücklich auf den damaligen italienischen Verteidigungsminister Arturo Parisi. Putin merkte dabei an, dass „der Verteidigungsminister Italiens gesagt hat, […] dass die Anwendung von Gewalt nur dann als legitim gilt, wenn sie auf der Grundlage einer Entscheidung der NATO, der EU oder der UNO basiert“. Eine Legitimationsdebatte auf diesem Niveau muss für einen Staat wie Russland natürlich als eine Provokation der besonderen Art wahrgenommen werden. Jahre später merkte der ehemalige KPdSU-Chef Michail Gorbatschow in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung „Der Spiegel“ an, dass 68 % der Deutschen in der Frage der NATO-Erweiterung jedenfalls auf Putins Seite gestanden sind. Auf die Frage, ob er, Gorbatschow, von den Deutschen heute enttäuscht sei, antwortete der ehemalige Kreml-Chef wenig schmeichelhaft: „In Deutschland gibt es viele Leute, die sich an der Teilung [Europas] beteiligen wollen.“ Der Bruch zwischen Russland und dem Westen ist also keineswegs die kurzzeitige Laune eines völlig verrückt gewordenen Politikers, vielmehr hat – auch unter den Augen der Weltöffentlichkeit – eine Entfremdung stattgefunden. Erste große Risse bekam das Verhältnis im Zuge des Kaukasuskrieges 2008, nachdem Russland die Un-

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Der Bruch ist also keineswegs die kurzzeitige Laune eines verrückt gewordenen Politikers, vielmehr hat – unter den Augen der Weltöffentlichkeit – eine Entfremdung stattgefunden.

abhängigkeit Abchasiens und dessen Loslösung von Georgien offiziell anerkannt hatte. Überhaupt wird im europäischen Selbstverständnis wenig Wert auf die mannigfaltigen Interessenlagen innerhalb der ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken – wie etwa in Südossetien – gelegt. Wer etwa hat in Zentraleuropa den ständigen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan rund um die Enklave Bergkarabach im Auge? Wo war der große humanistische Aufschrei, als im Jahr 2020 aserbaidschanische Truppen die nicht anerkannte Repubik Arzach überrannt haben? Mehrere Tausend Tote waren zu beklagen, aber hier kommt natürlich auch zum Tragen, dass gerade Aserbaidschan in der Vergangenheit viele europäische Politiker mittels finanzieller Anreize zu „Freunden“ gemacht hat. Formel-1-Rennen und VIP-Paket inklusive … Bei aller europäischen Überheblichkeit sollten wir nie vergessen, dass es natürlich auch im postsowjetischen Hinterland geopolitische Interessen Russlands gibt, die wir – allesamt durch „Standard“, „Presse“ und „New York Times“ „gebildet“ – überhaupt nicht verstehen können und mit denen sich der Durchschnittseuropäer nicht – oder eben nur am Rande – auseinandersetzt. Als weiterführende Literatur sei in diesem Zusammenhang das Buch „Brennpunkt Berg-Karabach“ von Christoph Benedikter genannt. Zum großen Strukturbruch und zu Putins endgültigem Rollenwechsel zum „Badboy“ führte schließlich im Jahr 2014 die Sezession der Halbinsel Krim. Auch hier sollte man immer beide Seiten sehen, und auch diese höchst umstrittene Eingliederung in den russischen FR E I L I CH


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Man spricht Deutsch: 2018 trinken Wladimir Putin und Angela Merkel gemeinsam ein stilles Mineralwasser. An der Westorientierung Deutschlands ändert das nichts.

Staatenverbund muss aus der historischen und der geostrategischen Lage Russlands von allen Seiten betrachtet werden. Rund 60 % der Bewohner der Krim werden den ethnischen Russen zugerechnet, dem stehen rund 25 % Ukrainer entgegen, der Rest teilt sich auf Krimtataren, Armenier, Weißrussen und sonstige Ethnien auf. Aber warum hat Putin 2014 offensichtlich handstreichartig die Kontrolle über die Krim übernommen?

Der „Sündenfall“ Krim Die Demonstrationen am Maidan in Kiew haben 2014 relativ rasch zu einem bürgerkriegsartigen Zustand geführt. Der Hintergrund dieser Proteste war im Umstand begründet, dass der damalige Staats- und Regierungschef Wiktor Janukowytsch die Unterzeichnung einer EU-Assoziierung offenbar auf Druck Russlands aussetzte. Das führte zunächst zu Studentenprotesten, die sich relativ schnell zu Gewaltexzessen mit rund 60 Toten entwickelten. Für Verwunderung sorgte die plötzlich öffentlich zur Schau gestellte Allianz der proeuropäischen Kräfte. Neben US-Senator John McCain war etwa bei einer Kundgebung auf dem Maidan der russische Ex-Oligarch und verurteilte Steuerkriminelle Michail Chodorkowski Redner und blies von dort aus zum Sturm auf den Kreml. Kritik aus dem Ausland daran war nicht zu hören, zumal die Selbstbeschreibung von Chodorkowski als „Räuberbaron“ keinen Zweifel an seiner Vergangenheit gelassen hätte. Bis zum heutigen Tag ist die Rolle möglicher georgischer Intervention bei diesen Demonstrationen ungeklärt, und tatsächlich finden sich viele Hinweise darauf, N °16 / A PR I L 2022

dass Scharfschützen gezielt auf Menschen geschossen haben, um Chaos zu verbreiten und die Lage zu destabilisieren. Ein italienischer Dokumentarfilm des Canale 5 aus dem Jahr 2018 hat diese Gerüchte zusätzlich genährt. Im Jahr 2014 berichtete die Wochenzeitung „Die Welt“ darüber, dass beim Sezessionskrieg rund um die ostukrainische Provinz Lugansk Hunderte US-Söldner für Kiew im Einsatz sein sollten. Dabei berief man sich auf Informationen des Bundesnachrichtendienstes (BND). Und die englische „Daily Mail“ berichtete im März 2014, dass im Konflikt rund um Donezk US-amerikanische „Blackwater“-Einheiten auf ukrainischer Seite zum Einsatz gekommen seien. Ist dieser Fülle an Hinweisen, wonach der Westen versucht hat, die Ukraine bewusst zu destabilisieren, um sie auf einen distanzierten Kurs zu Moskau zu bringen, also kein Glauben zu schenken? Traut man den Amerikanern bzw. den Geostrategen der NATO so eine Intervention etwa nicht zu? Aus äquidistanter Sicht wäre eine unabhängige Prüfung zumindest notwendig, aber was heißt in diesem Zusammenhang schon „unabhängig“? Tatsächlich war in jenen Frühjahrstagen 2014 das bipolare Gleichgewicht aus russischer Sicht massiv in Gefahr. Sewastopol, der einzige ganzjährig eisfreie Hafen der russischen Streitkräfte, liegt exponiert an der Südspitze der Krim. Eine Ukraine (inklusive Krim) als EU-Staat, eventuell sogar als Mitglied der NATO, wäre für Russland der absolute Super-GAU gewesen. Moskau stand mit dem Rücken zur Wand und handel-

DAS BUCH

„Die Putin-Interviews“ sind das Ergebnis von mehr als einem Dutzend Gesprächen, die der Oscar-prämierte Regisseur Oliver Stone über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin führte. Oliver Stone Die Putin-Interviews Kopp Verlag, Rottenburg 2018, 368 Seiten ISBN 978-3-86445-598-8 A € 20,60 / D € 19,99

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Nicht alle Präsidenten sind so bekannt wie Putin. Die Herren im Bild repräsentieren vielleicht ein Drittel der Menschheit.

te. Sehr zum Leidwesen der Europäer und der NATOBüttel, denn das wäre die historische Chance gewesen, die strategische Marine der Russen de facto unschädlich zu machen. Dass Moskau das keinesfalls zulassen konnte, war eventuell einkalkuliert. Sanktionen und Repressionen gegen die russische Wirtschaft waren die Folge.

Der Krieg der vielen Gesichter Wer die veröffentlichte Meinung dieser Tage rund um den Angriff der russischen Streitkräfte auf die Ukraine verfolgt, bekommt einen kleinen Geschmack von der vermeintlich distanzierten Haltung der Journalisten des Westens. Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, wird dem berühmten US-Senator Hiram Johnson als treffendes Zitat zugeschrieben. Und die aktuelle Entwicklung zeigt in den sozialen Medien sehr eindrucksvoll, dass in dem Zitat viel Wahrheit steckt. Da schreibt etwa der selbst ernannte Doyen des investigativen Journalismus in Österreich, Florian Klenk, in einem Tweet: „Was für ein Kriegsverbrechen!“, und kommentiert dabei ein Video eines Pkw, der von einem gepanzerten Fahrzeug gerammt wurde. Später stellt sich heraus, dass es sich sowohl beim Pkw als auch beim Radpanzer um Ukrainer bei einem Unfall handelte. Später löschte Klenk einfach seine Meldung und tat so, als sei hier einfach ein Fehler passiert. Kann ja vorkommen, im Eifer des Gefechtes. Oder auch der vermeintliche EU-Spezialist und „Standard“-Journalist Thomas Mayer – er ist ja weltberühmt in Österreich: unterstellt einfach mal frisch von

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Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Propaganda innerhalb von Stunden die ernst zu nehmende Berichterstattung abgelöst hat.

der Leber weg, dass „Putins Armee in Syrien Fassbomben gegen die Zivilbevölkerung abwerfen ließ“. Er bleibt zwar jeden Beweis für diese durch und durch wahrheitswidrige Behauptung schuldig, aber behaupten wird man es doch noch dürfen. Geht ja schließlich gegen das personifizierte Böse. Da ist jede Unwahrheit erlaubt. Genauso, wie er tags darauf schreibt: „Denke, Russlands Präsident Putin, dessen aufgedunsenes Gesicht auf Krankheit hindeutet, hat mit diesem Aggressionskrieg gegen die Ukraine mittelfristig sein politisches Ende besiegelt. Er kann das Land vielleicht einnehmen, aber 44 Millionen Ukrainer kann er nicht beherrschen.“ Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Propaganda innerhalb von Stunden die ernst zu nehmende Berichterstattung abgelöst hat. Im Falle von Thomas Mayer sogar so weit, als er vom Pandemie- und Virenspezialist jetzt gleichsam zum „Facharzt für Ferndiagnostik“ mutiert ist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Stellungnahme des deutschen Fernsehsenders Phoenix zu einer Aussage von Wladimir Putin: „Als Reaktion auf die #Sanktionen gegen den #Kreml versetzt der russische Präsident die Abwehr seines Landes in Alarmbereitschaft. (Unser Dolmetscher sagt Atom-Streitkräfte, das ist aber wohl nicht korrekt.)“ Unabhängig davon berichten heute alle wesentlichen Medien davon, dass Putin die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft gesetzt habe … Insgesamt kommt man jedenfalls nicht umhin, eine gewisse Kriegslust in Europa zu verspüren. Der Frühling, der dieser Tage seine ersten Knospen gezeigt FR E I L I CH


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Die Schrecken des Eises: Nagurskaja ist die nördlichste russische Militärbasis und liegt am Franz-Josefs-Land.

hat, steht zwar gemeinhin für Wärme und Neuanfang, im Jahr 2022 jedoch kann es manchen Zeitgenossen gar nicht schnell genug gehen. Da wird an die Verteidigungsbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung appelliert, und der Aufruf des Verteidigungsministeriums, sogenannte Molotowcocktails zum Kampf vorzubereiten und den nächstgelegenen Schutzraum aufzusuchen, wird durch Medienpropaganda stilisiert.

Eine neue Kriegslust in Europa Interessant dabei ist, dass gerade all jene, die in den vergangenen Jahren die Entwaffnung der Polizei gefordert haben, die das Bundesheer auflösen oder zumindest nur noch zu einer reinen Pioniertruppe umfunktionieren wollten, jetzt am lautesten applaudieren, wenn etwa der deutsche Bundeskanzler Scholz ein Sonderbudget von 100 Milliarden Euro für die deutsche Bundeswehr ankündigt. Überhaupt scheint gerade dieser Stunden ein sogenanntes Aha-Erlebnis durch manche Köpfe zu gehen. Gerade bei den ach so aufgeklärten Liberalen, deren Naserümpfen gegenüber dem Bundesheer immer deutlich spürbar war. Der Zivildienst war in den Augen der urbanen Bevölkerung in den vergangenen Jahren jedenfalls weit attraktiver. Wer außer ein paar Reaktionären und Bauernschädeln macht denn schon freiwillig Wehrdienst, ich bitte Sie … Die Haltung der Republik Österreich passt im Übrigen sehr gut zur völlig kopf- und strategielosen Haltung der vergangenen zwei Jahre. Die österreichische Neutralität, oft belächelt und totgesagt, aber nach N °16 / A PR I L 2022

Wladimir Wladimirowitsch Putin

Putin ist seit dem Jahr 2012 Präsident Russlands, was er schon von 2000 bis 2008 war. Putin wurde im Jahr 1952 in Leningrad geboren und studierte zunächst Rechtswissenschaften. Später wurde er Offizier beim KGB, dem Auslandsgeheimdienst der Sowjetunion. Im Zuge dessen war er ab Mitte der 1980er-Jahre auf deutschem Gebiet tätig. Im Jahr 1990 kehrte er in seine Heimat zurück. Kurz danach fiel die Sowjetunion auseinander. In den 1990er-Jahren stieg Putin im neuen Russland politisch immer weiter auf, bis er im Jahr 1999 von Präsident Boris Jelzin zum Ministerpräsidenten gemacht wurde. Wenige Monate später verzichtete Jelzin auf das Amt des Präsidenten und Putin wurde sein Nachfolger. Im Frühjahr 2000 wählten ihn die Russen erstmals zu ihrem Präsidenten. Acht Jahre später durfte Putin laut Verfassung nicht mehr zur Präsidentschaftswahl antreten. Für die kommende Amtszeit wurde Dmitri Medwedew gewählt, der wie Putin zur Partei „Einiges Russland“ gehört. Als Ministerpräsident konnte Putin aber auch in dieser Zeit viel mitbestimmen. 2012 durfte er wieder zur Wahl antreten. Einige Mitbewerber wurden als Kandidaten ausgeschlossen. So wurde Putin erneut zum Präsidenten gewählt.

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Sanktionen gegen Russland sind so eine Sache. Die Amerikaner haben immer kritisiert, dass Europa sich mit Russland arrangiert hat. Jetzt geht es schnell, und wichtige Firmen ziehen sich aus Russland zurück: von McDonald’s bis Prada, von H&M bis zu Baukonzernen und Banken.

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RÜCKZUG DES WESTENS

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wie vor Teil unserer Verfassung und Teil des innerstaatlichen Selbstverständnisses, wird ganz plötzlich völlig neu interpretiert. Denn wie hat Bundeskanzler Karl Nehammer im Zuge einer Medienstellungnahme so deutlich festgehalten: „Die militärische Neutralität hat ja eine interessante Geschichte, sie wurde uns aufgezwungen von den Sowjetkommunisten als Preis dafür, dass wir die Freiheit wiedererlangen konnten.“ Das heißt also: Eigentlich wollen wir gar nicht neutral sein, ja wir warten nur darauf, dass wir endlich ein bisschen mitspielen können im Konzert der Großen. Nur, womit sollen wir eigentlich spielen? Das Bundesheer wurde durch die SPÖ und die ÖVP in den vergangenen Jahrzehnten auf eine Statistenrolle runtergespart: Wenn es Hochwasser geben sollte, dann brauchen wir Pioniere, beim Skiwochenende in Kitzbühel benötigt der Veranstalter billige Arbeitskräfte, und unsere Landeshauptleute legen besonderen Wert auf die Militärmusikkapellen. Das war es dann aber auch schon. Um tatsächlich Teil einer Interventionstruppe sein zu können, braucht es jedoch ein wenig mehr als ein paar verrostete Panzer und ein paar kastrierte Eurofighter. Nicht nur, dass wir die Budgetmittel für eine halbwegs funktionierende Armee gar nicht aufbringen wollen, brauchen wir dazu eben auch jene Waffen, die ordentlich „Bumm“ machen. Aber wollen wir das überhaupt? Hat irgendjemand die Bevölkerung gefragt, ob wir „Partei“ sein wollen in so einem Konflikt? Glaubt irgendjemand, dass es für einen österreichischen Soldaten nichts Schöneres gibt, als für amerikanische Interessen oder NATO-Fantasien auf irgendeinem Schlachtfeld zu verbluten? Die Schweiz könnte hier einmal mehr Vorbild sein, denn auch bei der Neutralität war die Schweiz – zumindest in den Sonntagsreden der politischen Eliten – immer jenes Vorbild, dem man nachzueifern versucht hat.

Die Sache mit dem Gas … Und dann wäre da noch die Sache mit dem Gas und dem Öl und der Kohle. Ja, auch das ist ein sehr heikles Thema, zumal Österreich und Europa zwar seit einigen Jahren aus all diesen fossilen Brennstoffen aussteigen möchten und deswegen halbgebildete Schülerinnen und Schüler jeden Freitag – außer es ist kalt oder es regnet (oder beides) – auf die Straße gehen. „Fridays for Future“ heißt die Veranstaltung, wo Pubertierende mit Smartphone in der Hand und Plastikflaschen im PVCN °16 / A PR I L 2022

Rucksack vor der Erderwärmung warnen und für eine bessere Zukunft demonstrieren. Jo eh … Tatsächlich ist Österreich zu rund 40–50 % von russischen Energieimporten abhängig. Und das soll momentan auch so bleiben. Denn bis wir so viele Windräder aufgestellt haben, um als Alpenrepublik völlig autark zu sein, sind die letzten Störche geköpft und die letzten unberührten Grünflächen versiegelt worden. Also was tun? Nun, die US-Amerikaner haben schon angeboten, dass wir amerikanisches Frackinggas beziehen können. Das soll ja besonders bekömmlich sein, und die Umweltschäden durch die Förderung … Nun, da darf man in Zeiten der Krise eben nicht zimperlich sein. Schließlich müssen wir Putin besiegen. Außerdem, wer kümmert sich um Umweltschäden, wenn die E-Mobilität zum Bau von Hochleistungsakkus beim Kobaltabbau ganze Landstriche vergiftet? Der Tesla ist trotzdem nach wie vor DAS Prestigeobjekt des erfolgreichen Yuppies.

Sanktionen – aber jetzt richtig! Aber unabhängig davon hat natürlich die Sanktionsbegeisterung mittlerweile auch dazu geführt, dass man russische Banken vom SWIFT-System ausgeschlossen hat. SWIFT steht für „Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication“ und ist im Grunde ein Netzwerk zum Austausch elektronischer Informationen zwischen Banken. Wer allerdings glaubt, dass alle russischen Banken von diesem System ausgeschlossen wurden, der irrt. Rund 30 % der russischen Banken wurden eben nicht ausgeschlossen. Warum eigentlich? Könnte es damit zu tun haben, dass man sonst den Energiehandel nicht weiterführen könnte? Und damit ist nicht einmal zwingend der Energiehandel mit Europa gemeint. Nachdem sich Deutschland ja jetzt endgültig vom Projekt Nord Stream 2 verabschiedet hat, hat man nun endlich den dringenden Wunsch der Amerikaner erfüllt. Übrigens ist es ein Treppenwitz der Geschichte, dass das Rechenzentrum von SWIFT im Kanton Thurgau in der Schweiz steht. Die Schweiz macht beim Boykott der russischen Banken bislang jedenfalls (noch) nicht mit. Denn in der Schweiz findet ja zu rund 80 % der Rohstoffhandel mit Russland statt. Teilweise mit russischen Banken, die längst eine Schweizer Lizenz haben. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Das Bundesheer wurde durch die SPÖ und die ÖVP in den vergangenen Jahrzehnten auf eine Statistenrolle runtergespart: Warum sollte es für irgendwelche NATOFantasien bluten?

DAS NETZWERK

Als Ende der 1980erJahre die Sowjetunion zusammenbrach, ahnte niemand, dass ein ehemaliger KGB-Agent sich über Jahrzehnte als russischer Präsident behaupten würde. Doch ein Alleinherrscher ist Wladimir Putin nicht. Seine Macht stützt sich vor allem auf ein Netzwerk früherer KGB-Agenten, dessen Einflussnahme weit über Russland hinausreicht. Catherine Belton: Putins Netz HarperCollins, Hamburg 2022, 704 Seiten ISBN 978-3-7499-0328-3 A € 26,95 / D € 26,00

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Guter Journalismus ist eben auch eine Frage des Standpunktes.

