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Bei mir schrillen die Alarmglocken …“

Ein großer Intellektueller und ein kritischer Geist: Frank Böckelmann dirigiert „TUMULT“.

Denken im Unruhestand: FREILICH spricht mit „TUMULT“-Herausgeber Frank Böckelmann über kritisches Denken, ’68er und darüber, warum es Unruhe braucht.

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INTERVIEW: ULRICH NOVAK

FREILICH: Herr Böckelmann, vor allem die deutsche Medienlandschaft wirkt zurzeit seltsam überdreht. Erleben wir die Hysterie einer überinformierten, im Kommunikationswahnsinn orientierungslos taumelnden Gesellschaft, die sich um sich selbst dreht, oder sehen wir Frontlinien ideologischer Kämpfe zwischen links und rechts?

Frank Böckelmann: Bekanntlich sympathisieren mehr als 90 % der deutschen Journalisten mit Grünen, SPD, Linker oder FDP – und aus ebendiesem Grund lieben sie Merkel. Seitdem eine Bundesregierung unter Ausschluss von CDU/ CSU zu erwarten ist, gebärden sich die Moderatoren und Kommentatoren des Fernsehens und der großen Tages- und Wochenblätter, als stünden sie unter Strom – nur die „FAZ“ schmollt. Der Zeitgeistjournalismus lebt davon, Orientierungslosigkeit in Euphorie zu übersetzen. Von allen Bindungen an die eigenen Leute befreit, wähnt er sich in einer Art von Lehramt für die Verbreitung von Wahrheit und Menschlichkeit. Das hat die Wirkung eines täglichen Dopings. Die Schwärmerei für Toleranz und Vielfalt, Entgrenzung und Welto enheit macht fortschrittstrunken, aber auch schwindlig. Es gilt ja nun als schäbig, noch irgendwie zu unterscheiden zwischen verschiedenen Gesichtern und Herkün en und Verhaltensweisen und sexuellen Vorlieben. „Vielfalt“ ist politischer Kitsch und ein Werbeslogan für Einkaufszentren. Alles wird austauschbar. Man gerät in eine Art von Schleudertrauma – woran kann man sich noch halten? Orientierung bringt allein der Kampf gegen das Böse, gegen rechtsextreme, völkische, nationalistische Brut, das Gesindel, das noch Unterschiede macht. Kommunikationshysterie und Wiederbelebung der alten ideologischen Kämpfe zwischen links und rechts schließen sich also nicht aus. Sie schüren sich gegenseitig.

Vielleicht sollten wir im Sinne der Konsensstörung auch mal die Grundsatzfrage stellen: Taugt Links-rechts noch was? Und was ist vorn und hinten?

Aus den alten weltanschaulichen Gegensätzen ist in Deutschland und Österreich ein Spektakel der Anzüglichkeiten und Ressentiments geworden. Ein Wolkenkuckucksheim steht gegen das andere. Die sogenannte Linke ist nicht mehr gesellscha lich geerdet, und ebenso wenig sind es die Haltungen der sogenannten Konservativen. „Rechts“ nennt sich sowieso fast niemand mehr, und auch das Attribut „neurechts“ wird meist als Schimpfwort gebraucht, als Selbstkennzeichnung meines Wissens nur beim Antaios-Verlag und in der „Sezession“.

Meiner Au assung nach ist die Linke als eigenständige politische Kra verschwunden. Was soll das für eine Linke sein, die kein sozialrevolutionäres Programm hat, nicht mehr die Umwälzung der Produktionsverhältnisse anstrebt und sie Vermögensverwaltern und Indexfonds wie BlackRock überlässt, deren Geschä smodell es ist, alle Menschen zu Aktionären zu machen? Das Etikett „links“ war spätestens 1968 verschlissen, als klein- und großbürgerliche Radikalinskis sich per Sprechakt zu Feinden des „Systems“ ernannten, klassenkämpferisch kostümierten, auf der Woge des Zeitgeistes schwammen und Individualisierung predigten. Versteht man „links“ als egalitär, verliert sich das Prädikat in der Forderung nach Chancengleichheit, einem Stereotyp aller sozialen Bewegungen und Milieus und Medien und aller auf ihre „Identität“ bedachten Gruppen. „Links“ zu sein ist nur noch ein abgegriffenes humanitäres Gütesiegel. Diejenigen, die im Weltnetz zappeln, legen mehr Wert auf Dabeisein und Beachtung und Subventionen als auf eine andere Verteilung des Mehrwertes.

Auch die als „rechts“ di amierten, verlegenheitshalber „konservativ“ ge-

INTERVIEW „Der in Deutschland herrschende Konsens sagt den Deutschen nicht, dass und auf welche Weise sie zusammengehören.“

nannten Personen sind, bei Lichte besehen, Herren und Damen ohne Unterleib. Früher saßen in den Parlamenten Würdenträger, die auf einer ständischen Gesellscha sordnung und auf Elitenherrscha beharrten. Beides beruhte auf Traditionen, auf solchen wohlgemerkt, die sich aus eigener Kra fortp anzten. Heute sind hierzulande sämtliche kulturellen Überlieferungen, auch die christlichen und raumgebundenen, ausgehöhlt und ausgelaugt. Manche werden noch künstlich beatmet. Streng genommen entfällt damit die Bedingung der Möglichkeit einer politischen Rechten. Aber damit kein Missverständnis entsteht: Anders als die Überlieferungen, die Rituale, Sitten und Gebräuche, wären die europäischen Errungenscha en durchaus noch lebenskrä ig und widerstandsfähig, wenn sie von den Europäern nicht preisgegeben würden: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Sinn für Fair Play, Meinungsfreiheit, Arbeitsethos und Gemeinwohlorientierung, Streben nach Erkenntnis, Fähigkeit zur Selbstkritik, Nationalstaat, Ausdi erenzierung des Politischen, ja selbst Institutionen wie Stadt, Staat, Heer und Universität, kurzum all das, was Rolf Peter Sieferle das „soziale“ und „kulturelle Kapital“ genannt hat. Dieses Kapital wiederum ist abhängig von „der Eindeutigkeit der Gruppenzugehörigkeit“. runtergekommen. Trotzdem werden sie aufgerufen, als seien sie Konzentrate unanfechtbarer Programme. Ich zitiere aus dem Editorial der „TUMULT“-Ausgabe vom Herbst 2014: „Man schwärmt von Vielfalt und O enheit; doch hat man dabei wohl ein Stelldichein verträglicher Passagiere im Sinn – eine Art universale Autobahnraststätte.“ In Wirklichkeit sind diese „europäischen Werte“ unverträglich, denn sie dulden keinen Eigensinn. Aber jede Lebensart, jede Gesinnung und jede Daseinsordnung grenzt sich gegen andere ab – und ist daher von einer gewissen Unduldsamkeit geprägt.