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Angebot nur solange der Vorrat reicht


Zuletzt im März 2021 hat US-Außenminister Blinken die Deutschen aufgefordert, die Abhängigkeit von Russland zu beenden und das Projekt einzustellen. Bei den eigenen Moralvorstellungen sind die Amerikaner meist weit weniger zimperlich. So weisen die Zahlen der US-Energiestatistik-Behörde EIA im Jahr 2021 aus, dass das Volumen russischer Rohöllieferungen in die USA von Jahr zu Jahr massiv ansteigt. Russland, so die Experten der EIA, belegt Platz drei unter den Öllieferanten der USA – noch vor Saudi-Arabien. Die Plätze eins und zwei belegen Kanada und Mexiko. Während also die Europäer einem gewissen Risiko ausgesetzt sind, dass der nächste Winter eher kühl wird und die Heizkörper manchmal kalt bleiben, importieren die Amerikaner fleißig russisches Öl.

Was jetzt? Also, was bedeutet das jetzt alles für den klassischen „Putinversteher“? Ist der Krieg in der Ukraine jetzt zu akzeptieren? Ist Putin ein Irrer, ein Despot, oder will er den dritten Weltkrieg? Nein! Krieg ist undenkbar. Und das, was derzeit in der Ukraine passiert, ist eine Völkerrechtsverletzung und inakzeptabel. Was soll man also tun? Das Einmaleins der Diplomatie wäre, dem Gegner (manche sagen: dem Feind) Putin die Möglichkeit zu geben, aus der Sache ohne Gesichtsverlust rauszukommen. Auch um den Preis, dass dabei eigene Überzeugungen nicht zu 100 % befriedigt werden können. Frieden in Europa kann und wird es nur geben, wenn man miteinander und nicht übereinander spricht. Das dämliche Gequatsche von wegen „Putin muss nach Den Haag!“ ist nicht nur kontraproduktiv, es wird weder der Ukraine helfen, noch wird es Wladimir Putin aufhalten. Zumal Putin mit Sicherheit nicht den Verstand verloren hat. Der russische Präsident weiß genau, was er tut. Und wenn ihm die Europäer die Türe vor der Nase zuknallen, dann dreht er sich einfach um und orientiert sich Richtung China, Indien und den restlichen Wachstumsmärkten. Europa braucht Russland nämlich weit mehr, als Russland Europa braucht. Das scheinen nur manche bislang nicht so recht verstanden zu haben. Eventuell verstehen es unsere Politgiganten dann, wenn der Liter Benzin an der Zapfsäule drei Euro kosten wird. Nur dürfte es dann schon zu spät sein. Die unsägliche Kriegspropaganda der NATOBüttel hilft uns auch keinen Millimeter weiter. Tatsächlich wäre Österreich gut beraten (gewesen), eine N °16 / A PR I L 2022

äquidistante Haltung einzunehmen. Natürlich muss man Dinge als das benennen, was sie sind. Im Falle des Einmarsches in die Ukraine ein völkerrechtswidriger Krieg. Aber das entlastet die Regierung in Kiew auch nicht von dem Vorwurf, dass in den vergangenen acht Jahren rund 10.000 Tote beim Bürgerkrieg im Donbass zu beklagen waren. Auch dass die Ukraine den Nord-Krim-Kanal blockierte und damit der Halbinsel Krim rund 85 % des Trinkwassers entzog, ist keine Rechtfertigung für den nunmehrigen Krieg. Und auch, dass man den autochthonen Russen die Ausübung und Verwendung der eigenen Sprache verbieten wollte, kann den Einmarsch der Russen nicht rechtfertigen. Es hätte gelindere Mittel für Russland gegeben. Tatsächlich hört man aber im westlichen Mainstream davon überhaupt nichts. Es kann nur einen Schuldigen geben. Und wer das ist, ist auch klar. In diesem Konfl ikt darf es keine zwei Seiten oder gar Neutralität geben. Hier kann es nur die Seite der Guten, nämlich der „westlichen Wertegemeinschaft“ geben. Jede Relativierung macht sich verdächtig, im Auftrag Moskaus zu handeln. Jeder Flugzeugabschuss der ukrainischen Heimatverteidiger wird zu einem heroischen Akt stilisiert, jeder Tag ohne russische Offensivmaßnahme gilt dagegen als Fanal für die drohende militärische Niederlage des Aggressors. Der „Endsieg“ zeichnet sich also schon ab. Und doch sollten all jene, die ein wenig in die Zukunft denken, eine Perspektive dafür in der Schublade liegen haben, wenn wider Erwarten Putin nicht in den kommenden 14 Tagen bedingungslos kapituliert und irgendwo in Moskau Suizid begeht. Und es tut mir leid, den Kritikern des Putin-Regimes die brutale Wahrheit mit auf den Weg geben zu müssen: Es wird nicht in unserer Hand liegen, welchen Weg Russland in Zukunft einschlagen wird. Die Russen werden auch nicht in einer der westlichen Zeitungsredaktionen um Erlaubnis fragen. Durch die lange Friedensperiode sind wir in Mitteleuropa mit Krisen nicht mehr vertraut. Vermutlich hatten wir deswegen auch die Zeit, uns mit GenderStudies und Lastenfahrraddebatten auseinanderzusetzen. Tatsächlich lehrt uns „Das abenteuerliche Herz“ aber, dass wir „auf der Hut sein müssen“. Nämlich „vor der größten Gefahr, die es gibt – davor, dass uns das Leben etwas Gewöhnliches wird“. Die europäische Geschichte war jedenfalls nie „gewöhnlich“ und wird es auch niemals sein.

R E P O R TAG E

Was bedeutet das alles für den klassischen „Putinversteher“? Krieg ist undenkbar. Und das, was derzeit in der Ukraine passiert, ist eine Völkerrechtsverletzung und inakzeptabel.

Hans-Jörg Jenewein war langjähriger Pressesprecher, acht Jahre Landesparteisekretär der FPÖ Wien, neun Jahre Parlamentarier in Nationalrat und Bundesrat mit verschiedenen Sprecherfunktionen (Medien, Inneres, Sicherheit).

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INFOGRAFIK

Krieg in der Ukraine

Neurussland, Noworossija Der Föderative Staat Neurussland war eine am 24. Mai 2014 proklamierte Union zwischen der proklamierten Volksrepublik Donezk und der proklamierten Volksrepublik Lugansk. Beide sind im Zuge des Krieges in der Ukraine seit 2014 entstanden, werden aber nur von Russland und Syrien anerkannt.

Der Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 ist ein Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen den souveränen Nachbarstaat Ukraine. Nach den ersten Wochen wird klar: Die russische Armee tut sich schwer.

Im Mai 2015 wurde das Projekt für beendet erklärt, da sich die ukrainische Zivilgesellschaft außerhalb der von Separatisten dominierten Oblaste gegen eine weitere völkerrechtswidrige Verkleinerung des Staatsgebietes der Ukraine erfolgreich wehren konnte. Stattdessen riefen prorussische Separatisten am 18. Juli 2017 einen neuen Staat namens Kleinrussland aus. Dieser soll nur noch die Volksrepubliken Lugansk und Donezk umfassen. Mit dem historischen Kleinrussland hat das Gebiet jedoch keine geografische Schnittmenge.

Stand: 28. März 2022

WEISSRUSSL AND Tschernihiw

RUSSL AND POLEN

Sumy

Konotop

Luzk

Lwiw

Schytomyr

KIEW

Charkiw

Ternopil

Poltawa

Chmelnyzkyj Winnyzja

Isjum

Iwano-Frankiwsk

Luhansk

Dnipropetrowsk Kirowohrad

Czernowitz

M O L D AW I E N

NEURUS

A SL

N

D

Donezk Saporischschja

Krywyj Rih

Volksrepubliken Donezk und Luhansk Melitopol

Mykolajiw

annektierte Krim (2014)

Berdjansk

Rostow am Don Mariupol

Cherson

russisch kontrolliertes Gebiet

Odessa

wahrscheinliche Angriffsachse

Asowsches Meer

mögliche Grenze von Neurussland belagerte Stadt

Krim

Luftangriff seit Beginn der Invasion

RUMÄNIEN

Atomkraftwerk

200.000

Aktive Soldaten

Quelle: globalfirepower.com

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19.783 42

478

2870

Gepanzerte Fahrzeuge

1.328 Kampfhubschrauber

2199 13.367

146

Kampfflugzeuge

Sewastopol

Panzer

900.000

RUSSL AND

Schwarzes Meer

490

Mobile Artillerie 3.391

Goliath gegen David Russland ist der Ukraine statistisch komplett überlegen. 17.000 Panzer- und Flugabwehrraketen, in den ersten zwei Wochen importiert, verschieben aber das Geichgewicht. Russland Ukraine

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Quelle: British Defence Intelligence

Uschgorod

Tscherkassy


Der Weg in den Krieg

Seit dem Zerfall des Warschauer Paktes schließen sich immer mehr Länder dem atlantischen Bündnis an.

INFORGRAFIK

Die Osterweiterung der NATO

Der Konflikt mit der Ukraine läuft, seit diese sich dem mächtigen Nachbarn entziehen will.

Beitritt während des Kalten Krieges Beitritt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Beitritt nach der Annexion der Krim durch Russland derzeitige Beitrittsabsicht

2013–2014

N ove m b e r 2 0 1 3 – Fe b r u ar 2 0 1 4 Weitgehend friedliche Massenproteste für eine Westorientierung der Ukraine. Der „Euromaidan“ wird blutig niedergeschlagen, der ukrainische Präsident Janukowitsch flüchtet nach Russland, Machtwechsel in Kiew. Fe b r u a r – M ä r z 2 0 1 4 Russland annektiert die Halbinsel Krim. März – Mai 2014 In der Ostukraine rufen prorussische Separatisten-Milizen die „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk aus. Ju n i – A ug u s t 2 0 1 4 Die ukrainische Armee drängt die Separatisten in den Osten der Oblaste Luhansk und Donezk zurück.

Quelle: NATO

2015–2020

So abhängig sind europäische Länder von Gas aus Russland

Italien Niederlande Ungarn Irland Kroatien Rumänien Belgien Deutschland Litauen Slowakei Spanien Portugal Österreich Griechenland Lettland Tschechien Polen Luxemburg Frankreich Bulgarien Dänemark Slowenien Malta Estland Finnland Schweden

40,5 % 37,6 % 32,8 %

26,1 %

50 %

23,6 %

1 %2 —

22,6 %

151 % 52 %

18,1 %

31 %

12,8 % 10,8 % 6,5 %

65 % 45 % — 65 % 2 63 % —

1) Mehr als 100% durch Lagerbestände oder weitverhandeltes Gas; 2) 2019

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Deutschland

11

Norwegen

80

Russland

76 %

2021–2022

De z e m b e r 2 0 2 1 Russland fordert Sicherheitsgarantien, darunter Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft.

44 %

15,5 %

S e p te m b e r 2 0 2 0 Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigt den NATO-Beitritt als strategisches Ziel.

36

Russland

57 % —

11,4 %

8

Ju n i 2 0 1 7 Das ukrainische Parlament beschließt das Ziel, der NATO beizutreten.

Jun i 2 02 1 Gipfeltreffen zwischen Russland und den USA in Genf bringt keine Einigung in der Ukrainefrage.

Sonstige

126 % 2

15,7 % 14,0 %

32

Norwegen

176 %

21,9 %

16,9 %

Niederlande

40 % 2

23,5 %

19,9 %

24

8% 14 %

25,2 %

in %

61 %

26,3 %

24,8 %

2,7 %

27% 81 %

30,0 %

7,7 %

29 %

33,5 % 30,3 %

Fe b r ua r 20 1 5 Nach einer Eskalation wird ein neuer, bis heute brüchiger Waffenstillstand vereinbart (Minsk II).

Anteil an Gasimporten in Deutschland und Österreich

Anteil russisches Erdgas am Verbrauch 20201

Quelle: Eurostat, Gazprom

Anteil Erdgas an der Gesamtenergieversorgung 2020 in Prozent

S e p te m b e r 2 0 1 4 Im belarussischen Minsk wird ein Waffenstillstand vereinbart, der nur wenige Tage hält.

Sonstige

Österreich

9

Ja n u a r – Fe b r u ar 2 0 2 2 Zahlreiche bi- und multilaterale Treffen zur Beilegung der Krise bleiben ergebnislos. Die USA stocken ihre Truppen in osteuropäischen NATO-Staaten auf. 1 0 . Fe b r ua r 2 0 2 2 Russland und Weißrussland halten ein gemeinsames Manöver nahe der Ukraine ab. 2 1 . Fe b r ua r 2 0 2 2 Russland anerkennt die „Volksrepubliken“ im Donbass. 2 4 . Fe b r ua r 2 0 2 2 Angriff Russlands auf die Ukraine.

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FOTOSTRECKE

Reise in den Krieg TEXT & FOTOS: REDAKTION

Die Russen haben die Ukraine angegriffen. Wir sind durch die Westukraine nach Kiew gefahren, um den Widerstand zu treffen.

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FOTOSTRECKE

Freiwillige Kämpfer: In den Reihen des Asow-Regiments kämpfen nicht nur Ukrainer, sondern auch Russen, Weißrussen und Balten.

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FOTOSTRECKE

Die Nachbarländer der Ukraine zeigen Solidarität. An der slowakischukrainischen Grenze wird eine Hilfslieferung durch die slowakische Armee begleitet.

arum fährt man als Journalist in ein Land, in dem Krieg herrscht? Aus Neugier? Abenteuerlust? Oder um die Dinge besser verstehen zu können? Genau kann ich es nicht beantworten. Wahrscheinlich eine Mischung daraus. Mit Sicherheit trieb uns auch das unbestimmte Gefühl an, dass der Ukrainekrieg etwas verändern wird, dass die Welt hinterher eine andere sein wird.

Umkämpftes Land An einem Samstag brechen wir auf – zwei Tage nach dem Angriff russischer Truppen auf die Ukraine. Dieser Krieg ist von Anfang an auch ein Infokrieg. Für uns bedeutet das eine Reise ins Ungewisse. Über persönliche Kontakte sammeln wir vorab so viele Eindrücke wie möglich. Der erste Versuch, die Grenze bei Welykyi Beresny zu überschreiten, scheitert, die Grenze ist blockiert für eine slowakische Delegation. Weiter südlich bei Uschgorod: Hier herrscht Hochbetrieb. Hunderte Freiwillige, Polizisten und Soldaten sind hier, um die Flüchtlinge zu versorgen. Hinter der Grenze begegnen uns aus den Mainstreammedien vertraute Szenen. Kilometerlang zieht sich der Stau in das Landesinnere. Menschen machen sich zu Fuß auf zur Grenze – ihr Hab und Gut im Gepäck. Dennoch ist die Masse nicht panisch. Weinende Kinder, verzweifelte Erwachsene: Fehlanzeige. Nach den ersten Kilometern auf ukrainischen Straßen Richtung Lemberg wandelt sich das Bild. Der Krieg ist hier 800 Kilometer weit entfernt. Nur die Checkpoints, die mit Dorfbewohnern und Polizisten besetzt sind, stören das Bild eines friedlichen Landes. Währenddessen spielen Kinder auf den Bolzplätzen Fußball,

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Einmal alles volltanken: Die Ukraine ist das größte Land Europas. Wer sich ins Kriegsgebiet wagt, sollte daher vorsorgen.

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FOTOSTRECKE

Am Grenzübergang Uschgorod herrscht reger Betrieb. Hunderte Freiwillige, Polizisten und Soldaten betreuen die ukrainischen Flüchtlinge, die es in die Slowakei geschafft haben.

Direkt hinter der Grenze werden wir mit der harten Wirklichkeit des ukrainischen Alltags konfrontiert. Das Durchschnittseinkommen liegt bei knapp 500 Euro pro Monat.

Der Krieg hat die Ukraine nie losgelassen. Am Straßenrand Denkmäler für die Gefallenen. N °16 / A PR I L 2022

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FOTOSTRECKE

Die Zustände sind nicht chaotisch. Man behilft sich – ohne Drama. Über Nacht tauchten in Lemberg Plakate auf, die zum Kampf gegen die Russen aufriefen.

an den Autowaschanlagen bilden sich Schlangen. Der Krieg hat die Ukraine nie losgelassen. Am Straßenrand stehen Denkmäler für die Donbass-Gefallenen. Und allgegenwärtig: die schwarz-rote Fahne der Ukrainischen Aufständischen Armee, jener nationalistischen Partisaneneinheit, die bis Mitte der 1950er-Jahre gegen die Sowjets kämpfte. Während wir auf den bisweilen stark lädierten Straßen Kilometer machen, zieht die Landschaft Transkarpatiens an uns vorbei. Armselige Dörfer wechseln sich mit sowjetischen Plattenbauten ab – Fremdkörper in diesem weiten Raum abseits aller Zentren.

„Live forever or die trying“ In Lemberg erleben wir erstmals die Verzerrung der Berichterstattung in den etablierten Medien hautnah. Die Zustände sind nicht chaotisch. Man behilft sich – ohne Drama. Und längst nicht jeder hier flieht. Zwei Damen erzählen, dass sie nun wieder auf dem Weg nach Winnyzja seien. Sie sagen: „Wir sind Ukrainer. Das hier ist unser Land. Wir haben Enkelkinder. Wir gehen hier nicht weg und wir wollen hier keine Fremden. Wir werden kämpfen. Alle Ukrainer werden kämpfen bis zum Tod!“ Einen Tag später begegnen wir Ralf. Er ist Finne, lebt in Amsterdam, kämpft beruflich „gegen den Klimawandel“ – und er ist Freiwilliger. Weil er es nicht ertragen könne, wenn Größere Kleinere bedrängen. Von seinem Wehrdienst in der finnischen Armee abgesehen, habe er keine militärische Erfahrung. Persönliche Beziehungen zur Ukraine habe er auch nicht, sei noch nie hier gewesen. Dennoch sagt er: „Ich bin bereit, hier zu sterben.“ Anstelle eines Testaments hat er seiner entsetzten Familie eine WhatsApp-Nachricht geschickt.

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In dieser Feldküche wird Wasser für die Stände am Lemberger Bahnhof gekocht, an denen Flüchtlinge kostenlos versorgt werden.

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FOTOSTRECKE

Frauen und Kinder verlassen das Land. Männern zwischen 18 und 60 Jahren ist die Ausreise verboten.

Ralf, ein junger Finne, will sich als Freiwilliger der Internationalen Legion der Ukraine anschließen.

Die ukrainischen Nationalfarben sind Gelb und Blau. Sie sind im ganzen Land allgegenwärtig.

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FOTOSTRECKE

Wird das Kind den Vater je kennenlernen? Schulterzucken.

Das Volk rückt zusammen: In Lemberg flechten Frauen und Kinder Tarnnetze für Checkpoints.

Andrij ist ukrainischer Patriot. Keine Sekunde zögerte er, zur Waffen zu greifen.

Ob er Angst habe? Ja, sagt Ralf, aber das sei kein Grund, umzukehren. Sein Status bei WhatsApp: „Live forever or die trying.“

Kampf für die ukrainische Identität Während man in Lemberg Kriegsvorbereitungen trifft – Kinder und Frauen flechten Tarnnetze, Bürger spenden Blut, Schüler und Studenten bauen Molotowcocktails –, schlagen wir uns weiter durch gen Osten. Das Ziel heißt Kiew. Nach elf Stunden Fahrt, unzähligen Kontrollen und einer kurzen Nacht in Bila Zerkwa brechen wir früh in die umkämpfte Hauptstadt auf. Noch stehen die Russen in Irpin, 15 Kilometer nordwestlich. Doch die ausgebrannten Militärfahrzeuge und die Trümmer getroffener Gebäude zeugen davon, dass der Krieg Kiew längst im Griff hat. Und gerade hier begegnet uns etwas, das wir hier nicht erwartet hätten: Normalität. Gewiss, vor den Apotheken und Banken lange Schlangen, dazu Tausende Soldaten, Panzer, Truppentransporter, aber dazwischen auch: uniformierte Väter, die mit ih-

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Krieg ist auch jede Menge Ausrüstung. Die Freiwilligen bringen viel selbst mit. Moderne Panzerabwehrwaffen aus dem Westen sind schon da.

ren Kindern auf Spielplätzen spielen, Alte, die auf der Straße stehen und scherzen, Männer und Frauen, die zur Arbeit gehen, reger Straßenverkehr. Und über den Dächern fliegen die Vögel. Wir treffen Andrij, einen jungen Hooligan von Dynamo Kiew. Er gehört einer Miliz an, die dem paramilitärischen Teil des Asow-Regiments angegliedert ist. Für ihn ist dieser Krieg ein Krieg für die ukrainische Identität, die über Jahrhunderte hinweg unterdrückt wurde. Es ist aber auch ein Kampf gegen eine multikulturelle, eurasische Großmacht mit imperialistischen Interessen, die nichts mit der Kiewer Rus gemein hat. Sein Zimmer teilt Andrij sich mit zwei Kameraden: Auf dem Schreibtisch steht eine Dose Proteinpulver, daneben Magazine, auf dem Bett liegen schussfeste Westen. In den Ecken stehen Gewehre. Einer von Andrijs Kameraden sagt: „Hört auf, ‚Stop the War‘ zu rufen! Wir wollen nicht, dass dieser Krieg durch einen falschen Frieden beendet wird. Die Sache muss endlich entschieden werden!“ Er kämpfte bereits auf dem Maidan, der Krim und im Donbass, heute wohnt er in München. In drei Monaten kommt seine zweite Tochter zur Welt. Ob sie ihren Vater kennenlernen wird? Schulterzucken. N °16 / A PR I L 2022

Andrijs Einheit ist voll ausgestattet mit Waffen und jeder Menge Munition.

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Die meisten von Andrijs Kameraden kämpften bereits am Maidan, auf der Krim und im Donbass. Nicht alle kehrten wieder heim.

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Auch in Kiew gibt es trotz Krieg zwischen den Trümmern beschädigter Gebäude und ausgebrannter Transporter so etwas wie Normalität.

Was die Woken nicht begreifen Inmitten des Gewühls begegnen wir dem Kommandanten der Einheit, Serhiy Korotkyh, genannt „Botsman“. Er ist einer jener Russen, die im ukrainischen Exil leben und sich der ukrainischen Seite angeschlossen haben. Viele seiner Männer sind Weißrussen und Balten. Auch für ihn verkörpert das System Putin nicht Russland, sondern das Erbe der Sowjetunion. Seinen Kampf versteht er auch als Kampf für das echte Russland. Während wir uns mit „Botsman“ unterhalten, befinden wir uns in einem Raum voller Gewehre, Mörser, Granaten, Panzerfäuste und Munition. All diese Gespräche machen uns klar, wie komplex dieser Krieg wirklich ist. Verstehen die ganzen woken und guten Menschen daheim, die zwar von Deutschland nichts wissen wollen, aber nun nach einem heißen Krieg gieren, das überhaupt? Nein! Könnten sie es verstehen? Wohl kaum. Erst nach einigen Tagen habe ich die Eindrücke verarbeitet. Fremd stehe ich wieder einmal vor meinen völlig enthemmten Landsleuten. Ich empfinde „kühle Scham“ (Götz Kubitschek), wenn ich sie dabei beobachte, wie sie ihren nationalen Selbsthass mit proukrainischen Worthülsen kompensieren und jenen Bürokraten zujubeln, die seit Jahrzehnten die Demontage der deutschen Nation und der europäischen Völker betreiben. Sie begreifen nicht. Sie begreifen nicht, dass die Ukrainer nicht für abstrakte „Menschenrechte“, für die LGBTQ-Community oder Ähnliches kämpfen. Die Ukrainer fallen nicht für den Westen, sondern für ihre Familie, ihre Nation. Das einzige Recht, für das die Ukrainer kämpfen, ist das Recht auf Heimat – und das Recht auf eine Zukunft ihres Volkes. Das ist die Geschichte unserer Reise.

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„Botsman“, Kommandant einer Miliz, stammt aus Russland. Mittlerweile lebt er im Exil.

Die Raketen finden ihre Ziele – nicht immer sind es militärische. Und der Großangriff auf Kiew steht noch aus. Mit jedem toten Zivilisten wächst der Hass auf die Invasoren.

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Das Wilde Feld

Zbigniew Brzezinski stellte die These in den Raum, dass Russland ohne die Ukraine keine eurasische Großmacht mehr sei. 25 Jahre nach der Veröffentlichung seines Werkes „The Grand Chessboard“ erheben ihn die Medien nun zum Propheten des Ukrainekrieges. Dabei ist die strategische Bedeutung des Landes zwischen Karpaten, Schwarzem Meer und Donezbecken kein Geheimnis. Gerade an dieser Stelle verläuft vom Finnischen Meerbusen bis zum Asowschen Meer die Schwelle von Europa nach Asien. Über Jahrhunderte hinweg stritten sich europäische und asiatische Großmächte um die Vorherrschaft in der Region. Waräger, Mongolen, Polen-Litauen, das russische Zarenreich, Österreich-Ungarn, die Sowjets – das Land dies- und jenseits des Dnjepr hat viele Herrschaften kommen und gehen sehen. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich insbesondere im österreichisch regierten Westen ein starker ukrainischer Nationalismus, der sich in einer Linie sah mit dem Großreich der Kiewer Rus und dem Erbe der Kosaken, die sich in dem Wilden Feld als freie Wehrbauern und Krieger angesiedelt hatten. Bis heute wehen gerade im ukrainischen Westen die schwarz-roten Fahnen der ukrainischen Nationalisten, die als Partisanen bis in die 1950er-Jahre gegen die sowjetische Fremdherrschaft und die Unterdrückung des ukrainischen Volkstums kämpften. Der von sowjetischen Agenten im deutschen Exil ermordete Nationalist Stepan Bandera wird als Nationalheld verehrt. Auch der Tausenden Freiwilligen, die sich als Soldaten der 14. Waffen-GrenadierDivision der SS anschlossen, um gegen die Rote Armee zu kämpfen, wird regelmäßig gedacht. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR suchten die Ukrainer früh den Anschluss an die NATO, die EU und Europa, um sich gegen mögliche Invasionsvorhaben eines wiedererstarkten Russlands zu schützen. Diese missbrauchen das ukrainische Volk und seinen jungen Nationalstaat bis heute als Prellbock für ihre eigenen imperialen Interessen. Doch auch unter dem Eindruck des gegenwärtigen Krieges reift in der Ukraine die Erkenntnis, dass die NATO und der Hegemon USA nur geringes Interesse an einem Frühling der europäischen Nationen haben.

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FOTOSTRECKE

Das einzige Recht, für das die Ukrainer kämpfen, ist das Recht auf Heimat.

24 Stunden und länger warten die Ukrainer an der Grenze zu Rumänien. Viele lassen das Auto zurück, gehen die letzten Meter lieber zu Fuß.

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Film

WINTER ON FIRE. DER KAMPF UM DIE FREIHEIT IN DER Es hat 93 Tage in den Jahren 2013 und 2014 gedauert, in denen sich eine friedliche Studentendemonstration in der Ukraine zu einer wahren Bürgerrechtsrevolution entwickelt hat.

„Jedes Mal, wenn man eine Kamera auf einen Politiker richtet, verkauft er sich selber und seine Agenda“, so Regisseur Jewgeni Afinejewski über seine bewegende Dokumentation: „Das ist keine menschliche Geschichte. Ich habe mit dem Film versucht, die Geschichte der Menschen zu erzählen.“ Der Dokumentarfilm aus dem Jahr 2015 handelt vom Euromaidan, der 2013/14 in der Ukraine stattfand. Der Film wurde als bester Dokumentarfilm für die Oscarverleihung 2016 nominiert. Die „Revolution der Würde“ war ein Aufbegehren der ukrainischen Bürger, Aktivisten, Studenten, Arbeiter und Künstler gegen das Aussetzen des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine – und für die Freiheit. Online auf Netflix: netflix.com/at/ title/80031666

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Der rechte Sektor

Die „Entnazifizierung“ der Ukraine ist nicht nur Wladimir Putin ein Anliegen, sondern auch Medien im Westen.

Seit dem 28. Februar 2022 wird die am Asowschen Meer gelegene Industrie- und Hafenstadt Mariupol von russischen Truppen belagert. Während die Russen binnen weniger Tage einen großen Teil des ukrainischen Südostens eroberten, gelingt es ihnen bisher (Stand: 16. März) nicht, die Verteidigungslinien Mariupols zu durchbrechen – und das, obwohl die Zustände in der von der Außenwelt abgeschnittenen Stadt als katastrophal bezeichnet werden. Verteidigt wird die Stadt auch von Soldaten des Asow-Regiments unter ihrem Kommandeur Denys Prokopenko. Das Regiment Asow ist eines jener Lieblingsfeindbilder deutscher Mainstreammedien, das immer dann angeführt wird, wenn der Schein der Objektivität gewahrt werden soll – nach dem Motto: „Putins Krieg ist zwar ein Verbrechen, aber die Sache mit den Nazis – da ist was dran …“ Ursächlich für diese seit 2014 fortdauernde Präsenz des Asow-Regiments in westlichen Medien ist nicht nur die offensichtliche Bezugnahme auf nationalsozialistisch konnotierte Symbolik wie die Wolfsangel oder die Schwarze Sonne, sondern auch die Tatsache, dass die ukrainische Regierung darin keinen Grund zur Distanzierung sieht. Im Gegenteil: Im Oktober 2014 wurde das Regiment in die Nationalgarde eingegliedert und dem Innenministerium

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Rechter Sektor Übernahm Schlüsselrolle bei der Verteidigung des Euromaidan. Gewann 2014 ein Direktmandat. Seitdem politisch weitgehend bedeutungslos.

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Nationales Korps

Teil der ukrainischen Nationalgarde. 2014 von rechten Politikern gegründet, um gegen prorussische Separatisten zu kämpfen. Seit März 2022 u. a. Verteidiger von Mariupol.

Parlamentarischer Arm des AsowRegiments. Gegründet 2016. Arbeitete bei Wahlen mit anderen rechten Parteien zusammen. Bislang keine Abgeordneten.

Allukrainische Vereinigung „Swoboda“ Partei mit Schwerpunkt in der Westukraine. Pflegt das Erbe der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) und Stepan Banderas. Ein Abgeordneter im Parlament.

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FOTOSTRECKE

Asow-Regiment

unterstellt. Acht Jahre später sind Asow-Einheiten nicht nur in Mariupol im Einsatz, sondern an allen Fronten des Krieges. Und auch jetzt kommt wieder kein Mainstreammedium umhin, über die „Neonazis, die um die Ukraine kämpfen“ („Spiegel“) zu berichten. Dabei ist das Asow-Regiment nur eine von vielen nationalistischen Gruppierungen der Ukraine. Bei deren Einordnung muss jedoch der im ukrainischen Volk tief verwurzelte Patriotismus in Rechnung gestellt werden. Anders als in Deutschland und Österreich gibt es – trotz russischer Unterdrückung – einen breiten Konsens über die ethnische und kulturelle Identität der eigenen Nation. Die weltanschauliche Grundlage der ukra inischen Nationalisten liefert das Werk „Natiokratie“ von Mykola Sziborskyj. Der promovierte Historiker und Azow-Kämpfer Mykola Krawtschenko, der am 15. März 2022 durch russische Artillerie fiel, beschreibt das Konzept der Natiokratie als Gefüge aus „nationaler Solidarität, Autoritarismus, Elitarismus, staatlichem Syndikalismus, einer facettenreichen Wirtschaft und einer breit angelegten lokalen Verwaltung“. Weiter führt Krawtschenko aus: „Mit der Veröffentlichung seiner ‚Natiokratie‘ präsentierte Sziborskyj nicht nur ein eigenes nationales Konzept, sondern unterwarf auch die damals weltweit fü hrenden gesellschaftspolitischen Konzepte – den Faschismus und den Nationalsozialismus – objektiver und konstruktiver Kritik von rechts.“ Diese Bezugnahme auf das Konzept der Natiokratie macht deutlich, dass der Neonazi-Vorwurf in Bezug auf ukrainische Nationalisten nicht verfängt. In der Tat: In der Ukraine gibt es eine Vielzahl radikaler Gruppen, deren Weltanschauung von rechtsextrem über fundamental-orthodox bis hin zu neopaganistisch reicht. Und noch ist ihr Einfluss auf das Parlament gering, aber mit ihrem unbedingten Einsatz auf dem Maidan, auf der Krim, im Donbass und nun im Krieg, in dem sie einen hohen Blutzoll zahlten, haben sie bereits die Herzen des Volkes gewonnen. Und zuletzt sah sich auch Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Berlin, auf Twitter genötigt, seine Landsleute in Schutz zu nehmen: „Bitte hören Sie auf, das AsowRegiment zu dämonisieren […] Diese mutigen Kämpfer verteidigen ihre Heimat“.

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INTERVIEW

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INTERVIEW

Am 5. März in Kemorowo die russische Version eines Flashmobs: spontane Unterstützung für den Kriegskurs von Präsident Putin.

„Die Ukraine ist nur eine Arena!“ Wie sollen wir verstehen, was in der Ukraine passiert, wenn wir Russland nicht verstehen wollen? Thomas Fasbender hat eine politische Biografie Putins geschrieben. Wir wollten wissen, wie er den Krieg sieht. INTERVIEW: HEINRICH SICKL

Foto: MAGO / ITAR-TASS

FREILICH: Herr Fasbender, Sie haben eine politische Biografie über Wladimir Putin geschrieben. Mit dem Ukrainekrieg: Was treibt den Herrn im Kreml hier?

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Thomas Fasbender: Es ist ein ganzes Bündel an Motiven. Der Auslöser war wohl die Krimfrage. Die Annexion 2014 hat ja keine geregelten Verhältnisse geschaffen. Und nach der Wahl von Wolodymyr Selenskyj 2019 war klar, dass auch ein ukrainischer Präsident, der gar kein Russenhasser ist, auf der Rückgabe der Halbinsel bestehen muss. Dann war da noch der Krieg in Bergkarabach im Frühherbst 2020. Aserbaidschan hat mit ausländischer Hilfe einen Großteil seines abtrünnigen Territoriums zurückerobert. Aus russischer Sicht musste der ukrainische Flirt mit der NATO zum Bedrohungsszenario werden. Hinzu kommt, dass Putin im Oktober 70 wird. Er kann theoretisch bis

2036 weiterregieren, aber wer sagt, dass er das will? Und wenn er abtritt, muss er seinem Nachfolger ein bestelltes Haus überlassen. Dazu gehören der Status der Krim und die Neutralität der Ukraine. Es gibt noch andere Gründe. Die russische Wahrnehmung der europäischen Friedensordnung hat sich in den letzten 30 Jahren grundlegend gewandelt. Ich will es so formulieren: von der Illusion eines europäischen Hauses zum Zerrbild eines russischen Versailles. Ob mit oder ohne Putin, kein russischer Staatschef wird zulassen, dass sich ein fremdes Militärbündnis, das zudem ganz Europa beherrscht, bis unmittelbar an die russische Grenze erstreckt. Das wird im Westen meist nicht verstanden, weil man die NATO für eine harmlose Verteidigungsallianz liberaler Demokratien hält. Aus russischer Perspektive ist sie eine fremde Militärmacht, mit der man sich jahrzehntelang einen kalten Krieg geliefert hat.

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Foto: IMAGO / SNA

INTERVIEW

Am 24. Februar 2022 hat der Krieg gegen die Ukraine mit dem Angriff Russlands begonnen. Spezielle Kennungen sind Buchstaben, hier das „Z“.

„Putin will weder nach Polen noch zur Elbe. Dennoch tut uns das Aufwachen gut. Mehr Realismus auch.“ Krieg in Europa ist so unerhört, dass das vermutlich nachhaltig die Politik vieler westlicher Staaten ändern wird, weil sie Krieg nicht mehr denken konnten. Hat Russland hier rational gehandelt? Wenn ja, warum?

Krieg war immer eine reale Option. In den vergangenen Jahrzehnten haben die USA, zum Teil mit aktiver deutscher Beteiligung, deutlich mehr Kriege geführt als Russland. 1999 hat die NATO Serbien bombardiert. Dass man im Westen Krieg nicht mehr denken konnte, trifft also nicht ganz zu. Was wir als unerhört empfinden, ist doch eher, dass nicht der Weltpolizist im Namen der guten Werte einen Krieg vom Zaun bricht, sondern das nicht westliche Russland.

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Dass es soweit gekommen ist, hat natürlich mit dem Autoritätsverlust der USA und der NATO zu tun. Es gibt keinen Weltpolizisten mehr. Demografisch und ökonomisch ist der Westen auf dem Rückzug. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn Russland durch den Kriegsausgang und die Sanktionen geschwächt sein wird. Der eigentliche Gamechanger ist China. Die Ukraine ist nur eine Arena geopolitischer Rivalitäten. Wenn die Westeuropäer jetzt aufwachen und wieder an ihre Landesverteidigung denken, erklären sie das mit russischen Ambitionen. Dabei will Russland weder an die Elbe zurück noch nach Polen hinein, auch Putin nicht. Dennoch tut uns das Aufwachen gut. Mit etwas mehr Realismus, auch was die eigenen Möglichkeiten betrifft, hätte der Westen der Ukraine gegenüber vielleicht eine vorsichtigere Politik betrieben. Weniger versprochen, was man doch nicht halten konnte. Das gibt dem Westen keine Mitschuld an Putins Krieg, aber durchaus eine Mitverantwortung für die Konfliktkonstellation. Das Narrativ „Ukraine = Nazis“ wirkt äußerst seltsam, wenn man aber Nachrichten des russischen

Verteidigungsministeriums anschaut, halten sie das wirklich durch, als ob der Zweite Weltkrieg noch einmal gekämpft würde. Glaubt das irgendwer in Russland?

Erstaunlicherweise ja. Die kollektive Erinnerung an solche Auswüchse des ukrainischen Nationalismus wie die Bandera-Bewegung sitzt tief. Oder an die Aktivitäten ukrainischer Nazikollaborateure. Im Kern geht es darum, dass der ukrainische Nationalismus ausgesprochen antirussisch ist. Ich würde sagen, viele Russen gehen davon aus, dass die Ukrainer, jedenfalls die Westukrainer, sie nicht mögen. Das heißt aber nicht, dass man Ukrainer und Nazis gleichsetzt. Es ist die Propaganda, die da ein altes Feindbild bedient. Wer einige Ahnung hat, weiß auch, dass der ukrainische Präsident aus einer jüdischen Familie stammt und als Muttersprache Russisch spricht. Dennoch denke ich, dass nur eine Minderheit der Russen von diesem Vorurteil wirklich frei ist. Sie sind gerade wieder in Moskau – diesmal zu Zeiten des Krieges. Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung? Wie wird der Krieg wahrgenommen? Wie sehr stehen die Menschen hinter Putin?


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INTERVIEW

Am 18. März wird in Krasnojarsk ein Fallschirmjäger begraben. Einen Monat nach Beginn des Feldzugs haben die Russen etwa 9800 Tote und 16.000 Verletzte zu beklagen.

In den ersten Tagen hat es so etwas wie Schockstarre gegeben, bis in die höchsten Etagen des Staats und der Politik. Genauso wie der Westen haben fast alle Russen geglaubt, das Putin nicht angreifen werde. Oder nicht in dieser Form. Inzwischen bilden sich zwei Lager heraus. Das kleinere ist konsequent gegen den Krieg, gegen Putin und gegen seine Politik. Zehntausende haben das Land verlassen, vor allem die Jüngeren, die Mobilen. Sehr viele aus der IT-Branche. Wer in der Lage ist, im Ausland im Homeoffice zu arbeiten, tut das auch. Tausende sind auf die Straße gegangen. Demonstrationen sind verboten, also wird die kleinste Ansammlung sofort aufgelöst, die Leute werden abgeführt und später oft übel misshandelt. Die Proteste gehen weiter, aber es ist keine Massenerscheinung. Das größere Lager ist in der Mehrheit ebenfalls gegen den Krieg. Wirkliche Kriegsbegeisterung trifft man so gut wie nirgends. Was aber viele vereint, ist das Gefühl: „Good or bad, my country“. Häufig stößt man auf eine Kombination aus Ablehnung des Krieges und Ablehnung des Westens. Viele sind gegen den Krieg, aber für die russischen Interessen. Was extrem negativ ankommt, sind die russophoben Übergriffe im Ausland. N °16 / A PR I L 2022

Wenn Russen beschimpft oder im Restaurant nicht bedient werden, vor allem, wenn russische Kinder an den Schulen gemobbt werden. Das wirkt stärker als alle Propaganda. Ich bin gespannt, wie die Menschen auf die weiteren Sanktionsfolgen reagieren. Wenn die Wirtschaft einbricht – richtet sich der Zorn dann gegen die Regierung oder gegen den Westen? Die Sanktionen werden im Westen richtig zelebriert. Spürt man die bereits? Wie werden die Sanktionen von den Russen aufgenommen?