Ganz persönlich gefragt: Wie geht es dem Projekt „TUMULT“? Erzeugt es den Aufruhr, den es produzieren soll?

Halten zu Gnaden, Herr Novak, unter „Tumult“ verstehen wir keinen Aufruhr, sondern einen unbeabsichtigten Au auf oder, sagen wir, ein unwillkürlich entstandenes Durcheinander. Tumulte kann man nicht anzetteln.

Die Vierteljahresschri „TUMULT“ war nicht meine Idee. Der Wiener Lektor Horst Ebner und ich haben im Jahr 2012 den Vorschlag eines Verlegers aufgegri en, der, kurz nachdem er ihn gemacht hatte, nichts mehr von ihm wissen wollte. Alles am „TUMULT“Magazin ist unwillkürlich entstanden.

Mit Ihrer Zeitschrift „TUMULT“ betrieben Sie lauter Konsensstörungen. Sie halten, wenn man Ihnen lautere Motive unterstellt, Konsens offenbar für einen zu störenden faulen Kompromiss. Aber ist Konsens nicht eine demokratisch zustande gekommene Form der volonté générale, des allgemeinen Willens?

Der heute in Deutschland herrschende Konsens, die Berufung auf die sogenannten europäischen Werte, sagt den Deutschen nicht, dass und auf welche Weise sie zusammengehören. Er ist weder sinngebend noch handlungsleitend. Man behauptet, er sei eine globale volonté générale, aber auch das ist er nicht, und träfe es zu, wäre er ein Allerweltsmerkmal und nichts Besonderes. Dieser Konsens gilt in Deutschland als höchste Staatsräson und darf nicht angefochten werden. Er postuliert Entgrenzung um der Entgrenzung willen. Damit entspricht er dem Tauschprinzip: Alles ist konvertierbar. Und er entspricht dem technokratischen Machbarkeitswahn, der alle Gegenstände und die Beziehung zwischen ihnen gleichgültig werden lässt. Das wachsende Interesse an Verfügbarkeit macht uns blind für die Außenwelt. Die sogenannten westlichen Werte – Chancengleichheit, Selbstbestimmung, Toleranz, Vielfalt und Welto enheit – sind längst zu bloßen Teilnahme- und Verkehrsregeln he-

Foto: IMAGO / Michael Schick

Konsensstörung, Buchmesse 2018: Manchmal reicht ein Verlag wie Antaios, um die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.

Foto: IMAGO / IPON

Menschlichkeit über alles – aber wenig Toleranz für Andersdenkende.

Ich habe nie Stellenanzeigen aufgegeben oder nach Mitarbeitern herumtelefoniert. Redakteure, Helfer, Rat- und Stichwortgeber, Unterstützer und die meisten Autoren haben sich von selbst eingefunden. Und „TUMULT“ ist kein Lagerorgan und hat kein politisches Programm. Wir erkunden die toten Winkel der ö entlichen Wahrnehmung – das Ausgesonderte, Übersehene, zur Seite Geschobene, Missachtete, Vergessene. Weil die historische und kulturelle Dimension der Massenzuwanderung seit 2015 beschwiegen wird und wir sie ausleuchten, wird uns nachgesagt, wir produzierten ein „neurechtes“ Organ.

Aber zweifellos haben wir seit dem Herbst 2015 vom Kulturkampf pro tiert. Er hat „TUMULT“ gleichsam zum zweiten Mal gegründet. Die Zeitschri hatte im Frühjahr 2014 eine Auflage von 1400 Exemplaren, heute werden 4000 gedruckt. Außerdem bieten wir PDFs der einzelnen Ausgaben an und präsentieren aktuelle Stellungnahmen im „TUMULT“-Blog. Aber Ihre Frage zielt auf das Ausmaß der von „TUMULT“ ausgelösten Unruhe. Die Grenzen eines eorie- und Kunstmagazins sind uns bewusst. Wir haben nicht die Breitenwirkung der großen Blogs und kommen an die Au age von „Tichys Einblick“ bei Weitem nicht heran. Aber „TUMULT“ ist in Deutschland ein fester Begri für Konsensstörung geworden, und ein Magnet für Autoren, die sich an der großen Vergleichgültigung nicht beteiligen wollen. Die Organe der konzertierten ö entlichen Meinung tun einiges, um uns schlechtzumachen, doch „TUMULT“ hat sich stets einen Nimbus von Uneindeutigkeit bewahrt und ist immer gut für Überraschungen. Und immer wieder melden sich bei mir Autoren, von denen ich das niemals erwartet hätte.

In den letzten vier Jahren haben sich Anpassungsdruck und Unterwür gkeit im Kulturbetrieb enorm verstärkt. Man denke nur an die Groteske, die sich jüngst auf der Frankfurter Buchmesse ereignet hat, als der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. Die Fronten haben sich verhärtet, und gleichzeitig hat sich der Wettbewerb verschär . Die Zahl der gedruckten und digitalen Angebote im Marktsegment der alternativen Medien hat deutlich zugenommen. Die publizistische Reichweite von „TUMULT“

„Der Anspruch grüner Parteien auf überparteiliche Weltfürsorge macht misstrauisch.“

wächst heute langsamer als 2016, aber sie wächst immer noch. Und vergessen wir nicht, dass die Faktoren, die über Zuspruch und Resonanz auf dem Medienmarkt entscheiden, von uns selbst nur in geringem Ausmaß zu beein ussen sind. Den Ausschlag geben die plötzlichen Wendungen in der politischen und kulturellen Großwetterlage.

Klimareligion, Energiewende, „Green Deal“ der EU-Kommission – Erscheinungen, die Sie einem globalmoralischen Kurzschluss zuordnen. Wer die Welt retten will, will auch die Deutschen retten. Was haben Sie gegen diese Art der Weltfürsorge? Wenn politische Frömmelei mit Utopie und Hypermoral verschweißt wird, schrillen bei mir die Alarmglocken. Der Anspruch grüner Parteien auf überparteiliche Weltfürsorge macht misstrauisch, weil er mit hartnäckiger Realitätsblindheit einhergeht. Fast völlig ausgeblendet werden die wachsende Uneinigkeit zwischen den großen Welthandelspartnern, auch was gemeinsame Anstrengungen zur Bewältigung des Klimawandels betri , die erbitterten Verteilungskämpfe um unersetzliche Ressourcen, das Bevölkerungswachstum in Afrika als ökologischer Faktor und die expansive Grundausrichtung der großen islamischen Konfessionen.

INTERVIEW „Die Selbstbestimmung hat ja einen Ehrenplatz im spätdeutschen Fortschri sbewusstsein. Sie ist ein Fetisch aus Stroh.“

Zugleich werden uns Weltstaatsillusionen serviert.

Als Medienforscher weiß ich, wie man Aufmerksamkeit erzeugt und Plausibilität suggeriert. Gruselig ist das Zusammenwirken von politischen Direktiven, uniformer Medienmeinung, be issener Wissenscha , spendablen Konzernen und eifernden Nichtregierungsorganisationen. Alle diese Akteure bestätigen sich gegenseitig und pro tieren politisch und ökonomisch von ihrer Allianz. Auf diese Weise ist eine reißende Eigendynamik entstanden. Also zwei e ich zunächst einmal an den lauteren Absichten der Umerziehungsprogramme und stelle die Objektivität der Ergebnisse opulent nanzierter Studien infrage. Ich behaupte nicht, es besser zu wissen, aber ich will schon die eine oder andere begründete andere Meinung hören und den Schlagabtausch der Argumente erleben – wenn es doch um planetarische Lebensfragen geht. Statt einer richtigen Auseinandersetzung aber erlebe ich moralinsaure Zurechtweisungen.

Letzteres macht mir besonders zu scha en. Das Tremolo der Weltklimarettung, die Propaganda der Energiewende und der „Green Deal“ der EUKommission sind gesinnungsethischen Prinzipien verp ichtet, ebenso wie die Klimakonzepte der drei Parteien in der absehbaren neuen Bundesregierung. Man erhebt Wahrheitsansprüche und fertigt Zweifel als wahnha ab. Die politische Auseinandersetzung, die Willensbildung des Volkes, scheint nur eine Nebenrolle zu spielen, und auch das nur insofern, als sie dem großen Konsens zupasskommt. Sie wird eher als Störfaktor betrachtet und als eine Sache der Volkserziehung.

Meine Skepsis erhält weitere Nahrung durch die Missachtung alternativer Bewirtscha ungsmethoden in der Land- und Forstwirtscha . Lokale Feldversuche in Europa und Nordamerika führten durchaus zu verheißungsvollen Ergebnissen, soweit ich das beurteilen kann. Sie lassen ho en, dass man mit ihrer Hilfe die Emission klimarelevanter Spurengase wie Kohlendioxid, Methan und Lachgas weit wirkungsvoller eindämmen könnte als mit einem Totalverzicht auf fossile Energieträger. Ich erlaube mir, auf die Beiträge von Jörg Gerke, Christoph Becker und omas Hoof in unserer Vierteljahresschri und im „TUMULT“-Blog hinzuweisen.

Wenn wir das selbstbestimmte Leben vorhaben, wie sollen wir das führen – vor allem mit Blick auf solche Großprobleme?

Ja, wie führt das Individuum ein selbstbestimmtes Leben, wenn doch große Einigkeit darüber herrscht, was wir zu tun und zu lassen haben? Die Selbstbestimmung hat ja einen Ehrenplatz im spätdeutschen Fortschrittsbewusstsein. Sie ist ein Fetisch aus Stroh, das unablässig gedroschen wird. Von der Dressur des Verhaltens abgesehen, treibt das Individuum in die Orientierungslosigkeit. Es pocht auf seine Selbstbestimmung, aber diese ist gewöhnlich nicht herangereift, sondern Ausdruck einer Haltung des Ausweichens, Hinhaltens und Aufschiebens. Statt sich festzulegen, bemüht sich der Einzelne um immer mehr Selbstverfügbarkeit, indem er Wahlmöglichkeiten sammelt. Das gilt auch für das Streben nach einem singulären Lebensstil. Der Einzelne trainiert seine Selbstbestimmung mit Sozialtechniken der Optimierung, der Distanzierung und der Selbstdarstellung. Zugleich bekommt er Hilfestellung durch Angebote, die er nicht ablehnen kann. Es wird ihm eingepaukt, was der Gesundheit zuträglich ist, wie er dem Infektionsrisiko aus dem Weg geht und wie er seine Weltoffenheit unter Beweis stellt – wie er sich noch besser kontrolliert als bisher, damit die Welt gerettet wird und die Digitalisierung vorankommt.