Man spürt die durchaus. Der Zugang zu Fremdwährungen ist deutlich behindert. Bis September darf jeder maximal 10.000 US-Dollar abheben. Die kurzfristig wirksamste Sanktion ist die Beschlagnahmung der russischen Devisenreserven im Ausland, also eines Großteils der Kriegskasse. Die Zentralbank kann den Rubel nicht mehr stützen. In der Folge hat die Währung binnen drei Wochen die Hälfte ihres Wertes eingebüßt. Schmerzhaft sind auch die Reisebeschränkungen. Tausende russische Touristen sitzen im Ausland fest. Ihre Flüge sind gestrichen, und mit ihren Kreditkarten kommen sie an ihr Geld nicht mehr ran. Das be-

DIE BIOGRAFIE

Die erste Putin-Biografie eines deutschen Autors seit mehr als zwei Jahrzehnten – weder Pro noch Contra, weder Anklage noch Verteidigung. Wer ist der Mann, der Russland auf einen eigenen Weg gebracht hat? Der dem Selbstverständnis der Westeuropäer in die Parade fährt? Thomas Fasbender: Wladimir W. Putin Landt, Neuruppin 2021, 556 Seiten ISBN 978-3-948075-36-1 A € 30,95 / D € 30,00

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„Mit Blick auf Russland darf man nie eine Frage stellen, die mit dem Wort ‚Warum‘ beginnt.“

trifft auch weißrussische Lkw-Fahrer in Westeuropa. Die Regale sind noch voll, aber es gibt erste Hamsterkäufe, zur Zeit Zucker. Dass Hunderte internationaler Konzerne das Land verlassen, wird sich im Konsumgüterbereich gar nicht so niederschlagen. Die Waren kommen dann über Händler ins Land. Anders sieht es bei der Industrie und der Luftfahrt aus. Airbus und Boeing haben die Wartung eingestellt. Spätestens in einigen Monaten wird es kaum noch Inlandsflüge geben. Der richtige Hammer kommt noch. „Putinversteher“ oder auch „Russlandversteher“. Wir können es uns aussuchen … Was muss man wissen, um Russland zu verstehen?

Russland ist anders. Damit ist nichts und alles gesagt. Man braucht ein Gefühl für Hintergründigkeit, um das Land zu verstehen. Humor und Ironie helfen auch. Ich habe mal geschrieben, dass man mit Blick auf Russland nie eine Frage stellen darf, die mit dem Wort „Warum“ beginnt. Man kann Russland nicht mit westeuropäischen Maßstäben messen. Was in der konkreten Zukunft sehr wichtig sein wird, ist, dass es Europäer gibt, die sich trotz des Geschehens in der Ukraine zu Russland bekennen, auch zu den russischen Interessen. Russland wird geschwächt aus dem selbst angezettelten Krieg hervorgehen, aber es wird weiter da sein. Es wird sich auch nicht grundlegend verändern, nicht so wie Deutschland nach 1945. Das wäre ohne die

Die Vierteljahresschrift T UMULT ist heute für rechte Intellektuelle das, was Enzensbergers KURSBUCH 1968 für die Linke war. Brillante Essays, Forschungen und Tiefengrabungen im Zeitgeist … Matthias Matussek, Tichys Einblick

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bedingungslose Kapitulation gar nicht möglich gewesen. Menschen rechts der Mitte haben ein positiveres Verhältnis zu Russland als andere. Warum? Ist das eine heimliche Leidenschaft für den „autoritären“ Präsidenten?

Ich würde nicht sagen, dass Konservative durch die Bank ein positiveres Verhältnis zu Russland haben. In Deutschland gibt es viele Transatlantiker, die rechts der Mitte und dabei dezidiert russlandkritisch sind. Was stimmt, ist, dass Russland sich unter Putin als weltanschaulicher Gegenpol zu Westeuropa positioniert. Nehmen Sie die europäischen Werte. Bei uns versteht man darunter Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Pluralismus, jedenfalls die Medien und die Politiker. In Russland denken wahrscheinlich viele an sowas wie Gott, Familie und Vaterland. Dabei gehören alle diese Werte zur europäischen Tradition, die einen wie die anderen. Nur legt der Westen die Tradition zur einen Seite hin aus, Russland zur anderen. Bei uns, wie gesagt: in der Öffentlichkeit, gelten Werte wie Gott, Familie und Vaterland als völlig überholt, absolut unzeitgemäß. Wer vertritt die noch? Das heißt aber nicht, dass die veröffentlichte Meinung auch repräsentativ ist. Es gibt vielleicht mehr Fortschrittsskeptiker, als wir glauben. Unter denen herrscht dann eine gewisse Sympathie für Länder, wo man das ähnlich sieht. Das beginnt mit Polen. Der polnische Widerstand gegen Brüssel findet in Deutschland gar nicht so wenige Befürworter. Was Putin betrifft: Ich glaube nicht, dass es in Deutschland oder Österreich viele Menschen gibt, die so etwas wie Leidenschaft für ihn empfinden. Erst recht nicht nach dem Angriff auf die Ukraine. Manche wünschen sich vielleicht einen Staat mit mehr Autorität als in den westlichen Demokratien üblich. Vielleicht N °16 / A PR I L 2022

projizieren auch manche ihre autoritären Hoffnungen auf ihn. Ich denke aber, die wenigsten wünschen sich einen Wladimir Putin als Bundeskanzler. Welche Gründe gibt es für die Deutschen, einen geostrategisch und ökonomisch so wichtigen Partner wie die Russische Föderation zu vernachlässigen? Immerhin wäre ja eine Achse Moskau-Berlin das, was die Amerikaner gar nicht mögen würden.

Für den kollektiven Westen geht es ums Prinzip. Russland hat das Dogma herausgefordert, wonach nur der Weltpolizist die Regeln biegen oder brechen darf. Insofern kämpft auch der Westen um seine Existenz, oder, besser gesagt: um den universalen Anspruch seiner regelbasierten Weltordnung. Ökonomische Belange treten dahinter zurück. Es herrscht wirklich eine Art von unausgerufenem Kriegsrecht. Die Disziplin, mit der sowohl Politik als auch Wirtschaft reagieren, zeigt auch, dass die westliche Autorität nach innen noch wirkt. Die Frage ist: Wie weit wirkt sie noch nach außen? Russland hat in der Ukraine den Fehdehandschuh geworfen. China schaut vom Spielfeldrand aus zu. Der Zeitplan für die Heimholung der Insel Taiwan hängt auch vom weiteren Geschehen in Osteuropa ab. Deutschland hat in dem Szenario gar keinen Spielraum. Die Frage ist, ob es überhaupt wieder Spielräume für eine eigene deutsche Russlandpolitik geben wird. Oder auch nur ein Interesse daran. Die jüngere Politikergeneration macht mir nicht den Eindruck. Möglicherweise gehört die Achse Berlin-Moskau der Vergangenheit an. Das Deutschland dieser special relationship war das Preußendeutschland im 19. Jahrhundert. Damals war die deutschrussische Nachbarschaft real. Doch Preußendeutschland ist untergegangen. Und seit 1990 haben wir die Rückkehr

RUSSLANDS WEG

Russland ist ein Ärgernis. Zu diesem Schluss kommen die westlichen Eliten in Politik und Medien. Russland stört – spätestens seit der Ukrainekrise 2014. „Russlandversteher“ ist zum Schimpfwort verkommen. Eindrucksvoll schildert Thomas Fasbender, wie anders Russland in der Tat ist. Thomas Fasbender: Freiheit statt Demokratie Manuscriptum, Waltrop u. Leipzig 2014, 368 Seiten ISBN 978-3-944872-06-3 A € 12,95 / D € 12,00

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Foto: IMAGO / ITAR-TASS

Foto: IMAGO / ITAR-TASS

INTERVIEW

Am 18. März feierte man in Moskau mit einem großen Konzert den „Frühling der Krim“, die Wiederangliederung an Russland.

Wieder Flashmob in Kemorow: Das „Z“ wird politisch als Teil des Zieles „EntnaZifizierung“ der Ukraine vermittelt.


Zwischeneuropas, nach einer Pause von 200 Jahren. Das ist der Raum zwischen Oder und Charkow. Dort spielt jetzt die neue europäische Musik. Wird Putin die gegen die Ukraine gerichtete Aggression politisch überleben, oder ist das mehr sein Abgesang mit einem „Job“, den keiner machen wollte?

Das hängt vom Ausgang des Krieges ab. Da es keinen Kapitulationsfrieden geben wird, kommt nur ein Verhandlungsfrieden infrage. Wenn der für Russland gesichtswahrend ausfällt, hat Putin vielleicht die Chance auf einen geordneten Rückzug aus der Politik. Mit viel Glück. Wenn die Ukraine beziehungsweise die USA ihm keinen gesichtswahrenden Frieden zugestehen, kann er sich auch in einem andauernden Konflikt an der Macht halten, allerdings mit ungewissem Ausgang. Ein russischer Zusammenbruch, militärisch im Feld oder wirtschaftlichpolitisch an der Heimatfront, würde wohl sein baldiges Ende einläuten. Was empfehlen Sie der deutschen und österreichischen Außenpolitik? Sollten nicht ausgerechnet diese Leute das Säbelrasseln unterlassen? Die Wehrfähigkeit ist ja in beiden Ländern in einem katastrophalen Zustand …

Ich kann dem Westen nur dringlichst raten, nicht zur Kriegspartei zu werden. Die Leichtfertigkeit mancher Medienkommentare lässt einen da schaudern. Putin will keinen Krieg mit der NATO. Die große Gefahr ist derzeit, dass weder Russland noch die Ukraine (bzw. die USA) an einem raschen Ende interessiert sind. Die USA werden wollen, das mit dem Krieg auch Putins Herrschaft zuende geht. Gut möglich, dass sie ihm keinen Frieden gönnen, der ein Weiterregieren erlaubt. Und Putin weiß, dass seine Position unangefochten ist, solange der Krieg dauert. N °16 / A PR I L 2022

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„In jedem Fall bleibt das Eskalationsrisiko akut. Und genauso wie der Krieg ist auch der Nuklearkrieg immer eine reale Option.“

Wenn dann noch die Chinesen Russland mit Waffen versorgen, droht ein amerikanisch-chinesischer Stellvertreterkrieg. In jedem Fall bleibt das Eskalationsrisiko akut. Und genauso wie der Krieg ist auch der Nuklearkrieg immer eine reale Option. Die alte Sowjetunion hatte ja einen weiten Machtkreis, weil die kommunistische Idee ausgestrahlt hat. Gibt es heute so etwas wie eine „russische Idee“?

Es gibt die sogenannte Russische Welt, Russkij Mir. Die ist irgendwo zwischen Lebensstil und Weltanschauung angesiedelt. Sie wirkt aber nur nach innen. Der Begriff beschreibt slawisch geprägte, im weitesten Sinn kulturelle Gemeinsamkeiten im postsowjetischen Raum. Wenn es „Ostslawische Welt“ hieße, gäbe es wahrscheinlich kein Problem, den Begriff als gemeinsamen Nenner für Russen, Weißrussen und Ukrainer zu verwenden. „Russische Welt“ provoziert sofort das Misstrauen der slawischen Nachbarn.

T H O M A S FA S B E N D E R Jahrgang 1957, gelernter

Kaufmann und Journalist, Dr. phil., hat von 1992 bis 2015 als Manager und

Unternehmer in Russland

gelebt, seither als Journalist und Autor in Berlin. 2014 erschien „Freiheit statt

Demokratie. Russlands

Weg und die Illusionen des

Westens“, 2016 der Roman „Kinderlieb“, 2021 die

Biografie „Wladimir W. Putin“.

Wir sind alle keine Glaskugelleser. Dennoch: Was ist Ihre Prognose? Wie wird das ausgehen? Und wie im Jobcenter: Wo sehen Sie Putin in den nächsten Jahren?

Was den Konflikt betrifft, kann ich nur Hoffnungen beschreiben: NATORussland-Krieg vermeiden und einen raschen Verhandlungsfrieden herbeiführen. Egal, wie es ausgeht, das europäisch-russische Verhältnis wird tief zerrüttet sein. Einen Systemwechsel in Russland nach Art der westlichen Demokratien wird es nicht geben. Russland und Europa stehen vor einer Schwächephase, wirtschaftlich und politisch. Die USA und China gehen als Sieger vom Feld. Putins persönliches Schicksal? Im Zweifel würde ich sagen: Im März 2023 sitzt er nicht mehr im Kreml. Aber die Wahrscheinlichkeit ist mehr als minimal, dass ich mich irre.

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Gegen das Leben oder dafür 70

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Abtreibung ist immer noch Thema. Vier Filme spielen aktuell die gesellschaftlichen Zugänge vor. VON GÜNTER SCHOLDT

as Thema „Abtreibung“ reizt gegenwärtig gehäuft zu filmischer Umsetzung. Davon zeugen etwa drei US-Spielfilme, die auch in Europa gezeigt werden. Das gilt nur eingeschränkt für Cary Solomons und Chuck Konzelmans „Unplanned“ (2019), der seit Oktober 2020 auf DVD und Blu-Ray zugänglich ist. Die Vermarktung jedoch wird in vielen Ländern durch seine Lebensschutzabsicht behindert. Viele Kinos scheuten (auch aus Angst vor politischen Reaktionen) eine Aufnahme des Filmes in ihr Programm, Fernsehkanäle verweigerten seine Bewerbung. Die Handlung basiert auf der Lebensgeschichte der Amerikanerin Anny Johnson. Diese begann als junge Freiwillige mit guten Vorsätzen für „Planned Parenthood“, einen Krankenhauskonzern, der besonders Geburtenkontrolle auf seine Fahnen geschrieben hat. Später leitete sie eine entsprechende Klinik selbst. Konkrete Erfahrungen als Abtreibungsassistentin ließen sie umdenken. Sie kündigte und engagierte sich in der „ProLife“-Bewegung. Der Film verdeutlicht (durch manche aufrüttelnde Aufnahmen) die Motive für ihren Bruch und den weitergehenden Konflikt mit ihrem früheren Arbeitgeber.

Ein filmischer Konter

Als Reaktion auf dieses Werk versteht sich wohl Eliza Hittmans Film „Niemals Selten Manchmal Immer“, der im Januar 2020 in Utah Premiere feierte und seit Oktober in deutsche Kinos und ins Fernsehen gelangte. N °16 / A PR I L 2022

Auch Hittman orientierte sich nach eigenen Angaben an einer realen Lebensgeschichte: der einer Irin, die nach einer verweigerten Abtreibung an einer septischen Fehlgeburt verstarb. Irische Frauen, erklärte die Regisseurin, reisten solcher Eingriffe wegen für einen Tag nach London. Sie habe die Situation auf die USA übertragen, wo jede fünfte Frau dafür mehr als 50 Meilen fahren müsse. Im Zentrum der Handlung steht die 17-jährige Autumn (gespielt von Sidney Flanigan) aus Pennsylvania, Kassiererin in einem Supermarkt wie ihre drei Jahre ältere Cousine Skylar (Talia Ryder). Ihr positiver Schwangerschaftstest erschreckt und veranlasst sie zu zunächst untauglichen Schritten, mit denen sie ihr Problem zu lösen sucht: der überdosierten Einnahme von Vitamintabletten, Schläge auf ihren Bauch, um den Fötus zu verlieren, Besuch bei der Beratungsstelle, wo man ihr Erziehungshilfen oder Informationen über eine mögliche Adoption anbietet. Auf ihren Abtreibungswunsch hin zeigt man ihr ein Video mit Details über den Eingriff. Da unter 18-Jährige in Pennsylvania dafür die Zustimmung ihrer Eltern benötigen, kommt für sie jedoch nur eine Klinik in Manhattan infrage, mit Übernachtung in New York. Um die Mutter oder den Stiefvater einzuweihen, fehlt das Vertrauen. So beschafft sie sich heimlich das dafür nötige Geld; ihre Cousine hilft ihr dabei sogar durch einen kleinen Diebstahl. Was später noch fehlt, erbringt ein Jungenkontakt in New York, wofür Skylar ein wenig Geknutsche in Kauf nimmt. Der Eingriff bei Autumn erfolgt unter Narkose. Die zuvor erforderliche

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Foto: Lifestyle pictures / Alamy Stock Foto

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NIEMALS SELTEN Eine 17jährige ist die Protagonistin. Sie will nicht nach der Einwilligung der Eltern fragen.

Befragung geschieht in diesem naturalistischen Film durch eine echte Sozialarbeiterin. Auf der Rückfahrt mit dem Bus sucht Skylar Einzelheiten und Gefühle zu erfragen. Letzte Klarheit darüber gewinnt man nicht. Den Film charakterisiert eine Botschaft im aktuell dominierenden feministischen Verständnis. Demgemäß überschütteten ihn internationale Komitees bereits im Erscheinungsjahr mit Ehrungen, darunter etwa: die Alliance of Women Film Journalists Awards, British Independent Film Awards, Boston Society of Film Critics Awards, Chicago Film Critics Association Awards, Los Angeles Film Critics Association Awards, New York Film Critics Circle Awards oder die Festival-Jurys von San Sebastian, Wien und Zürich. Bei der Berlinale (Silberner Bär und Großer Preis der Jury) und der Filmkunstmesse Leipzig kamen weitere Auszeichnungen hinzu, ebenso – wie nicht anders zu erwarten – eine Prämierung durch die Jury der Evangelischen Filmarbeit. Inzwischen wurden es gut ein halbes Dutzend Preise mehr, sodass die Annahme naheliegt, hier werde eine globale Agenda gefahren. Dennoch stellt der Film, getragen von der Brillanz der beiden Hauptdarstellerinnen, zweifellos eine cineastische Leistung dar, die auch aus abweichender weltanschaulicher Perspektive Respekt verdient. Zumindest entproblematisiert er das Thema nicht, sondern entfaltet es durch milieudicht-authentische Verankerung. Die Aufnahmen in Pennsylvania oder Manhattan, im Busterminal oder der U-Bahn in Brooklyn vermitteln eine glaubhaft gemachte soziale Tristesse, die nur durch die Solidarität der jungen Frauen gemildert wird. Autumns trauriges Gesicht vergisst man nicht leicht. Auch nicht jene Szene in einer Karaokebar, in der sie den Song „Don’t Let the Sun Catch You Crying“ von Gerry and the Pacemakers vorträgt, dessen Schlussoptimismus sie so gar nicht verkörpert. In dieser freudlosen Atmosphäre wird ihre gefühlte Ausweglosigkeit plausibel.

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Unplanned

„Unplanned“ ist ein US-amerikanisches Filmdrama aus dem Jahr 2019 von Cary Solomon und Chuck Konzelman. Die Handlung basiert auf der Lebensgeschichte von Abby Johnson, die von Ashley Bratcher gespielt wird, und thematisiert Abtreibungen in den Vereinigten Staaten.

Als Tendenzprodukt erscheint das Werk eher im Lichte einschlägig politisierter Filmkommentare, die in extenso zu mustern an Zumutung grenzt. Ich begnüge mich mit wenigen Zitatschnipseln aus Wikipedia: „Variety“ etwa lobt das Drehbuch als „Wunder der Sparsamkeit“, besonders deshalb, weil „man niemals den Vater des ungeborenen Kindes von Autumn kennenlernt“. (Nun ja, Väter haben im heutigen Mainstreamfeuilleton generell abgedankt.) Weiter heißt es, „wenn der Film anfänglich etwas düster sei, könne man sich leicht vorstellen“, dass Autumn „ihr Leben mehr oder weniger wieder so aufnehmen kann, wie zuvor“. (Welche Aussicht!) „IndieWire“ schwärmt, der Film „werfe einen einzigartigen Blick darauf, was es bedeutet, heute ein junges Mädchen zu sein, mit all der Freude und dem Schmerz, die damit einhergehen. Möglicherweise werde der Film bei vielen Zuschauern in Erinnerung bleiben und sogar deren lang gehegten Überzeugungen ändern“. (Welche, darf man fragen.) Anna Wollner von „RBB24“ formuliert, „das Teenager-Abtreibungsdrama zeige nicht nur Trumps Amerika“ (Den braucht’s als Kontrastfolie offenbar überall.), „sondern sei ein Manifest für weiblichen Zusammenhalt“, eine „wahre Perle des feministischen Kinos“. „Die Mädchen seien keine Opfer, aber sie sind gefangen in ihrer von der männlich dominierten Gesellschaft auferlegten Rolle, dennoch sei der Bund der Frauen stärker als jeder männliche Übergriff“. Okay, diese Platte kennen wir bereits. Auch die von Nadine Lange, wenn sie im „Tagesspiegel“, auf welcher Basis auch immer, schreibt, der Film erzähle „von der alltäglichen MeTooRealität junger Frauen“. In die gleiche Kerbe schlägt „Spiegel Online“, dem erklärende Dialoge verzichtbar scheinen: „Es reicht, eine frauenfeindliche, widerständige Umwelt zu zeigen, um zu verstehen, warum sich Autumn zu drastischen Maßnahmen gezwungen sieht.“ Usw. usf. FR E I L I CH


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UNPLANNED Für ein Frau wird es konkret. Der drastische Eingriff ist eine nachhaltige Entscheidung.