Mit Ihrer letzten Sachbuchveröffentlichung vermitteln Sie einen klaren Blick auf die deutschsprachige Medienlandschaft. Was ist da wirklich los? Was ist vom „Haltungsjournalismus“ und den Denunziationsjournalisten, die nicht nur Ihnen das Leben schwer gemacht haben, zu halten? Was muss sich ändern?

Schon aus beru ichen Gründen hat mich Sprache immer interessiert. Politischen Handlungen gehen in der Regel Sprachhandlungen voraus; bestimmte Wörter werden plötzlich in Umlauf gebracht, um gesellscha spolitische Veränderungen vorzubereiten. In Deutschland waren es 2015 Wörter wie „Willkommenskultur“ und „Kulturbereicherung“ (durch „Schutzsuchende“), die sich viral in den Medien ausbreiteten und den Eindruck erweckten, die Deutschen hätten nur auf die zuvorkommende Bewirtung und Alimentierung von Millionen Orientalen gewartet. Das Gegenteil ist der Fall. Man spricht heute von einem Putsch der Zivilgesellscha , die sich damals über eine gleichgeschaltete, human-sozialistische Presse als „Mehrheitsgesellscha “ aufspielen durfte. Auch hier waren bestimmte Sprachhandlungen – vor allem moralische „Framings“ – spielentscheidend gewesen. Denn halb Afrika sitzt inzwischen auf gepackten Ko ern, der sogenannte Familiennachzug dür e sich schon bald als „ethnische Säuberung mit vorwiegend friedlichen Mitteln“ entpuppen. Doch solche Formulierungen von Gedanken dür en sich im deutschen Blätterwald nicht mehr nden. Alles klingt gleich. Besonders schmerzlich emp nde ich die vielen Begri sumdeutungen und Täuschwörter, die aus einer der präzisesten Sprachen der Welt einen nebulösen

Alles eine Frage des Klimas: Die gute Mobilisierung bringt schulfrei. Die Probleme des Landes bleiben.

Alles im Griff? Nichts im Griff? In der Krise rächt sich vor allem das Vertrauen auf die Politik. Das Virus führt sie vor.

Foto: Friedrich Stark / Alamy Stock Foto

„Wir kommen nicht mehr heraus aus dem Schutz-und-VorsorgeKorse , das uns im Krisenspektakel angelegt worden ist.“

Sound aus Euphemismen und AirbagRhetorik gemacht haben. Nimmt man dann noch die Flatulenzen der Gendersprache und der Political Correctness hinzu, wird klar, dass es sich um Anschläge auf das schöpferische Potenzial unserer Sprache handelt. Als Schri steller ist man dann gefragt, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu handeln.

Henryk Broder hält die Corona-Bekämpfung für eine Art Intelligenztest. Sind die Deutschen durchgefallen? Wie halten Sie es mit dem Virus und seiner Bewältigung – vor allem durch den Staat?

Sie haben Nerven, mich auf dieses ema anzusprechen. Es löst bei allen, die ich kenne, nur noch Abwehrre exe aus. Der Überdruss erklärt sich nicht nur daraus, dass der Kampf gegen COVID-19 seit 20 Monaten mediales und privates Dauerthema ist. An ihm teilzunehmen, laugt aus. „Corona“ ist ein aufdringliches Politikum des Alltags. Jeder hat mit sich selbst eine vorläu ge pragmatische Corona-Politik ausgehandelt, sie mit Freunden abgestimmt und gegenüber Andersdenkenden verteidigt, aber sie immer wieder leicht abgewandelt und dabei zwischen eorie und Praxis gewisse Kompromisse geschlossen. Seit Frühjahr 2020 haben sich die deutsche Bundesregierung und die Landesregierungen und die beratenden und ausführenden Organe x-mal selbst widersprochen und unglaubwürdig gemacht. Sie haben große Branchen des Wirtscha slebens und ganze Regionen stillgelegt. Sie haben die Hauptrisikogruppen und die Schulkinder und Lehrer willkürlichen Zerreißproben ausgesetzt. Ihre Gegenmaßnahmen waren nach wissenscha lich haltlosen Parametern ausgerichtet – insbesondere nach dem „Inzidenzwert“, der zur Gleichsetzung von Infektion und Erkrankung verleitet – und haben überhaupt jede klare Linie vermissen lassen. Insofern überzeugt Broders Fazit: durchgefallen.

Aber die Corona-Krise war und ist eben viel mehr als ein Intelligenztest. Der Bundesregierung kam es vor allem darauf an, Rückendeckung bei der Weltgesundheitsorganisation und der Welthandelsorganisation zu erhalten und, was fast das Gleiche ist, im Einklang mit den Interessen der Pharmakonzerne und der Schaltstellen in Brüssel zu handeln. Gleichzeitig jedoch – und das macht die Sache zu einem grandiosen Verwirrspiel – hat sich das Bund-Länder-Direktorium bemüht, dem Wahlvolk weiszumachen, es habe die Lage unter Kontrolle. Deshalb müssen immer auch die falschen Weichenstellungen von früher nachträglich gerechtfertigt werden. Wir kommen nicht mehr heraus aus dem Schutz-und-Vorsorge-Korsett, das uns im Krisenspektakel angelegt worden ist. Das „Bevölkerungsschutzgesetz“ ist nur der Au akt zur Verabschiedung von Klimaschutzgesetzen, die unser Alltagsverhalten regeln.