Der Film erhielt das Prädikat „besonders wertvoll“ mit der Jurybegründung, er „gehöre zweifellos zu den einfühlsamsten, prägnantesten und bewegendsten Filmdramen, die sich bis heute mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch beschäftigt haben. Eine der zentralen Stärken des Films finde sich darin, dass die erzählerische Perspektive der beiden Hauptprotagonistinnen mit absoluter Konsequenz eingehalten wird […]. All das kulminiere in der Befragung, der sich die Hauptfigur in der Abtreibungsklinik stellen muss, in der sich in wenigen Worten der ganze Abgrund an Erfahrungen des Mädchens in der patriarchalen Welt ihres Umfelds offenbart.“ (Ist das tatsächlich so?) Auch der unterrichtliche Einsatz wird empfohlen – z. B. durch das Onlineportal „kinofenster.de“ ab Klasse 9 etwa für Sozialkunde, Rechtslehre, Philosophie, Ethik, Religion, Philosophie, Englisch und Deutsch. Materialien werden mitgeliefert. So ließe sich Prävention betreiben und „das Für und Wider von Schwangerschaftsabbrüchen debattieren“. (Wie das, wo doch die Gegensicht im Film keineswegs glaubhaft zur Geltung kommt?) Bliebe noch Jens Balkenborg von „epd Film“ mit seiner Behauptung, niemand habe sich bisher dem Abtreibungsthema derart ehrlich, hart, rührend und vielschichtig genähert wie Hittman. Wirklich nicht? Ich empfehle etwas mehr Recherche, und vor allem die Beschäftigung mit einem Film, der vor gut fünf Jahrzehnten von Ulrich Schamoni in Deutschland gedreht wurde.

Ein offenes Kunstwerk

Er trägt den Titel „Es“, erschien 1966 und wurde (zusammen mit Volker Schlöndorffs „Der junge Törless“ und Peter Schamonis „Schonzeit für Füchse“) als Auftakt des „Neuen Deutschen Films“ gefeiert. Auch er bot Programmatisches, hier gemäß dem „Oberhausener Manifest“ von 1962, das die festgestellte tabuN °16 / A PR I L 2022

Niemals Selten Manchmal Immer

„Niemals selten Manchmal immer“ ist ein Filmdrama von Eliza Hittman. Im Film wird die 17-jährige Autumn schwanger. Weil das Gesetz über die Einwilligung der Eltern sie hindert, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, reist sie gemeinsam mit ihrer Cousine Skylar von ihrer kleinen Stadt in Pennsylvania nach New York, um dort unbürokratische H e u e .

bestimmte Konventionalität von „Papas Kino“ attackierte. Statt problemfreier Unterhaltung, wie in den 1950ern vielfach geboten, solle die bundesdeutsche Alltagsrealität gezeigt werden. In „Es“ inszenierte ein 25-jähriger Außenseiter der Branche ohne staatliche Hilfe seinen ersten abendfüllenden Spielfilm. Der ihm zu Recht gespendete große Beifall vornehmlich des jüngeren Publikums belegte, dass er dessen Lebensgefühl getroffen hatte. „Es“ wurde umgehend mit dem Filmband in Silber plus 300.000 DM prämiert und in Cannes wie Locarno besonders erwähnt. Bereits 1969 zeigte ihn das Zweite Deutsche Fernsehen. Gemeinsam mit Schlöndorff erhielt Schamoni das Filmband in Gold. Weitere Auszeichnungen gab es verdientermaßen für Sabine Sinjen als beste Hauptdarstellerin und für Bruno Dietrich als besten Nachwuchsschauspieler, die uns ein Paar in der Krise eindringlich nahebringen. Überschwängliche Bilder illustrieren zunächst deren Lebensfreude und Liebesglück. Die jungen Leute wohnen unverheiratet in Westberlin zusammen. Hilke arbeitet als technische Zeichnerin, Manfred assistiert einem Grundstücksmakler mit viel Geschick und der Aussicht auf eine erfolgreiche berufliche Zukunft. Nichts stört ihr harmonisches Zusammenleben, zumal sie der als spießig geschilderten Bürgerlichkeit konsequent entfliehen. Einzig Hilkes Schwangerschaft bedroht die Idylle, und sie entschließt sich daher, das in ihr reifende „Es“ heimlich abzutreiben. Nach zahlreichen demütigenden wie vergeblichen Versuchen bei sie abweisenden Ärzten findet sie schließlich eine geeignete Adresse. Sie unterzieht sich der Operation just in dem Moment, als Manfred zufällig von Hilkes Schwangerschaft erfährt. Für eine Aussprache ist es nun zu spät, der Eingriff bereits geschehen. Die Schlussszene konfrontiert beide in Wortlosigkeit.

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UNPREGNANT So früh mit Fragen des Frauseins konfrontiert.

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ES Es gibt sie noch immer: die bürgerlichen Lebenslügen.

Schamonis „Es“ rebelliert fraglos gegenüber verbreiteten bürgerlichen Lebenslügen, wie sie bereits 1957 in Martin Walsers „Ehen in Philippsburg“ thematisiert wurden. Er charakterisiert überkommene Ehen in ihrer konsum- oder renommagebezogenen Fassadenhaftigkeit oder dekonstruiert eine abgelebte (Doppel-)Moral, die man als Mief der Adenauerjahre zu bezeichnen sich angewöhnt hat. Gegen die Drohung des damaligen § 218 StGB bringt er das Selbstbestimmungsrecht junger Frauen zur Geltung, denen eine weithin verständnislose Ärzteschaft in ihrer Not eine Art Spießrutenlauf zumutet. Dabei werden die Vertreter tradierter Ethik schon optisch nicht eben als Sympathieträger gezeigt. Ihre Einlassungen wirken meist von oben herab belehrend, auch mal missgünstig aus

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Notlagen von Frauen sollten nicht durch Strafrechtsdrohung bestimmt werden.

der Sicht Nichtbetroffener. Eine Ärztin vermittelt den Eindruck, als werte sie Schwangerschaft als Strafe für sexuelle Libertinage. Andere wirken als papageienhafte Vertreter einer Offizialmoral. Doch erschöpft sich der Film keineswegs in dieser Kritik, sondern bietet ein Extra, das wirkliche Kunstwerke auszeichnet. Denn so authentisch und subjektiv verständlich uns diese (von Sabine Sinjen kongenial verkörperte) Vertreterin einer Generation erscheint, die sich ihre Lebenslust und Selbstbestimmung nicht von anderen beschränken lassen will, so unverdrängbar problematisch wirkt besonders das Filmende. Denn nun regiert Ratlosigkeit bzw. das Bewusstsein, mit einer Welt, in der das Paar glaubte, alles besser oder richtiger zu machen, nicht ganz fertiggeworden FR E I L I CH


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zu sein. Das Schlussbild zeigt eine völlig erschöpft auf dem Sofa liegende Frau und einen schockierten Partner, der sich nie träumen ließ, was seine auf Karriere und Jungsein bezogene Mentalität, wenn auch unfreiwillig, angerichtet hat. Wir gewahren abgewendete oder leere Blicke, die sich nicht mehr treffen. Zeichen von Apathie und Trostlosigkeit, die an Bilder Ed Hoppers erinnern. Dieser Eindruck wirkt auch bei der heutigen Betrachtung des Filmes noch nach, zunächst aus dem Empfinden heraus, dass ihre prekäre Lage nicht zuletzt von einer Kommunikationsstörung herrührt. Denn ist es gänzlich ausgeschlossen, dass diese beiden, die sich so gut verstehen, fähig sein sollten, im Familiensinn „erwachsen“ zu werden? Liegt Hilkes möglicher Irrtum nicht vielleicht in ihrer „Gewissheit“, dass Manfred von seinem Lebenskonzept her ein Kind keinesfalls wünsche, weshalb sie ihm ihre Schwangerschaft verheimlicht? Auch will sie nicht aus bloßem Pflichtgefühl geheiratet werden, und sie fühlt sich zu jung für diesen radikalen Wechsel ihres Lebens. Darüber hinaus zweifelt sie an der Vereinbarkeit zweier Lebensformen: der ungebunden-spontanen, lust- und fantasievollen Existenz einer verlängerten Jugend und einem von Verantwortung, Folgelasten und trister Anpassung bestimmten Dasein, das sich erst im Blick auf Ahnenfolgen angemessen bilanziert. Dass nicht Schamonis Generation, aber die ihr nachfolgende in erheblichem Maße diese Verpflichtung zurückwies, lässt sich an der heute zerrütteten Demografie unschwer erkennen. Und es darf wohl auch sonst bezweifelt werden, dass jene durch Verlängerung eines „Elementarteilchen“-Glücks erkaufte Jugend für alle zumindest auf Dauer ein Segen ist. Zu viele Schicksale besonders von Frauen zeugen dagegen, wie Krankenstatistiken in soziologischer Dimension verraten.

Mentalitätswechsel und heutige Medizinpraxis Zur Klarstellung: Ich glaube nach wie vor nicht, dass Entscheidungen von Frauen, die sich objektiv oder subjektiv in einer Notlage befinden, schlicht durch Strafrechtsdrohung bestimmt werden sollten. Lässt sich doch kaum übersehen, dass Familienverantwortung für manche zu früh kommt und dass sie ihr häufig – auch zu Lasten der Kinder – nur schlecht gewachsen sind. Vor allem dort, wo die Zerstörung alternativer Lebenspläne mit einer nur kurzfristigen Leidenschaft zusammenfällt. Auch verdränge ich nicht (als „altgewordener Pharisäer“, den solches nicht mehr betrifft), mit welchem Bewusstsein wir damals im studentischen Milieu der späten 1960er die Rechtslage mehrheitlich beurteilten: als unzulässige Einmischung in persönN °16 / A PR I L 2022

Schwangerschaftsabbruch Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland als Straftat definiert. Daher stehen die Gesetzestexte zum Thema Schwangerschaftsabbruch auch im Strafgesetzbuch – genauer in den Paragrafen 218 und 219. In Paragraf 218 heißt es: „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.” Allerdings hat der Gesetzgeber hier Ausnahmen vorgesehen. Aus medizinischen oder kriminologischen Gründen ist ein Schwangerschaftsabbruch nicht rechtwidrig – also zum Beispiel nach einer Vergewaltigung oder wenn es schwerwiegende gesundheitliche Gründe bei Mutter oder Kind gibt. Allerdings trifft das nur auf einen winzigen Bruchteil der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland zu, im Jahr 2020 etwa auf 4 % – von knapp 100.000 Abbrüchen. Der weit größere Teil wird nach der sogenannten Beratungsregelung durchgeführt. Denn nach der Beratungsregelung bleibt auch ein Abbruch ohne kriminologische oder medizinische Gründe straffrei – wenn er vor der 14. Schwangerschaftswoche vorgenommen wird.

lichste Belange, als repressiven Akt in einem Generationenkonflikt und Ausdruck von Verlogenheit. Jede(r) kannte Fälle, in denen solche „Unfälle“ illegal geregelt wurden. Und wir erahnten zumindest die Dimension der Dunkelziffer solcher Gesetzesverstöße. Selbst die Kultur wussten wir anhand von Standardtexten abendländischer Lektüre aufseiten der Bedrängten: von Wagners „Kindermörderin“ und der Gretchen-Tragödie in „Faust“ über Hebbels „Maria Magdalena“ oder Strindbergs „Fräulein Julie“ bis zu Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“. Stets nahm man gefühlsmäßig Partei für die am Sittlichkeitspranger stehenden „Sünderinnen“ gegen orthodoxe Bigotterie. Doch sind die Zeiten moralischer Ächtung ebenso vorbei wie die notbedingter Kurpfuscherei. Die Entscheidung „Kind oder nicht“ ist zumindest innerhalb einer bestimmten Frist faktisch den Betroffenen zurückgegeben worden, die sie je nach ethischer Einstellung oder religiöser Verankerung fällen. Heute stehen eher diejenigen, die darauf hinweisen, dass die Tötung eines werdenden Kindes weder Bagatelle noch Normalität sei, unter massivem (im Fall von Lebensschutzorganisationen sogar militantem) Druck. Der „Babycaust“-Vorwurf musste erst durch Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte als von der Meinungsfreiheit gedeckt legitimiert werden, ohne dass nun endlich Rechtssicherheit geschaffen wäre. Denn nach wie vor ergehen, wo auch nur kleinste Spielräume gegeben scheinen, etliche Einzelfallurteile unterer Gerichtsinstanzen zulasten derjenigen, die ihn aussprechen. Jüngst wurden linksgrüne Pläne wiederbelebt, Abtreibung zur verpflichtenden Ausbildungsroutine von Ärzten zu machen. Wer dies nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, riskiert mancherorts die Kündigung. Auch plant die neue Bundesregierung, Werbung für den Abort zu legalisieren. Obwohl Schwangerschaft gewiss keine Krankheit ist, reguliert sie unser Kassen- bzw. Sozialsystem gegen elementare demografische Interessen zwangsweise auf Kosten aller. Man hat bei Versicherungsabschluss nicht mal die Chance, frei zu entscheiden, ob man auf Abtreibungsfinanzierung verzichten und stattdessen ein Willkommensgeld für Neugeborene beziehen möchte. Die „Betriebskasse Industrie, Handel und Banken“ hatte mal ein solches Angebot unterbreitet und sich damit einer wilden Kampagne feministischer Organisationen ausgesetzt. Der „Spiegel“ tönte vom „Grundrecht“ auf Abtreibung gegen „fromme Betschwestern und völkische Burschen“, die „ihre kleine, heile Welt“ bewahren wollten, und das für die Rechtsaufsicht zuständige Bundesversicherungsamt entschied den Fall per juristischer Drohung im Sinne des schlechten Alten. Nach wie vor alimentieren wir also jährlich mit 40

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Sechsjährige sollen also bereits darüber grübeln, welchem Zufall es entspringt, dass sie überhaupt auf der Welt sind.

Millionen Euro die sich auf 100.000 Fälle belaufende Tötungslizenz. Und deutsche Steuerzahler und Versicherungsnehmer werden nochmals zur Kasse gebeten, wenn verhinderte Mütter den Abort seelisch schlecht verkraften oder sich Endvierziger äußerst kostenintensiv plötzlich bewusst werden, was es heißt, einem kinderlosen Alter entgegenzusehen. Eingedenk solcher Folgen habe ich manche jugendliche Blauäugigkeit revidiert. Weiß ich inzwischen doch mehr über keineswegs seltene psychische Schäden von Müttern, die dies zu verantworten haben. Die fraglos emanzipierte und zudem couragierte Sängerin Nena hat einmal bekannt, dass ihr die Tat heute noch Probleme bereitet. Und in meinem Freundeskreis führte dies zu einer schweren seelischen Erkrankung und letztlich zu Lebensuntüchtigkeit. Auch konnte ich mich schon bald dem Eindruck von Fotos aus dem Mutterleib nicht entziehen, die mich darüber aufklärten, dass schon relativ früh kleine Menschlein heranwachsen, nicht nur undefinierbare Zellklumpen.

Unpregnant „Unpregnant“ ist ein US-amerikanischer uge u Roadmovie aus dem Jahr 2020.

Little Kids in America

Vor diesem Hintergrund ein kurzer Blick auf den im letzten Herbst in deutsche Kinos gelangten, von Sky mit Verve verbreiteten Film „Unpregnant“ von Rachel Lee Goldenberg. Das 2020 uraufgeführte Machwerk, das bereits erste Kritikerelogen eingeheimst hat, verdient keine ausgewogene Besprechung. Seine Handlung hat die Plausibilität eines Kleinkindercomics, die Problemfundierung ist unterirdisch und seine Botschaft so gesund wie Fast-Food-Massenkonsum. Das Abtreibungsthema wird zur Heldinnenstory und Teenager-Abenteuerfahrt verklärt, wobei Coolness über alles geht und einzig schräge Typen die Welt richtig begreifen. Die Grundstory – eine 17-jährige College-Studentin, die als Minderjährige in Missouri nur mit Zustimmung der Eltern abtreiben darf, bricht mit ihrer punkigen Freundin heimlich per Auto nach New Mexico auf – ist von Hittman abgekupfert, allerdings ohne deren Realismus und künstlerische Verantwortung dem Stoff gegenüber. Dass es sich um eine „warmherzige Teen-Komödie“ handle, wie diverse Kritiker und besonders „TV digital“ der Selbstvermarktung nachbeten, erweist sich als ideologiebesetzte Geschmack-

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Es

„Es” ist ein westdeutsches Filmdrama von Ulrich Schamoni aus dem Jahr 1966 und gilt als eine der ersten Arbeiten des Neuen Deutschen Filmes.

losigkeit, die Amerikas Filmwelt in peinlicher Weise entblößt. Das in diesem Roadmovie gezeigte intellektuelle Niveau pubertierender College-Girls harmoniert mit dem Bewusstsein der Regisseurin, die sich an keiner Stelle über ihre Figuren erhebt. Dem weiblichen Abtreibungstandem und ihren sie ob dieser „Mutprobe“ feiernden Freundinnen möchte man in der Tat keine Kinder anvertrauen. Nur von daher passt diese Story. Man untertreibt, wenn man das skizzierte Gesellschaftsbild nur klischeehaft nennt. Es geht fast ausschließlich um Mädchenbeziehungen im engen wie weiten Sinn. Hundertmal wichtiger als die Tötung eines Embryos ist die Frage, ob die zuvor gestörte Freundschaft zwischen einer Hochschulstreberin und ihrer (später als lesbisch gezeigten) vornehmlich durch Popmusikkenntnisse brillierenden Exfreundin wieder gekittet wird. Aus dieser radikalfeministischen Sicht blühen Phobien: Männer sind entweder schrankenlose Egoisten wie ein verantwortungsloser Vater, dessen egozentrische Vernachlässigung der Tochter selbst bei ihrem überraschenden Besuch nach Jahren kein gemeinsames Mittagessen erlaubt, oder religiös fanatische Abtreibungsgegner und skurrile Spinner. Dazu zählt besonders ein junger Trottel, der die Folgen seines unachtsamen Geschlechtsverkehrs durch sofortige Heirat auffangen will. Doch wird er von den Heldinnen von Mal zu Mal mehr gedemütigt und letztlich als lästiger Stalker verjagt. Ansonsten fungieren Männer als übertölpelte Polizisten oder als Abtreibungsarzt, während die weiblichen Pflegekräfte nur den humanen Part der freundlich auf die Prozedur Vorbereitenden übernehmen: „Sie machen das toll!“ „Tut nicht weh.“, „Nicht mal zehn Minuten.“, „Ich bin sicher, Sie schaffen das. Alles wird gut.“ Und das Aufwachen geschieht unter glücklich strahlenden Gesichtern. Wirkt doch die ganze Klinikszenerie wie ein Werbefilm für den Abort. Zur Misandrie übrigens noch eine Differenzierung: Denn schwarze Männer – frau ist schließlich korrekt – werden natürlich ausgenommen. Sie verkörpern vielmehr das, was in diesem verdrehten Ambiente unter „Toleranz“ läuft: ein junger Mann, der ungeachtet schroffer Abweisung den beiden Mädchen spontan unter die Arme greift und die nach ihnen fahndenden FR E I L I CH


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weißen Polizisten ablenkt. Ein älterer Schwarzer, der mit einem Riesenauto die beiden bis vor die Klinik fährt, auf die Gesetzgebung Missouris fluchend, die unerklärlicher- wie unberechtigterweise so etwas scheinbar Perverses wie eine elterliche Zustimmung zur Abtreibung fordert. Eine schwarze Pfandleiherin ergänzt diese Solidarität gegenüber einer (Frauen vermeintlich nur drangsalierenden) Obrigkeit. Entgegen gesetzlicher Vorschrift versilbert sie der minderjährigen Abtreibungswilligen einen Diamantring zur Finanzierung ihrer Fahrt und bedroht den verachteten Liebhaber, der das verhindern will, mit einem Schießprügel. Er war es übrigens, der seiner Partnerin das Schmuckstück zuvor als Ehering präsentiert hatte. Eine offenbar niemandem bewusste Monstrosität birgt folgender Dialog. Auf die Frage der Freundin, wie sie sich nach dem Eingriff fühle, heißt es: „Erleichtert und hungrig.“ Dann folgen Bilder einer üppigen Brotzeit, und wir erfahren: „‚Ach ja, ich hab mir ’ne Spirale legen lassen.‘ – ‚Dann ist das wohl unser letzter Abtreibungsausflug?‘ – ‚Genau. Schade, was?‘“ … Zum Happy End zeigt natürlich auch noch die belogene, getäuschte und ursprünglich geschockte Mutter Verständnis. Sie empfi ndet zwar anders, aber zur Schlussversöhnung trägt auch sie bei: „Ich hab dich doch lieb. Du bist viel wichtiger für mich als diese Sache.“ „Diese Sache“. Alles okay, Bussi und Streicheln. Mehr Worte lohnen nicht für diesen kinder- und männerfeindlichen Film einer Regisseurin, die offenbar ein ethisches Spatzenhirn besitzt. Nur noch eine Einordung vor dem Hintergrund der aktuellen Corona-Panhysterie. Denn diese agendahaft verkündete „Wokeness“ entstammt paradoxerweise dem gleichen vermeintlich „liberalen“, „demokratischen“ oder linksgrünen Gesinnungslager, das seiner Untertanenherde gerade eine Impfdiktatur appliziert. Seine Leibesfrucht darf man offenbar reflexionslos töten, aber der Arm gehört dem Staat für dessen Pieksorgien. Oder, um es mit André Lichtschlag („eigentümlich frei“, Oktober 2021) zu sagen: „Es sind dieselben, die unter dem verlogenen Banner ‚Mein Körper gehört mir‘ die Zerstückelung von Babys im Mutterleib bejubeln und die jetzt in der Langzeitwirkung unbekannte genverändernde Substanzen in alle, die da skeptisch sind, am liebsten N °16 / A PR I L 2022

Günter Scholdt geboren 1946 in Mecklenburg, ist habilitierter Literaturwissenschaftler und ehemaliger Leiter des „Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass“ in Saarbrücken. Der ehemalige außerordentliche Professor nennt als Forschungsund Publikationsschwerpunkt u. a. „Aktuelle gesellschaftliche Deformationen und Befindlichkeiten“. scholdt.de

zwangsinjizieren möchten […]. Welcher Geist steckt da dahinter?“ Nun, es ist der Geist der Dekadenz. Und wo in diesem Film über alles Ernsthafte hinweggewitzelt oder -polemisiert wird, kommt man kaum um die Diagnose herum. Sollte ein solcher Film auch nur teilrepräsentativ sein für die öffentliche Meinung eines Landes, dann ist dieses reif zur Ablösung durch andere Kulturen. Dann schreit es geradezu nach Übernahme durch diejenigen, die sich noch vitalen Fragen stellen.