Oft ist von Leuten wie Baerbock, Merkel, Steinmeier und anderen zu lesen, dass sie den „Eliten“ zuzurechnen sind. Bitte sagen Sie uns, dass der in diesem Zusammenhang verwendete Elitenbegriff pervertiert ist …

Die Genannten nehmen Spitzenpositionen ein, in die sie durch demokratische Wahlverfahren gelangt sind. Ob sie aber eine Auslese mit Vorbildcharakter darstellen, muss man bezweifeln. Arnold Gehlen sah den Eliteanspruch noch durch eine „Askeseforderung“ legitimiert und warnte die Regierenden davor, auch noch Geschä e machen und reich werden zu wollen, weil das ja alle wollten – und was alle wollen, ist das Gegenteil von Auslese. Unsere Spitzen-

Spitzenpositionen haben längst nichts mehr mit irgendeiner „Elite“ zu tun.

„In Deutschland herrscht das Duckmäusertum. Das ist das Gegenteil von Einfalt.“

politiker werden auch nicht der Elitende nition von Pierre Bourdieu gerecht: der Synthese von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. Merkel, Steinmeier und Baerbock sind typische Angehörige der Funktionselite, so wie viele leitende Angestellte ebenfalls, bilden sich aber höchstwahrscheinlich ein, auch in kultureller Hinsicht herauszuragen. Da irren sie sich. Sie sind durch die harte Schule täglicher Au ritte in elektronischen Medien gegangen und dabei große Phrasendrescher geworden. Hier muss ich mich aber korrigieren. In der Ära von Globalisierung und Hyperkultur ist die Zugehörigkeit zur Elite ganz wesentlich auch eine Sache der Selbstzuschreibung. Liberale Kosmopoliten, die auf exklusive Selbstentfaltung und Unbefangenheit bei Begegnungen mit Leuten aus aller Welt und jeder sexuellen Orientierung großen Wert legen, zählen sich auch dann zur globalen Elite, wenn sie ein niedriges Gehalt beziehen, denn sie halten sich für Verkörperungen des Fortschritts. Ein entgrenzter Lebensstil gilt heute mehr als Bildung und Einkommen. Auch Videospielentwickler, Bordellbesitzer mit SUV und prominente Rapper sehen sich als Teil der Elite und werden häu g auch so behandelt.

Vielleicht liegt es auch am Land und seinen Wählern. Man sagt ja, dass es bekomme, was schlichtweg gewählt würde. Woher kommt die deutsche Einfalt?

Den Ausschlag bei der letzten Bundestagswahl gaben Millionen von Wählern – ein bis zwei Dutzend Millionen –, die sich nicht von politischen Überzeugungen leiten ließen, sondern unbedingt auf der Seite des Siegers stehen wollten. Anders sind die gewaltigen Auf- und Abschwünge bei den Antworten auf die „Sonntagsfrage“ in den letzten beiden Jahren nicht zu erklären. Daher nenne ich Deutschland das Land der Überläufer. Aber machen Sie bitte nicht den Begri der Einfalt schlecht! In Deutschland herrscht das Duckmäusertum. Das ist das Gegenteil von Einfalt.

Weil wir gerade dabei sind: Ist es ehrlich vorstellbar, dass das aktuell leitende politische Personal Europas wirklich komplexe „Great-Reset“-Pläne im Rahmen der CoronaKrise ausgebrütet hat? Ist das nicht eine ungeheure Überschätzung?

Es ist fatal, aber auch ein bisschen komisch, dass gerade diejenigen, die verborgene Machenscha en enthüllen und das leichtgläubige Volk au lären wollen, die Lage verharmlosen. Da saß also im Jahr 2019 – so stellt man sich das vor – in New York oder Genf eine Runde von Konzernherren, UNO- und EU-Chargen, Medien-

RISIKOGESELLSCHAFT

Vom Abschluss einer Versicherung bis zum Besuch einer Vorsorgeuntersuchung, vom Ehevertrag ohne Gütertrennung bis zur Altersvorsorge nach Riester, von der Buchung des Feriendomizils per Internet bis zur Wahl der Geldanlage – der moderne Mensch ist permanent Risiken ausgesetzt.

Frank Böckelmann: Risiko, also bin ich. Von Lust und Last des selbstbestimmten Lebens

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JARGON DER WELTOFFENHEIT

Eine politische Linke gibt es nicht mehr. Als historisch eigenständige Kraft ist sie längst verschwunden. Unsere wohlklingenden Forderungen wie „Selbstverwirklichung“, „Authentizität“, „Emanzipation“, „Gleichberechtigung“ und „Vielfalt“ sind alles andere als links. Sie verhindern eben das, was sie versprechen: Begegnung, Entschiedenheit, Verwirklichung, Individualität, Welthaltigkeit, Anwesenheit, Gemeinsamkeit. Sie leiten uns in ein Dasein ohne Herkunft, Heimat, Nachkommenschaft und Transzendenz. Der Jargon der Weltoffenheit hält uns in der Vorläufigkeit gefangen: Alles erscheint greifbar, nichts ist erreichbar.

Frank Böckelmann: Jargon der Weltoffenheit. Was sind unsere Werte noch wert?

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moguln, In uencern und Investmentbankern zusammen und hat geplant, mithilfe einer Pandemie die Weltbevölkerung an die Kandare zu nehmen und/oder einem drohenden Zusammenbruch auf den Finanzmärkten zuvorzukommen. Ja, wenn es nur das wäre – nichts einfacher als das! Man müsste die Beteiligten und ihre Helfershelfer nur entlarven und ausschalten, und die globale Intrige wäre gescheitert. Aber auch den Enthüllungsakteuren muss klar sein, dass kompromittierte Strippenzieher sofort durch Komplizen ersetzt werden würden – somit starke politische und wirtscha liche Krä e mit im Spiel sind, und das seit vielen Jahren.