Groteske zum Schluss

Deutschlands „Freiwillige Selbstkontrolle“ gab Schamonis „Es“ ab 16 Jahren frei. Wie sich die Zeiten geändert haben, zeigt, dass die Altersempfehlung für „Niemals Selten Manchmal Immer“ bereits ab sechs (!!!) Jahren erfolgte mit der kuriosen Begründung, „die Erlebnisse der beiden Mädchen spiegelten subtil Fragen des Erwachsenwerdens und weiblicher Selbstbestimmung“. Alles Fragen, die sich offenbar bereits Sechsjährige (!) stellen sollen. Und weiter heißt es: „Lediglich einzelne Momente könnten Kinder im Vorschulalter irritieren und ängstigen, etwa kurze Momente von Demütigung und sexueller Belästigung. Da aber die Inszenierung durchweg zurückhaltend ist, könnten bereits 6-Jährige den Film verarbeiten, auch wenn sich ihnen viele Aspekte noch nicht erschließen.“ Sechsjährige sollen also bereits darüber grübeln, welchem Zufall es entspringt, dass sie überhaupt auf der Welt sind. Das ist so pervers wie diverse Exzesse der hierzulande vielfach gängigen Sexual-„Erziehung“ bereits in Grundschulen, über die der Satiriker Albrecht Zutter einmal spottete: „Nach dem modernen Aufk lärungsunterricht fragte das Kind. Darf man das auch bleiben lassen?“ Und die FSK-Empfehlungen halten noch Steigerungen bereit. Denn bei „Unpregnant“, dieser indiskutabel blödelnden Verharmlosung des Aborts, lautet die Altersempfehlung „ab 12“. Als für so junge Menschen untragbar gilt lediglich Solomon/ Konzelmans „Unplanned“. Hierin wirbt schließlich jemand verstörenderweise für Lebensschutz, und das gibt die FSK erst „ab 16“ frei. Das darf man kindlichen Seelchen, die sich zwischen 6 und 12 Jahren lieber für Abtreibung erwärmen mögen, besser nicht zumuten. Noch Fragen? Keine.

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Die gute Gesellschaft der Gleichen und Geduldigen, das ist der egalitäre Traum. Aber Freiheit beruht eben auf dem Recht, nicht gleich sein zu müssen.

Die Gesellschaft ist kein Markt

Alain de Benoist: Gegen den Liberalismus. Die Gesellschaft ist kein Markt

Foto: shutterstock / Wirestock Creators

Alain de Benoist

GEGEN DEN LIBERALISMUS

Jungeuropa Verlag, 2. Aufl. Dresden 2022, 412 Seiten. ISBN 978-3-948145-13-2 A € 30,90 / D € 30,00

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GEGEN DEN LIBERALISMUS

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AUS DEM BUCH:

Demokratie illiberal gedacht Warum Demokratie und Liberalismus nicht mehr zusammengehen.

VON ALAIN DE BENOIST

Die liberale Demokratie ist heute im Niedergang begriffen. Davon zeugen nicht nur mehrere Abhandlungen, die kürzlich zumeist in den angelsächsischen Ländern erschienen sind, sondern auch das Aufkommen einer neuen Erscheinung, die man bezeichnenderweise „die illiberale Demokratie“ genannt hat. Im gleichen Maße wie der Aufstieg der populistischen Strömungen – eine „neue Lepra“, so Emmanuel Macron – stellt das Aufkommen der „illiberalen Demokratien“ ein neues Phänomen dar, das von der Erschöpfung des parlamentarischen Systems zeugt und repräsentativ für eine neue Form von Demokratie ist, die mehr souveränistisch ist und gleichzeitig dem Volkswillen mehr Beachtung schenkt. Der Begriff „illiberale Demokratie“ ist natürlich zweideutig, und wir werden bestimmt nicht in Abrede stellen, dass sie in manchen Fällen zu rein autoritären Regimen im trivialsten Sinne führen kann, ebenso wie sie für eine umfassende Erneuerung der Demokratie stehen kann. Was genau ist aber eigentlich unter ihr zu verstehen? Der Begriff „Illiberalismus“ kam im Laufe der Neunzigerjahre auf, wurde jedoch erst Ende 1997

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wirklich bekannt, nach der Veröffentlichung eines berühmt gewordenen Artikels von Fareed Zakaria in der Zeitschrift „Foreign Affairs“; der Veröffentlichung folgte die Herausgabe eines Buches, das zum Gegenstand zahlreicher Diskussionen wurde. Fareed Zakaria definiert die illiberale Demokratie als eine Doktrin, die die herkömmliche Ausübung der Demokratie von den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit trennt. Es handelt sich um eine Form von Demokratie, in der die Volkssouveränität und die Wahl weiterhin eine wesentliche Rolle spielen, in der man aber nicht zögert, von bestimmten liberalen Grundsätzen (Verfassungsbestimmungen, individuelle Freiheiten, Gewaltenteilung usw.) abzuweichen, wenn besondere Umstände es fordern. Das äußert sich in einer Ablehnung des Individualismus und der „Sprache der Menschenrechte“, einer Ablehnung der kantianischen Vision von einem „ewigen Frieden“ und damit in einer Ablehnung eines bedeutenden Teils vom Erbe des Humanismus und der Aufklärung. „Damit befinden wir uns näher an Rousseaus Volonté générale (allgemeiner Wille) als an Montesquieus Gewaltenteilung“, bemerkt

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Viktor Orbán empfiehlt dem ungarischen Volk und den europäischen Nationen, allem, was ihre gemeinsamen Werte gefährdet, die Stirn zu bieten.

Jacques Rupnik. Der amerikanische Neokonservative Daniel Pipes verwendet seinerseits den Begriff „Zivilisationisten“, um das Bündnis der Populisten mit den „Illiberalen“ zu benennen. In seinem Aufsatz schreibt Zakaria, dass die illiberale Demokratie sich heute „von Peru bis zur Palästinensischen Autonomiebehörde, von Sierra Leone bis zur Slowakei, von Pakistan bis zu den Philippinen“ behaupte, was ein wenig übertrieben sein mag. Unbestritten dagegen ist, dass in Europa, vornehmlich in den Ländern der Visegrád-Gruppe (Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen), aber auch in Kroatien, Slowenien, Rumänien, Österreich und neuerdings in Italien (zumindest bis 2019) seit einigen Jahren Regierungen zustande kamen, die nach dem „Illiberalismus“ ausgerichtet sind, und zwar vor dem Hintergrund einer Diskreditierung der institutionellen Altparteien sowie einer Störung des klassischen Links-rechts-Spektrums. „Man kann von einer illiberalen Demokratie von der Ostsee bis zur Adria sprechen“, bemerkt auch Jacques Rupnik. Der Politologe Sylvain Kahn, Verfasser einer kürzlich erschienenen „Histoire de la construction de l’Europe depuis 1945“, zögert nicht, von einer „Orbanisierung“ Europas zu sprechen. Viktor Orbán, der seit Mai 2010 Ministerpräsident von Ungarn ist und seitdem mit absoluter Mehrheit wiedergewählt wurde, war es nämlich, der am 26. Juli 2014 im Rahmen einer Sommeruniversität seiner Partei Fidesz als Erster diese Bezeichnung offen einforderte: „Die ungarische Nation ist nicht einfach eine bloße Ansammlung von Individuen, sondern eine Gemeinschaft, die organisiert, gestärkt, ja sogar aufgebaut werden muss. In diesem Sinne ist also der neue Staat, den wir in Ungarn bauen, kein liberaler Staat, sondern ein illiberaler Staat.“ Und er fügte hinzu, man solle diejenigen „Systeme verstehen, die nicht westlich, nicht liberal und keine liberalen Demokratien, vielleicht nicht einmal Demokratien sind, und trotzdem Nationen erfolgreich machen“. Viktor Orbán, der dem ungarischen Volk und den europäischen Nationen empfiehlt, allem, was ihre ge-

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meinsamen Werte gefährdet, die Stirn zu bieten, stellt fest, dass „die liberale Demokratie sich auch im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten und im Vergleich zu uns als unfähig erwiesen hat, das zur Selbsterhaltung der Nation notwendige öffentliche Vermögen zu beschützen“. Nun aber, fügt er hinzu, ist die Demokratie nicht zwangsläufig liberal: „Man kann Demokrat sein, ohne liberal zu sein.“ Im September 2017 erklärte Orbán vor dem ungarischen Parlament, dass die Annahme des westlichen Liberalismus durch die zentraleuropäischen Staaten „aus spiritueller Sicht betrachtet einen Selbstmord für die Mitteleuropäer bedeuten würde“. Einen Monat später, am 23. Oktober, dem Nationalfeiertag, griff er erneut die „Kraft in der Welt an, die die europäischen Nationen einförmig und identisch formen möchte“, und verurteilte das „Imperium der Finanzspekulation, das uns auch die neuzeitliche Völkerwanderung, die Millionen von Migranten und die Invasion der neuen Einwanderer aufgehalst hat. Sie haben jenen Plan ausgearbeitet, mit dessen Hilfe sie Europa zu einem gemischten Erdteil machen wollen“. Mit solchen Positionen zog er natürlich den Zorn der Brüsseler Kommission, George Soros’ und all derjenigen auf sich, die sich zu den Liberalen zählen. Seine Antwort: „Wir werden keine Kolonie sein! Das Wiener Diktat von 1848 haben wir nicht akzeptiert. Dann haben wir uns 1956 und 1990 Moskau widersetzt. Heute werden wir niemandem gestatten, uns unsere Haltung zu diktieren.“ Die Gründe für den Aufstieg des „Illiberalismus“ sind eindeutig und stimmen in vielerlei Hinsicht mit denen überein, die den Erfolg der populistischen Parteien erklären. Sie gründen zunächst in der Feststellung, dass die liberalen Demokratien sich fast überall allmählich in vom Volk abgeschnittene Finanzoligarchien verwandelt haben: Ineffizienz, Ohnmacht, Korruption, Parteien als bloße Maschinen zum Gewählt-Werden, kurzfristige Ziele usw. Zu dieser Feststellung kommt eine weitere, schwerwiegendere hinzu: In den liberalen Demokratien haben die Nationen und die Völker inzwischen nicht mehr die Mittel, ihre Interessen zu verteidigen. Was für einen Sinn mag die Volkssouveränität noch haben, wenn die Regierungen nicht mehr über die nötige Unabhängigkeit verfügen, um die wichtigsten Leitlinien in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Verteidigung, Außenpolitik selbst festzulegen? Darf man sich weiterhin Rechtsgrundsätze auferlegen, die, statt den Zusammenhalt der Völker zu fördern, zu ihrer Auflösung führen? Man erinnere sich an jene ernüchternden Bemerkungen, die Nicolas Sarkozy am 3. März 2018 anlässlich eines Forums in Abu Dhabi machte, denen zufolge „die modernen Demokratien das Leadership zerstören würden“. „Wie können wir Visionen für die folgenden

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10, 15, 20 Jahre haben, wenn die Dauer der Legislaturperiode, etwa in den Vereinigten Staaten, nur vier Jahre beträgt? Die großen Führer der Welt kommen aus Ländern, die keine großen Demokratien sind.“ Der Ausdruck „illiberale Demokratie“ sagt genau, was er meint: Er basiert auf einer demokratischen Theorie, die aber gegenüber dem Liberalismus feindlich gesinnt ist. Sie stellt einen historischen Bruch mit der Zeit dar, als in den westlichen Ländern der Ausdruck „liberale Demokratie“ als Pleonasmus angesehen wurde. Um ihn zu begreifen, unterstreicht Fareed Zakaria, müsse man damit aufhören, Liberalismus und Demokratie gleichzusetzen: „Der Verfassungsliberalismus unterscheidet sich theoretisch wie historisch von der Demokratie.“ Darauf weist ebenfalls der Politologe Philippe C. Schmitter, ehemaliger Professor an den Universitäten Stanford und Chicago, hin: „Der Liberalismus als Auffassung der politischen Freiheit oder als Doktrin in Sachen Wirtschaftsprogramm mag wohl mit dem Aufkommen der Demokratie zusammengefallen sein, er war aber nie eindeutig mit ihrer Praxis verbunden.“ Was also trennt Liberalismus und Demokratie und stellt sie einander gegenüber? Worin unterscheiden sich die liberalen Grundsätze von den demokratischen? Und warum kann der Liberalismus letzten Endes als eine „Unpolitik“ angesehen werden? Die Demokratie bedingt die souveräne Macht des demos oder – besser – die Volkssouveränität als konstituierende Macht, als verfassunggebende Gewalt. Die Demokratie ist eine Regierungsform, die dem Prinzip der übereinstimmenden Auffassungen zwischen Regierenden und Regierten entspricht; allen voran der Auffassung von einem Volk, das konkret durch sich selbst als politische Einheit existiert. Alle Bürger, die dieser politischen Einheit angehören, sind formell gleich. Das Prinzip der Demokratie ist nicht das Prinzip der natürlichen Gleichheit der Menschen untereinander, sondern das der politischen Gleichheit aller Staatsbürger. „Als Gleiche sind wir nicht geboren“, schreibt Hannah Arendt, „Gleiche werden wir als Glieder einer Gruppe, in der wir uns kraft unserer Entscheidung gleiche Rechte gegenseitig garantieren.“ Die „Kompetenz“, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, geht allein zurück auf die Tatsache, dass man Staatsbürger ist: Die Wahl folgt der Regel „ein Staatsbürger eine Stimme“ und nicht der Regel „ein Mensch eine Stimme“. In der Demokratie bringt das Volk durch die Wahl nicht Vorschläge zum Ausdruck, die „wahrer“ als andere wären. Das Volk lässt vielmehr wissen, wohin seine Präferenzen gehen und ob es die politische Führung unterstützt oder sich von ihr distanziert. Wie Antoine Chollet zu Recht schreibt: „In

Das Prinzip der Demokratie ist nicht das Prinzip der natürlichen Gleichheit der Menschen untereinander, sondern das der politischen Gleichheit aller Staatsbürger.

einer Demokratie hat das Volk weder Recht noch Unrecht, sondern es entscheidet.“ Eben hierin gründet die demokratische Legitimität. Zu wissen, wer Staatsbürger ist und wer nicht, ist daher die grundlegende Frage jeder demokratischen Praxis. Auch aus diesem Grund sind die territorialen Grenzen der politischen Einheit wesentlich. Parallel dazu bedeutet die demokratische Definition der Freiheit nicht Zwanglosigkeit wie in der liberalen Doktrin oder bei Hobbes („the absence of external impediment“ ist im „Leviathan“, 14, zu lesen), sondern die Möglichkeit für einen jeden, sich an der kollektiven Bestimmung der gesellschaftlichen Zwänge zu beteiligen. Die – immer konkreten – Freiheiten beziehen sich auf bestimmte Bereiche und besondere Situationen. Der Liberalismus ist völlig anders. Während das Politische weder eine „Sphäre“ noch ein von den anderen getrenntes Feld ist, sondern eine elementare Größe jeder menschlichen Gesellschaft oder Gemeinschaft darstellt, ist der Liberalismus eine Doktrin, die auf politischer Ebene die Gesellschaft in mehrere „Sphären“ aufteilt und behauptet, dass die „wirtschaftliche Sphäre“ gegenüber der politischen Macht verselbstständigt werden müsse, entweder aus Gründen der Effizienz (der Markt funktioniere nur dann optimal, wenn seine „natürliche“ Arbeitsweise durch nichts beeinträchtigt werde) oder aus „anthropologischen“ Gründen (die Handelsfreiheit, meint Benjamin Constant, befreie den Einzelnen von der sozialen Macht, denn der wirtschaftliche Austausch setze die Menschen definitionsgemäß am besten in die Lage, ihre Privatinteressen frei zu maximieren). Die ursprünglich als Reich der Not-

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wendigkeit wahrgenommene Wirtschaft wird auf diese Weise zum Reich der Freiheit schlechthin. In liberalem Sinne neu definiert, ist die Demokratie nicht mehr das politische System, das die Souveränität des Volkes krönt, sondern dasjenige, das „die Menschenrechte garantiert“. Die Menschenrechte haben derart Vorrang vor der Volkssouveränität, dass diese nur noch geachtet wird, sofern sie diese nicht in Abrede stellt: Die Ausübung der Demokratie steht also unter kontrollierten Bedingungen, allen voran der Einhaltung der „unveräußerlichen Rechte“, die jeder Mensch allein aufgrund seiner Existenz besitze. Gleichgesetzt mit einem „Rechtsstaat“, der zum unüberwindbaren Horizont unserer Zeit geworden ist, verwandelt sich die Demokratie in eine Bewegung in Richtung einer immer größeren Gleichheit der Lebensbedingungen; diese Gleichheit, die angeblich aus der freien Konfrontation der Rechte resultieren soll, wird nur noch als Synonym für Gleichartigkeit aufgefasst. Der Rechtsstaat löst das Politische unter der zersetzenden Wirkung der zunehmenden Vermehrung der Menschenrechte auf. Wie Marcel Gauchet zu Recht schreibt: „Die fortdauernde Heraufbeschwörung der Menschenrechte führt letzten Endes zur Lähmung der Demokratie.“ Der Rechtsstaat, der, daran sei erinnert, in erster Linie ein Staat des privaten Rechts ist, bedingt die Vorrangstellung des Rechts vor der politischen Macht und beruht auf der unbedingten Einhaltung der Gesetze. Indem er sich auf die Metaphysik der Menschenrechte stützt, die angeblich als einzige die Menschenwürde garantieren soll, verankert er die Macht der allgemeinen Gesetze als allgemeine Normen, die sich jedem, allen voran den politischen Führern, aufdrängen. Die Legitimität wird dann auf die bloße Legalität herabgesetzt, wobei das positive Recht rein unpersönlich und prozedural (verfahrensmäßig) regiert. Carl Schmitt hat aufgezeigt, dass dieses System den Begriff der „Legitimität“ selbst ausmerzt und dass er sich in Notsituationen, in denen die Normen nicht mehr gültig sind, als funktionsunfähig erweist. Wie Jacques Sapir gut beobachtet: „Schmitt ist der Ansicht, dass der liberale Parlamentarismus die Voraussetzungen dafür schafft, damit die Legalität die Legitimität verdrängt.“ Diese Ablösung der Politik durch das Recht oder das Gesetz führt zu einer Aushöhlung des Politischen. „Der politische Apparat ist nur eine künstliche Vorrichtung mit der Aufgabe, die Diskussion über den Inhalt des Rechts am besten zu realisieren“, schreibt Fabrice Flipo. Schmitt fasst in einem Satz zusammen: „[…] die Souveränität des Rechts [bedeutet] nur die Souveränität der Menschen, welche die Rechtsnormen setzen und handhaben.“ Der Rechtsstaat geht notwendigerweise Hand in Hand mit dem liberalen Individualismus und seiner Auffassung von einer ganz „negativen“ Freiheit, die nur

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Der Liberalismus misstraut dem Volk, er misstraut ebenso dem allgemeinen Wahlrecht, dessen Ausbreitung er – insbesondere in Frankreich –zu unterbinden versucht hat.