Wir erleben einen klassischen Fall von Schattenboxen. Auch diejenigen, die sich über „Verschwörungstheorien“ lustig machen, können erkennen, dass die globalen Gouvernanten den Pandemiefall zum Anlass genommen haben, Bemächtigungskonzepte zu erproben, die zum Einbläuen von Klimaschutztugenden bereitliegen. Der „Great Reset“ muss nicht erst verabredet und in PR-Schri en von Klaus Schwab und anderen schmackha gemacht werden. So wie der „Große Austausch“ im Sinne eines politisch begrüßten Bevölkerungswandels ganz ohne Verschwörungen statt ndet. Begünstigt wird er von der Au ösung landsmannscha licher Bindungen und der Verwandlung der Völker in Humankapital und Konsumentenherden.

Jan Grossarth schrieb nach dem Tod Rolf Peter Sieferles: „Wir drehen derzeit fast alle nach rechts.“ Sieferle selbst „war schon viel früher in der Lage, die Zeichen der Zeit, die Fakten, die blauäugige, verfrühte Freude über den liberalen Endsieg zu begreifen, zu deuten und skeptisch zu hinterfragen oder gar zurückzuweisen“, wie Götz Kubitschek festhielt. Sie selbst drehten vor Jahren nach rechts, was war los?

In meinem Fall gab es keine Wendung von links nach rechts. Ich bin kein Renegat – nur eben die Gesamtlage hat sich radikal geändert, und ich mich mit ihr. Was mich in den Sechziger- und Siebzigerjahren angetrieben hat, war die Sehnsucht nach Grenzüberschreitung: aus der Borniertheit der festgelegten Laufbahn ins O ene zu kommen, den bildungsbürgerlichen Biedermeier zu verlassen, die ganze Wirklichkeit zu entdecken. So wie mir ging es vielen. Wir lechzten nach existenzieller, sexueller, künstlerischer, exotischer, schwelgerischer Intensität, nach Formenwandel, dem Unbekannten. Symptomatisch für diesen Wunsch ist der Titel eines vielgelesenen Buches von Michael Rutschky: „Erfahrungshunger“. Die Erwartung eines erfüllten Taumels jedoch wurde im Laufe der Jahre seltsam enttäuscht. Warum eigentlich? Die Antwort fällt gar nicht so leicht. Es gab ja immer noch etwas Neues zu erkunden. Vermutlich ist Offenheit nur so lange anziehend, wie ich mich abstoßen, eine besitzergreifende Realität hinter mir zurücklassen kann. Aber von einer O enheit in die andere zu gelangen, ermüdet rasch. Jedenfalls mündete die Entfesselung immer häu ger in die Fadheit, die Öde, die Verdrossenheit. Es war die Beliebigkeit, die Schalheit des Wählerischen, die das Erleben austauschbar machte. Mit Entgrenzung assoziiere ich heute Monotonie und Gleichgültigkeit. Multikulti ist Daseinsschwund.

Im angedrehten Exzess ging das Wichtigste verloren: die Anwesenheit im Hier und Jetzt, das Unverwechselbare, die Realitätsgewissheit und mit ihr das Staunen über die Unfassbarkeit der Welt. Daher änderte meine Sehnsucht die Richtung. Das Wertvollste, das einzig wirklich Wertvolle, ist nicht das, was gewählt wird, sondern das, was mich wählt. In der Ära der Beliebigkeit polen sich die Taten und die Tagträume zum Ziel der Rückverortung um. Ist das konservativ? Nein, gerade nicht. Denn dieser Wunsch kommt aus der Verlust-

„Der einzige Erfolg versprechende und ermutigende Ausweg ist die Solidarität unter denen, die sich zugehörig sehen.“

erfahrung. Wir haben die Heimat verloren. In den Achtzigerjahren habe ich die großen deutschen Komponisten entdeckt, vor allem Richard Wagner, den ich vorher sterbenslangweilig gefunden hatte. Und ich lauschte stundenlang – jetzt werden Sie lachen – der bayerischen Volksmusik. Ich bin jährlich wochenlang durch die deutschen Mittelgebirge gewandert, mit Vorliebe durch Laubwälder. Dabei bin ich alles andere als ein Romantiker. Mein Spürsinn für Herkun krä igt sich am Horror vacui.

Beide Sehnsüchte – die nach Entgrenzung und die nach Zugehörigkeit – haben etwas gemein: den Hunger nach Wirklichkeit. Als Marxist wollte ich erkennen, was eigentlich gespielt wird. Und das Gleiche will ich als Betreiber des „TUMULT“-Projektes.

Vertrat in ihrer Zeit als Linker jemand wie Ernst Niekisch eine für Sie relevante Spielart des Linksseins mit nationalen Untertönen? Und wenn ja, haben Sie sich intellektuell redlich gefühlt, wenn Sie die „Konservative Revolution“ mit dem Berkeley-US-Import der ’68er-„Revolte“ verglichen?

In keiner Phase meines politischen Lebens habe ich mich auf der Linksrechts-Achse verortet. An der Subversiven Aktion in den frühen Sechzigerjahren habe ich mich nicht beteiligt, um für Gerechtigkeit und die Emanzipation bestimmter Gruppen zu kämpfen, sondern weil der Wachstumsfetischismus alle Beziehungen austrocknete und die Welt versiegelte. Und heute sehe ich mich nicht als rechts und nicht als konservativ, sondern als „neoreaktionär“. Weil ich reagiere. Ich reagiere auf den Wirklichkeitsschwund, der durch Entgrenzung forciert wird, durch Machbarkeitshybris, Massenzuwanderung, die Digitalisierung der Gehirne. Unter diesem Aspekt lese ich heute Ernst Niekisch und die Einzelgänger der sogenannten Konservativen Revolution. Sie ahnten vieles voraus. Sie tasteten bereits nach Nothilfe in Erwartung von Verhängnissen, die uns heute bevorstehen.