den Einzelnen und niemals die Allgemeinheit betrifft. Deshalb steht der Liberalismus dem Begriff der „Souveränität“ grundsätzlich ablehnend gegenüber – es sei denn, es handelt sich um die Souveränität des Einzelnen. Für ihn stellt jede Form der Souveränität, die den Einzelnen übersteigt, eine Gefahr für seine Freiheit dar. Er verurteilt daher die politische und die Volkssouveränität mit der Begründung, dass die Legitimität nur dem individuellen Willen angehöre. „Sobald eine Souveränität besteht, herrscht Despotismus“, meinte bereits Pierre-Paul Royer-Collard (1763–1845). Da der Einzelne rein theoretisch als souverän hingestellt wird, genieße der Staat keine eigentliche Legitimität. Da der Liberalismus die Gültigkeit einer demokratischen Entscheidung, die die liberalen Grundsätze oder die Ideologie der Menschenrechte beeinträchtigen könnte, nicht anerkennen will, hat er nie zugestanden, dass der Volkswille immer respektiert werden müsse. Er misstraut dem Volk, er misstraut ebenso dem allgemeinen Wahlrecht, dessen Ausbreitung er zu unterbinden versucht hat – insbesondere in Frankreich, wo die Liberalen mehr als anderswo von einer rationalistischen Tradition geprägt wurden, die zur Disqualifizierung der Meinung der Bürger führt. In der Vergangenheit war er bestrebt, die Vorteile des Wahlrechts den Reichsten oder den „Fähigsten“ vorzubehalten, weshalb er das Zensuswahlrecht so lange unterstützte (in den Vereinigten Staaten ist diese Auffassung bei Alexander Hamilton anzutreffen, der als „Vater des amerikanischen Kapitalismus“ angesehen wird, 1787, zur Zeit der Philadelphia Convention, der amerikanischen „Constitutional Convention“). Der Liberalismus hat sich außerdem an das Prinzip der Repräsentation gehalten: Alle liberalen Demo-

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kratien sind auch repräsentative parlamentarische Demokratien, das heißt, dass dort die parlamentarische Souveränität die Volkssouveränität ablöst. Für den Liberalismus sei die politische Macht nicht grundsätzlich dazu ermächtigt, zu lenken, sondern die Gesellschaft zu vertreten. Nun aber ist das Volk umso weniger dazu berufen, sich vertreten zu lassen, als es wirklich erst souverän ist, wenn es sich selbst gegenüber präsent ist. Jeder repräsentativen Regierung wohnt eine eindeutige antidemokratische Akzentuierung inne, was Rousseau gut erkannt hat: „Von dem Augenblick an, wo ein Volk sich Vertreter gibt, ist es nicht mehr frei, es ist nicht mehr“ („Gesellschaftsvertrag“, III, 155). Die politische Beteiligung beschränkt sich dort auf den Wahlgang, sodass der demos nicht mehr Akteure umfasst, sondern Stimmbürger. Es wird implizit behauptet, dass das Volk nicht selbst das Wort ergreifen könne, dass es seine Auffassung über gegenwärtige Probleme oder über Entscheidungen, die seine Zukunft prägen werden, nicht direkt kundtun dürfe, dass es sogar Themen gebe, die seiner Einschätzung entzogen werden müssten, wobei die Entscheidungen einzig durch die von ihm bestimmten Vertreter erfolgen sollen – das heißt durch Eliten, die meistens diejenigen fortdauernd verraten, von denen sie Macht und Befugnisse erhalten haben, allen voran die sogenannten Experten, die Mittel und Ziele regelmäßig verwechseln. Schon Sieyès definierte 1789 das repräsentative politische System als dasjenige, das den Willen des Volkes besser „deuten“ könne, als das Volk es selbst vermöchte. Wenn Wahlen stattgefunden haben, sagt man, dass das Volk gesprochen habe, was eigentlich bloß heißen soll, dass es nun nur noch still zu sein habe. Die Demokratie ist in erster Linie eine „-kratie“ (kratos); der Liberalismus kann daher nur bestrebt sein, sie einzuschränken, denn er misstraut der Macht des Volkes wie jeder anderen Macht überhaupt. Der Gleichheit der Staatsbürger stellt er also die Freiheit der Einzelnen gegenüber. Nun geht es im Wesentlichen darum, die politische Macht einzuschränken (daher die Betonung der Aufteilung der staatlichen Gewalt in die legislative, exekutive und judikative Gewalt und die Notwendigkeit von Gegenmächten) und ihre Autorität zu begrenzen – ohne einzusehen, dass in einer Demokratie das Fundament der Autorität systemisch ist. Mit der Begründung, „Gegenmächte“ errichten zu müssen, behindert der Liberalismus die Volkssouveränität über verschiedene Kanäle. Die immer weitreichenderen Befugnisse, die in Frankreich dem Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) übertragen werden, weisen in die gleiche Richtung. Dieser Verfassungsrat soll überprüfen, ob die politischen Entscheidungen mit den Verfassungsinstrumenten übereinstimmen.

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Die Methode besteht darin, bestimmte Elemente in den normativen Teil der Verfassung zu integrieren, die dort nichts zu suchen haben – oder aber auch Ideale (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) als Rechtsprinzipien mit normativem Charakter anzusehen, also als etwas, was sie nicht sind. Die Entscheidung vom 16. Juli 1971, die Präambel der französischen Verfassung aus dem Jahre 1946 in die heutige Verfassung zu integrieren, sie also zu einem konstituierenden Bestandteil zu erklären, verpflichtet nun das Parlament, nur solche Gesetze anzunehmen, die mit diesem gleichwohl rein deklamatorischen Text „konform“ sind. Das gilt auch für die Erklärung der Menschenrechte von 1789, die ebenso dem „Verfassungsblock“ einverleibt wurde. Hinzu kommen die Einschränkungen, die sich aus den europäischen Verträgen, der Macht der Richter, den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte usw. ergeben. So unterschiedlich kann man die Vorrangstellung der Menschenrechte und die reine Legalität der Legitimität der Volkssouveränität gegeneinanderstellen. Die liberale Demokratie ist die Demokratie ohne demos, ohne Volk. Carl Schmitt – der bekanntlich die für alle politische Aktivität relevante spezifische Beziehung (ihr „Kriterium“) nicht durch die Feindschaft, wie oft behauptet, definiert, sondern durch die Möglichkeit einer Unterscheidung und eines dialektischen Antagonismus zwischen Freund und Feind – betont den unpolitischen Charakter des Liberalismus. Einer der Gründe dafür ist, dass der Liberalismus nicht einsieht, dass der Konflikt ein elementarer Bestandteil der menschlichen Natur ist: Entweder glaubt er, ihn beseitigen zu können durch die Förderung des „sanften Handels“ (doux commerce) („Wir sind in der Epoche des Handels angekommen“, meinte Benjamin Constant, „diese neue Epoche wird zwangsläufig die des Krieges ablösen.“) sowie der endlosen Diskussion, die

Der Gleichheit der Staatsbürger stellt er also die Freiheit der Einzelnen gegenüber. Nun geht es im Wesentlichen darum, die politische Macht einzuschränken.

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selbst nach dem Muster einer Geschäftsverhandlung aufgefasst wird – oder er zeichnet vom Konflikt ein apokalyptisches Bild, bei dem der Krieg als das absolute Böse dem mit der „Menschheit“ gleichgesetzten Guten gegenübergestellt wird. „Der Liberalismus“, bemerkt Schmitt, „hat versucht, den Feind von der Geschäftsseite her in einen Diskussionsgegner aufzulösen.“ In Wirklichkeit „ist jede politische Einheit notwendig entweder die für die Freund- und Feindgruppierungen maßgebende Einheit und in diesem (nicht in irgendeinem absolutistischen) Sinne souverän, oder sie ist überhaupt nicht vorhanden“. Die Ideologie der Menschenrechte will nur die Menschheit und den Einzelnen kennen. Nun aber stützt sich das Politische auf das, was sich zwischen diesen beiden Begriffen befindet: die Völker, die Kulturen, die Staaten, die Hoheitsgebiete. Aus diesem Grund bedingt es die Existenz von Grenzen, ohne die die Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und Nicht-Staatsangehörigen (bzw. Ausländern) keine Bedeutung hat. Die Menschheit ist kein politischer Begriff: Man kann kein „Weltbürger“ sein, denn die politische Welt ist kein Universum, sondern ein Pluriversum: Das Politische erfordert eine Vielzahl an beteiligten Kräften. Die Menschheit kann keine politische Einheit sein, denn sie kann – außer metaphorisch – keinen Feind auf dieser Welt haben. Aus diesem Grund kann der Liberalismus nur gegen diejenigen Krieg führen, die er als „Feinde der Menschheit“ hinstellt, und lässt dadurch den Krieg fürchterlicher denn je werden. Und Carl Schmitt zitiert Joseph Proudhons leicht modifiziertes Wort: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“ Daraus folgt, wie Michael J. Sandel schreibt, dass „universelle Grundsätze ungeeignet sind, um eine gemeinsame politische Identität festzusetzen“. „Ein endgültig pazifizierter Erdball“, schreibt Schmitt noch, „wäre eine Welt ohne die Unterscheidung von Freund und Feind und infolgedessen eine Welt ohne Politik.“ So wird ersichtlich, worin der Liberalismus völlig unpolitisch ist. Er ist es bereits in seiner allgemeinen Auffassung des Menschen: Für ihn ist der Mensch kein politisches und soziales Wesen, dessen Leitspruch in-

ter homines esse heißen könnte, sondern ein von seinesgleichen getrenntes ökonomisches Wesen (Homo oeconomicus), das stets sein bestes Interesse zu maximieren sucht. Er ist es in seinem Bekenntnis zum Freihandel, der die Ausgrenzung jeder Form der politischen Autorität bedingt (sein utopischer Charakter folgt eben aus der Unmöglichkeit, den wirtschaftlichen Austausch gänzlich den Kräfteverhältnissen zu entziehen, die ihn daran hindern, „uneingeschränkt“ zu verlaufen). Er ist es auch in seiner Auffassung der Regierungspraxis: Die saint-simonistische Art, wie er die Regierung der Menschen auf die Verwaltung der Dinge herabzusetzen versucht, zeugt von seiner Hoffnung, politische Fragen „neutralisieren“ zu können, indem er sie auf technische Fragen reduziert; dabei wird die Technik selbst als überaus „neutral“ angesehen – was sie natürlich nicht ist –, ohne zu merken, dass, selbst wenn die Technik bloß ein Instrument wäre, sich die Frage sofort stellen würde, wer sie benutzt und in wessen Auftrag. Indem der Liberalismus das Regieren auf eine Unternehmensführung (governance), also auf die Umsetzung technischer Fähigkeiten zum alleinigen Zweck der administrativen Verwaltung, reduziert, unterliegt er dem, was JeanClaude Milner zutreffend „die Politik der Dinge“ genannt hat. Er ist schließlich der Auffassung, dass die Regierungen in Sachen „gutes Leben“ keine Stellung zu beziehen hätten. Auch diese Auffassung führt zu einem Verfall des Politischen, zumindest wenn man zusammen mit Aristoteles der Ansicht ist, dass „der Zweck der Politik in nichts anderem besteht, als den Menschen bei der Entfaltung ihrer rein menschlichen Fähigkeiten und Tugenden zu helfen“; Politik ist „keine Ökonomie mit anderen Mitteln“. Daher kann der Liberalismus streng genommen nicht von den Mitgliedern der Gesellschaft verlangen, dass sie ihr Leben aufopfern, wenn die gemeinsame Existenz bedroht ist, denn aus seiner Sicht könne „kein Programm, kein Ideal, keine Norm und keine Zweckhaftigkeit ein Verfügungsrecht über das physische Leben anderer Menschen verleihen“. Aufopferung ist dort nicht möglich, wo Eigennutz und Egoismus heilig sind, wo der Einzel-

So wird ersichtlich, worin der Liberalismus völlig unpolitisch ist. Er ist es bereits in seiner allgemeinen Auffassung des Menschen: Für ihn ist der Mensch kein politisches und soziales Wesen, sondern ein ökonomisches.

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Der Aufstieg der illiberalen Gesellschaften zeugt von einer allgemeinen Ausbreitung eines Gefühls, das mit einer zunehmenden Bedrohung der Freiheit verbunden ist.

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ne zugleich terminus a quo und terminus ad quem ist. Carl Schmitts Ansicht nach bedeutet der Liberalismus also „gänzliche Entpolitisierung“. Die Herrschaft des Liberalismus, erklärt er, führt unweigerlich die Entpolitisierung durch die Polarität der Moral (der Menschenrechte) und der Ökonomie (des Marktes) mit sich. Die Liberalen können natürlich „Politik betreiben“ (die liberale Demokratie versteht es, eine Autorität zu sein, wenn sie es will!), aber nicht im Hinblick auf ihre Grundsätze: „Denn die Negation des Politischen, die in jedem konsequenten Individualismus enthalten ist, führt wohl zu einer politischen Praxis des Misstrauens gegen alle denkbaren politischen Mächte und Staatsformen, niemals aber zu einer eigenen positiven Theorie von Staat und Politik.“ Schmitt schlussfolgert: „Es gibt keine liberale Politik schlechthin, sondern immer nur eine liberale Kritik der Politik.“ Doch Carl Schmitt unterstreicht auch – und das ist das Wichtigste –, dass jede entpolitisierte Gesellschaft über kurz oder lang „aus dem Zustand politischer Existenz in den unterpolitischen Zustand zurücksinkt […] und einem fremden, politisch aktiven Volk dient“. Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Betrachtung. Ein weiterer gewichtiger Grund für das Aufkommen der illiberalen Demokratien liegt nämlich darin, dass wir, wie Oswald Spengler meinte, in die „Jahre der Entscheidung“ eingetreten sind. Solange die Konjunktur relativ stabil war, konnte man an formalen Rechtsnormen und verfassungsrechtlichen Vorschriften festhalten. Doch sobald die Umstände ungewiss werden, die Bedrohungen derart steigen, dass es nicht mehr um die Frage geht, wie man leben, sondern wie man überleben soll, kurzum, sobald man in eine Notlage gerät, hat die Stunde der Entscheidung geschlagen, denn die herkömmlichen Standards sind definitionsgemäß in jeder unvorhergesehenen Situation ungeeignet. Wie Carl Schmitt schreibt, offenbart der Ausnahmezustand die Identität des Souveränen: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Nun aber ist der Dezisionismus der natürliche Feind eines Liberalismus, dem zufolge allein die verfassungsrechtlichen Bestimmungen ausreichen würden, um die Befugnisse festzulegen und auszuüben. Es ist gewiss kein Zufall, wenn die illiberalen Demokratien sich nun zu einem Zeitpunkt vermehren, da die Europäische Union an der Migrationskrise zusammenzubrechen droht. Im Zeitalter der Massenmigration entdeckt man neu, dass jede menschliche Gemeinschaft „unvermeidlich mit dem Problem ihres täglichen anthropologischen Zusammenhalts konfrontiert wird“ (Jean-Claude Michéa), das heißt mit der Kontrolle der Bedingungen für ihre eigene soziale Reproduktion. Die Wirtschafts- und Finanz-

krise, die wirtschaftliche Globalisierung, gefolgt von der Mi-grationskrise, haben ein Gefühl der Dringlichkeit aufkommen lassen, vornehmlich in den Ländern, deren historische Vorstellungswelt weiterhin von der Erinnerung an die osmanischen Invasionen geplagt wird, und die sich heute dagegen sträuben, dass ihnen ein „multikulturelles“ Modell auferlegt wird, das ihrer Auffassung nach ein totaler Misserfolg ist. Der Aufstieg der illiberalen Gesellschaften zeugt von einer allgemeinen Ausbreitung dieses Gefühls, das mit einer zunehmenden Bedrohung der Freiheit, der Identität oder der Lebensweise der Bürger verbunden ist – zumal aus einer illiberalen Perspektive die Demokratie ausschließlich in einem nationalen Rahmen aufgefasst werden kann. Carl Schmitt hatte Recht mit seiner Bemerkung, dass eine Demokratie umso demokratischer ist, je weniger liberal sie sich gibt. Die liberale Theorie will, dass eine gute Verfassungsordnung ausreicht, damit die Gesellschaftsmitglieder ihr Leben auf die von ihnen bevorzugte Art und Weise leben, ohne dabei von den Behörden gestört zu werden. Damit könnte die Dialektik Freunde/Feinde überwunden werden. Doch diese Theorie zerfällt, sobald ein Feind auftaucht, der eine existenzielle Bedrohung für uns darstellt. Die Politik ergreift wieder ihre Rechte. Eine politische Gesellschaft, die der Macht und der Souveränität entsagt, hat bereits nichts Politisches mehr an sich. Sie kann nur ihrer primären Aufgabe entsagen, nämlich die Bedingungen für ihre Selbsterhaltung zu gewährleisten. Die liberalen Gesellschaften sind einfach nicht in der Lage, weder der Dringlichkeit der Herausforderungen noch dem Ausmaß der Bedrohungen entgegenzuwirken. Dann schlägt die Stunde der illiberalen Gesellschaften.

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PORTRAIT Foto: Archiv

Alain de Benoist ist der „neurechte“ Meisterdenker Frankreichs. Er setzt sich nachhaltig mit der modernen Gesellschaft auseinander und stellt Alternativen vor.

Den Menschen die Freiheit Wie denken wir, was wir sind? Was ist die Freiheit, die wir leben können? Wie bringen wir Leben und Verantwortung zusammen? Frei zu sein ist ein reales Ziel für rechte Denker.

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ie Auseinandersetzung der „Neuen Rechten“ mit den Ideen des Liberalismus, mit der Lehre, die die menschliche Freiheit für den dominanten Wert im sozialen Wertekodex hält, ist nicht neu. Der zeitweise zur reinen Wirtschaftsideologie entartete „Liberalismus“ bescherte aller Welt unter anderem den sogenannten Manchesterkapitalismus mit seinen fatalen asozialen Auswirkungen, aber auch zu einem großen Teil die vielfältigen wirtschaftlichen Entwicklungen heute. Denn die politische Liberalismustheorie öffnete über die sich aus ihr entwickelnden ökonomischen Verhältnisse und die so motivierte Gier der Profiteure gesellschaftlichen Verwerfungen und Spaltungen Tür und Tor.