Gibt es für Sie die „linken Leute von rechts“, die mit den „rechten Leuten von links“ etwas gemeinsam haben? Und sei es nur, Angst vor einer „Querfront“ zu produzieren?

Aber ja. Der einzige Erfolg versprechende und zugleich ermutigende Ausweg in verzweifelter Lage ist die Solidarität unter denen, die sich zugehörig sehen. Tätige Nächstenliebe statt gleichgültiger Fernstenliebe! Aus gemeinsamer Gegenwehr gegen expansive Bedrohungen – durch Islam, Vereinigte Staaten, China, Russland, Despoten der Plattformökonomie – erwächst notwendige, von der Not genährte Volkssolidarität, im nationalen Rahmen und als wiederentdeckte Nähe zwischen den europäischen Völkern. Der vielgerühmte deutsche Sozialstaat ist ein System der Ausplünderung – das wurde in „TUMULT“ ausführlich erläutert. Wir benötigen den auf Anspruch und Zuneigung beruhenden Zusammenhalt unter den Teilhabern eines Erneuerungsprojektes.

Stand die unheilvolle Auswirkung der ’68er-Bewegung nicht in einem deutlichen Missverhältnis zu ihrem theoretischen, intellektuellen Potenzial und war Ergebnis ideologiebehafteter Borniertheit? Oder auf den Punkt: Wie konnten diese Leute derart viel Schaden anrichten?

Diese Leute waren nicht die Urheber des Verhaltens- und Wertewandels in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sie haben ihn allenfalls beschleunigt. Was später „Kulturrevolution“ und „Fundamentalliberalisierung“ genannt wurde, die Aushöhlung der bürgerlichen Institutionen und Lebensformen, die ständige Propaganda für Selbstverwirklichung, Emanzipation, Gleichberechtigung und Vielfalt, entsprach dem Interesse an Massenproduktion und Massenkonsum. Die alten Rollenbilder und die alte Prüderie standen im Weg und wurden abgeräumt. Die Protestbewegung hat nur o ene Türen eingerannt. Sie ist die nützliche Idiotin der großen Umerziehung von traditionsgeleiteten Angehörigen zu versprengten Arbeitskrä en und Verbrauchern. Wenn es die „Achtundsechziger“ nicht gegeben hätte, wären irgendwelche anderen Bewegungen losgetreten worden.

Sie zählten seinerzeit mit Dieter Kunzelmann, Herbert Nagel und Günter Maschke zu den führenden Köpfen der Subversiven Aktion. Werner Olles schreibt, diese verstanden die spätkapitalistische Realität trotz intensiver MarxSchulung nur rudimentär, führten Kämpfe der Vergangenheit und zersplitterten sich. Ihr Gesellschaftsbild war jedoch angeblich durchdrungen von Siegesgewissheit, der „Erziehung eines neuen Menschen“ und der blanquistischen Utopie der Diktatur. Dies mündete in die Entstehung grüner und linker Pöbelparteien, die bis heute die politische Agenda bestimmen. Ist das eine nachvollziehbare Linie von Olles oder eine bösartige Abwertung?

Ich vermute, Werner Olles hat das auf die Neue Linke insgesamt und nicht speziell auf die Subversive Aktion bezogen – oder vielleicht auf deren Berliner Gruppe um Rudi Dutschke. Wir Münchner jedenfalls schreckten davor zurück, die Kämpfe der Vergangenheit fortzusetzen. Ich spreche von den Jahren 1962 bis 1965. In Dieter Kunzelmanns Keller in Schwabing gaben wir uns einer zügellosen Traumtänzerei hin. Wir sahen uns als Pioniere einer kün igen Menschheit, die nicht mehr

„TUMULT“-MAGAZIN „TUMULT – Vierteljahresschrift für Konsensstörung“ ist eine von Wissenschaftlern und (im weitesten Sinne) Künstlern betriebene Plattform, aber keine wissenschaftliche und keine Kunstzeitschrift. Mainstreamkundig und randständig versteht sich „TUMULT“ als unabhängiges Organ der Gegenwartserkundung fernab akademischer und volkspädagogischer Sprachregelungen.

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arbeiten muss. Den neuen Menschen wollten wir nicht erziehen, sondern durch Verführung herbeilocken. Allerdings gab es Gruppenzwänge und „Psychoamoks“. Die Verlockung der sozialistischen Orthodoxie mit „Kapital“-Kursen und nostalgischer Betriebspraxis kam später. Sie hat die Subversive Aktion gespalten und ihr ein rasches Ende bereitet.

Was halten Sie davon, wenn etwa die metapolitische Hegemoniemethodik Gramscis von „Neurechten“ wiederbelebt wird und man in diesen Kreisen „Marx von rechts“ liest? Eitle Mode oder sinnvolle geistige Okkupationsbemühungen?

Marx von rechts zu lesen – oder auch wieder von links – ist nicht mehr möglich, weil Marxens Kritik der politischen Ökonomie eine praktische eorie war. Sie setzte auf die unvermeidliche Empörung eines revolutionären Proletariats. Diese Zeiten sind vorbei. Ich sehe derzeit auch keine Möglichkeit, in der ö entlichen Meinung die Oberhand zu gewinnen – obwohl der westliche Universalismus und die linksgrüne Welterlösungslehre Utopien reinsten Wassers sind. Wir Neoreaktionäre inspizieren die Untiefen des Gutmenschentums und achten darauf, ob dem Zeitgeist demnächst nicht doch ein ordentlicher Schreck eingejagt wird. Dann kann sich das, was als plausibel und human gilt, von heute auf morgen völlig ändern.

Können Denkschulen allgemein noch was? Manchmal ist man geneigt zu denken, dass nur mehr der Sound von TikTok, das Gezwitscher von Twitter und ähnliche individualistische Massenmedien das Grundrauschen beherrschen und jede Form von Diskurs zersetzen. Wie sehen Sie das?