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So hat seit einigen Jahren die Auseinandersetzung der Rechten mit dem liberalen Ideensystem Fahrt aufgenommen. Armin Mohlers „Liberalenbeschimpfung“ war vernichtende Philippika, Thor v. Waldstein setzte in „Der Zauber des Eigenen“ jüngst weitere antiliberale Wegmarken: „In einer Welt, die unverändert von der Formulierung und Durchsetzung des national interest anderer Staaten und Völker gekennzeichnet ist, begreifen auch in Deutschland immer mehr und mehr Bürger, daß die schrankenlose Orgie des weltlosen Ich kaum das letzte Wort der Geschichte sein dürfte. Manches spricht dafür, daß in den zu erwartenden Umbrüchen des 21. Jahrhunderts der individualistische Lack womöglich schneller abblättern könnte, als es den Ver-

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PORTRAIT

waltern unseres nationalen Elends lieb wäre.“ Benedikt Kaiser, der sich seit geraumer Zeit mit der sozialen Frage von rechts beschäftigt, bringt die Auswüchse des ökonomischen (Neo-)Liberalismus auf den Punkt: „Der neoliberale Kapitalismus dient der Kapitalvermehrung einer neu-alten Geldaristokratie – nach Schmitt ‚die dümmste und ordinärste Form einer Aristokratie‘ –, der Verwertung des Werts, dem Wachstum um jeden Preis.“ Manfred Kleine-Hartlages Buch „Die liberale Gesellschaft und ihr Ende“ nicht zu vergessen, in dem „er die Selbstzerstörung des liberalen Systems, seine Verteidigungsschwäche und kulturelle Infragestellung [analysiert]. […] Kleine-Hartlage gibt eine skeptische Prognose: Ein System, das nur noch innerhalb seiner wirklichkeitsfernen Denkmuster argumentiert, kann keine Lösungen formulieren. Es lebt von Voraussetzungen, die es selbst nicht schaffen kann. So wird es zur Beute für nicht-liberale, aggressive Gegenentwürfe“, wie der Verlag Antaios annoncierte. Aber auch Patrick J. Deneens „Warum der Liberalismus gescheitert ist“ muss Erwähnung finden, denn der konservative, katholische Professor für Politikwissenschaft an der University of Notre Dame (Indiana) und Mitherausgeber der Zeitschrift „The American Conservative“ wagt sich für einen Angehörigen des intelligenten Establishments auf morastiges Terrain, wenn er im ORF-Gespräch meint: „[W]ir wissen Dank der vergangenen 30, 40 Jahre, dass der ungezügelte Kapitalismus bzw. der Neoliberalismus auch nicht der menschlichen Natur entspricht. Er führt zu Katastrophen, die vielleicht nicht so schrecklich sind wie der Kommunismus, aber dennoch der Menschheit schaden.“ Und: „Ich glaube eigentlich, dass die in Gemeinschaft gelebte Freiheit, historisch gesehen, besser war als die amerikanische Philosophie des individuellen Liberalismus.“ Nun hat Alain de Benoist im Jungeuropa Verlag der ganzen Auseinandersetzung das notwendige Fundament begrifflicher Präzision verliehen. Die hochwertige Ausgabe des Buches „Gegen den Liberalismus“, dessen Einband vom „Kalligraffiti“-Künstler WolfPMS gestaltet wurde, fasst in mehreren Einzelstücken die sezierten Grundlagen des Liberalismus zusammen. Der Verlag schreibt, das Buch „dringt zu seinem Kern vor, zu einer auf Individualismus und Ökonomismus basierenden Anthropologie, zum Menschenbild des Homo oeconomicus. Mit diesem ist

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kein Staat zu machen, keine Gemeinschaft, keine Zukunft. […] Alain de Benoist zeigt auf: Eine liberale Gesellschaft wird dominiert vom Kult des ‚freien Individuums‘, der Fortschritts- und Menschenrechtsideologie, der Wachstumsbesessenheit und der Vergötzung des Marktes. Der Liberalismus hat dabei eine weltweite Tragweite erlangt, seit die Globalisierung das Kapital als Motor der Weltgeschichte etablierte. Er ist der Ursprung dieser Globalisierung – und sie ist die Verwandlung des Planeten in einen einzigen großen Markt.“ Schon Ende 2014 bekannte Benoist im Gespräch mit Benedikt Kaiser: „Es besteht kein Zweifel für mich, dass der Liberalismus der Hauptfeind ist. Ich dachte so bereits zur Zeit des sowjetischen Kommunismus (der letztlich nur ein Staatskapitalismus war), und ich denke es noch heute, zu einem Zeitpunkt, an dem die liberale Ideologie in einem globalen Maßstab gewissermaßen die Hauptideologie geworden ist, deren drei Pfeiler Kapitalismus, Religion der Menschenrechte und Marktgesellschaft sind.“ Liberalismus sei die Ideologie, die trotz weiter zurückreichender Wurzeln aus den Ansichten der Aufklärung entsprang, „die das Individuum und seine ‚natürlichen‘ Rechte als die einzigen normativen Instanzen des Lebens in der Gesellschaft ansehen, was darauf hinausläuft, das Individuum zur alleinigen Quelle der Werte und der Lebenszwecke zu erheben, die es auswählt. Dieses Individuum wird für sich betrachtet, jenseits jeden sozialen oder kulturellen Kontexts. Deshalb erkennt der Liberalismus keine eigenständige Stellung von Gemeinschaften, Völker, Kulturen oder Nationen an.“ Alain de Benoist, der sich immer wieder als Beobachter und nicht als Akteur des politischen Lebens bezeichnet, zitiert denn auch in der Einleitung des Buches den französischen Schriftsteller Charles Péguy. Dieser stellte fest, dass die „ganze Erniedrigung der modernen Welt, das heißt die ganze Verbilligung der modernen Welt […] davon her[rührt], dass die moderne Welt Werte für marktfähig hielt, die die antike und die christliche Welt als nicht handelsmäßig betrachteten“. Diese Erniedrigung ist – so Benoist – Ergebnis einer allgemein rezipierten liberalen Ideologie, die sich auf eine „unrealistische Anthropologie stützt, aus der sie eine Reihe von falschen Schlüssen zieht“.

„Es besteht kein Zweifel für mich, dass der Liberalismus der Hauptfeind ist. Ich dachte so bereits zur Zeit des sowjetischen Kommunismus – der letztlich nur ein Staatskapitalismus war.“

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Foto: wikimedia / CC BY-SA 4.0 / Touton Spahi

BÜCHER

Algerien, immer eine Reise wert. In unserem Fall ist eine Handgranate unterwegs.

Details vom Ende eines Reiches Vor 60 Jahren ging der Algerienkrieg zu Ende, und Frankreichs Gloire war perdu. Wie war das im Kleinen?

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ladimir Volkoff (1932–2005) ist hierzulande fast nur den Liebhabern „reaktionärer“ Literatur ein Begriff, die seine wenigen ins Deutsche übersetzten Bücher kennen oder des Französischen mächtig sind. Der 1932 in Paris geborene und 2005 verstorbene Sohn russischer Emigranten war eine schillernde Figur: tiefgläubiger orthodoxer Christ, militanter Antikommunist, Aristokrat, Monarchist und Demokratieverächter, promovierter Philosoph, Geheimdienstmann und Offizier im Guerillakrieg in Algerien. Er hinterließ ein thematisch und stilistisch vielfältiges Werk, dessen zahlreiche Schätze ihrer Ausgrabung für deutsche Leser harren. Einen davon hob nun Konrad Markward Weiß, Herausgeber der neuen Belletristikreihe „Kontergarde“ des legendären Karolinger Verlages und Übersetzer der vorliegenden Erzählung „Die Handgranate“ aus dem Jahr 2002. Sie beginnt mitten im algerisch-französischen Krieg im Fort Neuf de Vincennes in Paris, wo eine Klasse junger Soldaten von einem trockenen

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Instrukteur über die Funktionsweise einer „französischen Defensivgranate Modell 1937“ belehrt wird. Als einer von ihnen die zur Anschauung präsentierte „DF“ stiehlt, setzt sich die Handlung der Erzählung unerbittlich in Gang, wie eine abbrennende Zündschnur. Geködert durch erotische Hierarchien, die das Buch wie ein Leitmotiv durchziehen, wandert die Waffe nun durch etliche französische wie algerische Hände, um in der Kasbah von Algier zu landen, wo sie Mitgliedern der „Nationalen Befreiungsarmee“ (ALN) übermittelt werden soll. Ihre Bestimmung ist klar: ein terroristischer Akt, mitten in der Stadt, am besten in einem von Franzosen überfüllten Café – eine Szene, wie man sie etwa aus dem Film „Die Schlacht von Algier“ (1964) von Pontecorvo kennt. Während die „DF“ weiterwandert, lässt Volkoff einen Reigen an lebendig gezeichneten Gestalten auftreten, die der Autor offenbar aus eigener Anschauung kannte. So gelingt es ihm auf geniale Weise, die ganze Komplexität des Krieges und der Motive seiner Akteure skizzenhaft anzudeuten.

Dabei verschweigt er nicht die Grausamkeiten auf französischer Seite, die jedoch ihr Ebenbild in den Untaten der algerischen „Männer des Waldes“ fanden. Subtile Emphase legt Volkoff auf die kulturellen Reibungen und Missverständnisse, die die angespannte Atmosphäre stetig aufheizen; besondere Verachtung lässt er französischen linken Vaterlandsverrätern zukommen, ein Sentiment, das er mit den algerischen Befreiungskämpfern, die gleichwohl deren ehrlose Dienste in Anspruch nehmen, teilt. „Die Handgranate“ ist ein fesselndes Stück Literatur, das man bis zum erschütternden Finale nicht aus der Hand legen wird.

Vladimir Volkoff: Die Handgranate. Eine Erzählung Karolinger Verlag, Wien 2021, 128 Seiten ISBN 978-3-85418-208-5 A € 19,00 / D € 19,00

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DE R B U C HT I PP

BÜCHER

Heißt die Krise „Kapitalismus“?!

Nicht zuletzt die „Reaganomics“ der oft verklärten 1980er sorgten für den Eindruck, rechte Weltanschauung und Marktliberalismus gehörten zusammen. Ein folgenschwerer Irrtum, der grundsätzliche Rechte bis heute lähmt. Den Grundstein für ein Umdenken legt ein junger Ökonom aus der französischen „Nouvelle Droite“. Guillaume Travers: Moderner Kapitalismus und Marktgesellschaft Jungeuropa Verlag, Dresden, 2022, 84 Seiten, € 12,95

Ein altes „Losungswort der Zukunft“

Soziologiepionier Hans Freyer begriff sein Fach vor allem als Realitätswissenschaft, doch blieb stets den Träumen seiner Wandervogelzeit treu und wagte die Vision. Das am schmissigsten betitelte seiner Werke (von 1931) liegt nun endlich wieder auf – über die „Einswerdung von Volk und Staat“. Klingt doch idealdemokratisch. Hans Freyer: Revolution von rechts Uwe Berg Verlag, Toppenstedt, 2021, 88 Seiten, € 15,00

Der Gang an die deutschen Quellen

1958 gegründet, erschien die politisch-kulturelle Quartalszeitschrift „Neue Ordnung“ ab 2000 im Ares Verlag zu Graz, ehe sie im vorvergangenen Jahr in „Abendland“ umbenannt wurde. Zielsetzung bleibt der Verbund katholischer und nationaler Rechter – eine erste Blütenlese widmet sich den Facetten deutschen Wesens. Wolfgang Dvorak-Stocker (Hg.):Was ist deutsch? Elemente unserer Identität Ares Verlag, Graz, 2021, 288 Seiten, € 24,90

Neue Dynamik für neue Zeiten

Wer sich nicht spalten lässt, wird tatsächlich „#wirsindmehr“ und erkennt die eigene Kraft. Der Altmeister der dem Jetzt zugewandten „Neuen“ Rechten bleibt präsent: Nachdem erst vor wenigen Monaten der Bestseller „Gegen den Liberalismus“ erschien, folgt nun die Strömungsanalyse „Der populistische Moment“. Die Zeit könnte nicht besser dafür sein: Im Jahre 3 nach COVID erscheint die etablierte Politik bürgerferner und abgehobener denn je, und die Not der behördlichen Gängelung lässt die scharfen Lagergrenzen zwischen links und rechts überall in der westlichen Welt verschwimmen. Wer das als neuen Extremismus verteufelt, der hat offenbar seine ganz eigenen Interessen. Benoist hingegen hält den Altparteien den Spiegel vor: In Denken und Strukturen von Mitte des 20. Jahrhunderts befangen, sind sie aus sich heraus nicht in der Lage, die durch ihre eigene Politik zermahlenen Gesellschaften zu repräsentieren. Ein grandioser Denker für den Aufbruch – dem tun auch eigenwillige Aufmachung und überhastetes Lektorat des Buches keinen Abbruch. N °16 / A PR I L 2022

Alain de Benoist: Der populistische Moment. Die Links-RechtsSpaltung ist überholt Junge Freiheit Verlag, Berlin 2021, 407 Seiten, A € 25,60 / D € 24,90

Rechts sells! Theodor Wiesengrund formulierte 1966 in einem Rundfunkvortrag den sehr bekannten Satz: „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“ Dass sich eine darauf beziehende Reihe ausgerechnet „Bildung nach Auschwitz“ nennt, hat angesichts der Ausführungen des Erstgenannten über Bildung vs. Halbbildung ein Geschmäckle. Dass diese Reihe beim Imprint eines vor allem für die Bücher von Janosch (ja, der mit der Tigerente) bekannten Verlages erscheint, ebenfalls. Und dass als Eröffnungspublikation einer nach eigener Darstellung „peer-reviewed“ Reihe ein Buch wie das hier angezeigte erscheint, umso mehr – bis man dann erfährt, dass der Autor selbst dem „Herausgeberkollegium“ angehört. Besagter Autor ist der ehemalige Dresdener Sozialpädagoge Christian Niemeyer. Ein Blick auf sein Werk zeigt zwei Hauptthemen, nämlich Nietzsche und die deutsche Jugendbewegung. Seine Spezialität ist die Berufung auf die „fröhliche Wissenschaft“, wobei diese bei Niemeyer wohl aphoristisch ausfallen soll, aber tatsächlich nur das für zeitgenössische Altakademiker leider typische wirre Knäuel aus entlegenen Anspielungen, zerfaserten Schachtelsätzen und zwanghaften Provokationsversuchen darstellt. Hier beansprucht er nicht weniger, als ungefähr alles und jeden zu „erledigen“, das/der jemals (!) rechts war, ist und sein wird – bis ins Jahr 2029 hinaus. Kein Scherz. Knapp 800 Seiten, 1,2 Kilo schwer, praktisch unlesbar und, wie in den einleitenden „Hinweisen zum Gebrauch“ als Vorteil herausgestellt, bedeutungslos genug, um fragmentarisch und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden zu können. Kann man in einer öffentlichen Bibliothek ruhig mal anlesen, um zu wissen, dass von den „bemoosten Häuptern“ des alten universitären Nachkriegsschlages wirklich gar nichts mehr zu erwarten bzw. zu befürchten ist. Adieu! Chr. Niemeyer: Schwarzbuch Neue/Alte Rechte Juventa, Weinheim 2021. 796 Seiten, A € 41,10 / D € 39,95

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KOLUMNE

Das Letzte (16):

Alle Gassen und Straßen sind voll Narren, Die treiben Torheit an jedem Ort Und wollen es doch nicht haben Wort. Drum hab ich gedacht zu dieser Frist, Wie ich der Narren Schiff' ausrüst …

Seit Omikron durch Putin ersetzt wurde, ist die Erregung fast in Vergessenheit geraten. Doch noch immer residiert Corona in unseren Landen.

Mitte Januar schien in Österreich kein Mensch mehr Lust auf die sogenannte Impfpflicht zu haben. Allmählich hatte sich herumgesprochen, dass sich die Regierung auf eine medizinisch sinnlose, organisatorisch schwer durchführbare und ethisch fragwürdige Schnapsidee eingeschossen hatte. Hierzu bot sich die „Omikron-Dynamik“ als goldene „Brücke zur politischen Gesichtswahrung“ an. Die Omikron-Variante breitet sich rasch aus, „durchbricht“ den bisherigen, ohnehin ziemlich fragwürdigen „Impfschutz“ und richtet in den allermeisten Fällen kaum mehr Schaden an als ein Schnupfen. Anfang Februar war es dann auch in Österreich so weit, dass Omikron „Delta“ praktisch komplett ersetzt hatte. Entsprechend häuften sich die „positiven“ Tests, auch bei vorbildlich dreifach Gestochenen (unter ihnen Herr Nehammer und Frau Edtstadler), allerdings meist ohne besondere gesundheitliche Konsequenzen. Trotz aller Einwände trottelte die Regierung wie ein Schlafwandler in den Impfpflicht-Beschluss. Nun hat sie uns diesen Mühlstein ohne irgendeine Not allen Ernstes umgehängt. Die einzige Partei, die geschlossen dagegen stimmte, war die FPÖ, der Rest war mit Ausnahme von vier NEOS und einem Sozialdemokraten geschlossen dafür. Ein verwirrter alter Mann in der Hofburg („Es darf uns nicht alles wurscht sein“, „Wir alle sind doch Österreich“) unterschrieb das Gesetz nicht minder schlafwandlerisch. Zu diesem Zeitpunkt war auch die Boulevardpresse reichlich verspätet umgeschwenkt. „Heute“-Chefredakteur Oistric schimpfte über die „Sinnlos-Impfpflicht“, „Österreich“-Herausgeber Fellner prangerte das Gesetz als „falsch und in wenigen Wochen nicht mehr haltbar“ an. Schließlich ritt die Kavallerie in Gestalt des Verfassungsgerichtshofes herbei und knallte Mückstein ein Konvolut an Fragen vor den frechen Latz, die schon längst hätten beantwortet werden müssen, etwa, wie viele Menschen in Österreich nun tatsächlich „an“ oder „mit“ Corona gestorben sind. War ihm das wurscht, wie ihm auch die zahlreichen Gesundheitsschäden und Todesfälle durch die sogenannten Impfstoffe wurscht sind? Es ist von höchster Wichtigkeit, dass es restlos kassiert und nicht bloß „ausgesetzt“ wird, um es in der nächsten Grippesaison wie eine Falle zu reaktivieren.

Martin Lichtmesz wurde 1976 in Wien geboren. Nach Jahren in Berlin lebt er inzwischen wieder in seiner Heimat und arbeitet als freier Publizist.

Angesichts des bisherigen Ablaufes der makabren Farce gibt es leider Grund zum Pessimismus. Die Regierung hat ihren Kurs unter Abwesenheit jeglicher Rationalität oder Verhältnismäßigkeit blindlings durchgezogen. Dabei besaß sie noch die Unverschämtheit, sich auf „die Wissenschaft“ und auf ominöse „Expertinnen und Experten“ zu berufen, die ein stammelnder Mückstein auf einer Pressekonferenz nicht einmal beim Namen nennen konnte. Die „Corona“-Agonie wird aus dem einzigen Grund künstlich in die Länge gezogen, damit die Nehammers und Mücksteins ihre hässlichen Gesichter wahren können, die sie ansonsten hinter wichtigtuerischen FFP2Kübeln verstecken. Nichts anderem dient ihr „Maßnahmen“-Aktionismus mit seinem vollmundigen Vokabular, das suggieren soll, sie hätten irgendeinen Plan oder irgendeine Ahnung, was sie da eigentlich tun. Wer ist imstande, Kasperln wie Herrn Major Striedinger ernst zu nehmen, der mit seinem Tarnuniform-Theater wirkt, wie aus einem „Monty-Python“-Sketch entsprungen? Wen interessiert die x-te neue heiße „Kommission“ mit vielen tollen Universitätsprofessor*_Innen, die keine andere Aufgabe haben, als das Gewurschtel der Regierung mit bestelltem Geschwätz zu vergolden? Ende Februar kam Nehammer mit Versprechen von grandiosen „Lockerungen“ im März angedackelt, die er uns verkaufte wie eine generös gewährte Gnade. Damit die Maskerade (im buchstäblichen Sinne) auf niederschwelliger Stufe weiterläuft, sollen jedoch die völlig nutzlosen Maulkörbe, eines der Hauptinstrumente der psychologischen Konditionierung und Kriseninszenierung, größtenteils beibehalten werden. Es ist von A bis Z ein reines, durchsichtiges, dilettantisches Schmierentheater, aufgeführt von der wohl übelsten Hefe, die Österreich seit Gründung der Zweiten Republik je regiert hat. Falls das ganze kabarettartige Gestolper und Geholper eine verborgene Methode hat, dann hat die Regierung keine besonders effektive Wahl getroffen, zu unserem Glück. Und doch: Sie sind zwar Clowns, aber Clowns mit Messern. Wir können nur hoffen, dass wir es hier mit einem Führerbunkerkoller kurz vor dem Untergang zu tun haben. Man sollte aber jetzt schon den Vorsatz fassen: kein Vergessen, kein Vergeben.


ENTLASTUNG FÜR ÖSTERREICH – JETZT!

Kostenlawine stoppen

Die Kostenlawine ist die direkte Folge der völlig untauglichen CoronaPolitik der Bundesregierung und eine konkrete Auswirkung des Klimawahns, dem sich ÖVP und Grüne verschrieben haben.

Denn dadurch wurde im Rahmen der öko-ASOZIALEN Steuerreform eine massive Erhöhung der Preise für Benzin und Diesel ermöglicht. Was wir hier aktuell brauchen, sind Steuersenkungen und Preisobergrenzen – ebenso bei den Energiekosten für Strom und Gas, die schon zuletzt viel teurer geworden sind und demnächst wegen der Entwicklungen in der Ukraine völlig durch die Decke gehen könnten. All das macht sich in einer Inflationsrate von fast 6 Prozent im Februar 2022 bemerkbar. Eine Geldentwertung in diesem Ausmaß haben wir in Österreich seit fast 40 Jahren nicht mehr gesehen. Wir fordern daher ein sofortiges und umfassendes Entlastungspaket für die Österreicher und werden den Protest gegen diese schwarz-grüne Politik der Belastung solange fortsetzen, bis diese Regierung Geschichte ist!

So stoppen wir die Kostenlawine! Halbierung der Mehrwertsteuer und der Mineralölsteuer auf Benzin und Diesel Streichung der CO2-Abgabe Erhöhung von Kilometergeld und Pendlerpauschale Halbierung der Mehrwertsteuer auf Gas und Strom Heizkostenzuschuss von 300 Euro pro Haushalt und Jahr Halbierung der Mehrwertsteuer für Grundnahrungsmittel Signifikante Lohnerhöhungen für Arbeitnehmer Deutliche Senkung der Lohnnebenkosten Inflationsanpassung von Pensionen und Arbeitslosengeld Ende der extrem teuren Corona-Politik Evaluierung der Russland-Sanktionen Widerstand gegen die EU-Schuldenunion Wenn Sie sich unseren Forderungen anschließen, ersuche ich Sie, die Petition auf unserer Webseite zu unterstützen.

Herbert Kickl | FPÖ-Klubobmann

JETZT DIE PETITION UNTERZEICHNEN:

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