Es gibt ja beides: den Hang zur Infantilisierung, zum au rumpfenden Schwachsinn und Stumpfsinn in allen Lebenslagen, und zugleich die Gegenbewegung, au eimende Freude an der Schulung eines strengen Erkennens und Sprechens. Ich erlebe beides. Infantilisierung provoziert Disziplinierung. Sie sehen, ich glaube nicht an die Rettung der Kultur durch Bildungsreform. Denken Sie an die seelische Verfettung der Mehrheitsbevölkerung in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Kollaboration der amerikanischen und chinesischen Videoclip- und SmartphoneKonzerne, den Zustand der christlichen Kirchen, die globale politische Regression durch gehätschelte Protestbewegungen mit drei Buchstaben. Das Desaster ist nicht aufzuhalten. Aber ebenso wenig die Konterrevolution.

Wir Jüngeren sind allemal Kinder von ’68, der von dort aus- und darüber hinausgehenden gesellschaftlichen Veränderung. Ist nicht genau das der großväterliche Konsens, den wir heutzutage stören müssen?

So ist es. Die Debattenlage ist paradox. Die Achtundsechziger sind die wahren Ewiggestrigen. Unser Widerstand hingegen, den man als „ewiggestrig“ di amiert, antwortet auf die Entwicklung von heute und morgen.

Kann man in der heutigen Welt noch irgendwo zu Hause sein? Wenn die Welt ein Ort ist, dürfen wir es noch etwas konkreter haben?

Wer sich heute an Ort und Stelle die rosarote Brille absetzt und sich umsieht, wird untröstlich. Er weiß dann, dass er nirgendwo mehr zu Hause ist. Ab nden kann er sich damit nicht. Wieder heimisch aber wird er nicht durch Heraufbeschwören des Vergangenen, sondern allein durch Neugründung – im tätigen Widerstand gegen das Diktat der unbegrenzten Konvertibilität: alles und nichts zu sein.

Foto: Archiv

Aus der Borniertheit ins Offene

„Wer sich heute an Ort und Stelle die rosarote Brille absetzt und sich umsieht, wird untröstlich.“

Der Blick Frank Böckelmanns auf die aktuelle Lage ist klar, unbestechlich und gnadenlos. Seine Abneigung richtet sich vor allem gegen Utopismus, politische Frömmelei und eine Hypermoral, die doch nur in die repressive Implementierung von Weltstaatsillusionen mündet.

u e a e e e , e F a e a b s a o e e e, ge e e s o seinerzeit aufsehenerregende Studie über die gegenseitige Wahrnehmung und Fremdheit von „Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen“. 1998 in Hans Magnus Enzensbergers „Die Andere Bib o e e s e e , a s e a ge e e g e u eg u e e e e e e Neuausgabe von der Manuscriptum Verlagsbuchhandlung vor. Im gleichen Verlag, der dem ManufactumGründer und früheren -Eigentümer Thomas Hoof gehört, erschien jüngst Böckelmanns erste osa e e u g D e u ge e a s e b o o : D ese osaba […] handelt von unseren – meist gar nicht bewussten – Ausweichmanövern und der verborge e Ne gu g u e a , u e e e u e s e e u e asse e ein wenig den Schleier, der über dem Vertrödeln nicht wiederkehrender Lebenschancen liegt. Die Tüchtigen bahnen sich ihren Weg durch die Stickluft der Saumseligkeit – und erliegen am Ende den inneren Skrupeln, die sie dabei verleugnen.“ In einer Besprechung in der „Sezession“ schreibt Erik Lommatzsch völlig richtig, dass „insbesondere denjenigen, die mit dem Feld der Publizistik vertraut sind“, vieles in dem Buch bekannt vorkommen werde.

Doch Böckelmanns eigene Trödeleien müssen sich in vertretbaren Grenzen gehalten haben, denn der 1941 in Dresden geborene studierte Philosoph und Kommunikationswissenschaftler, der in den 1960er-Jahren an der Subversiven Aktion mit Dieter Kunzelmann, Rudi Dutschke und Bernd Rabehl beteiligt war, wurde Anfang der 1970er-Jahre promoviert. Danach a e e g a e a g e e Au aggebe e e e e e o s u g g Das mit dem Historiker Hersch Fischler verfasste Buch „Bertelsmann. Hinter der Fassade des Medienimperiums“ (2004) erlaubt erhellende Einblicke in die Geschichte des BertelsmannKonzerns und seine Praktiken.

Heute warnt Böckelmann davor, dass der ideologische Milieuwortschatz der Linken als a e su u o ge e osu ge u e e A e e , so e s N s

E u s e e us a e o u g e ge a ge : A es e s e g e ba , s s erreichbar“. Die politische Linke als historisch eigenständige Kraft sei, so Böckelmann, verschwunden: „Wer sich heute ‚links‘ nennt, kündigt lediglich an, noch hartnäckiger zu fordern, as a e a e e au s o o e E s e , e so o e ba u e s o e b e be e , e ugs u e e a e F a u e A ge e e e u g u dieses Jahres zum Ideologen der neuen nationalen Revolution (P. Bahners) erhoben. Doch e a s ea ss b e b u ge b , au e Feu e o s a e e e H e im gleichen Blatt schon 2018 behauptete, Wirklichkeit sei „nicht jene ontologische Festgröße, a s e s e o F a e a b s No be o e e gege u ebsa e o s e eg e des linksliberalen Spektrums in Stellung gebracht wird“.

Der Achtzigjährige ist heute als Vorsitzender des Fördervereins „Freunde der Vierteljahresschrift TUMULT e. V.“, Chefredakteur der „Vierteljahreszeitschrift für Konsensstörung“ und Herausgeber der gleichnamigen Schriftenreihe ungebrochen aktiv.

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