Die Corona-Pandemie unterstreicht die Bedeutung der Wissenschaft in der Medizin
Wissenschaftlichkeit ist ärztliche Kernkompetenz
M Prof. Dr. R. Thimme
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edizin ist definiert als die Wissenschaft der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten. Es müssen dabei wichtige Bedingungen erfüllt sein: Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen methodisch basiert, reproduzierbar und übertragbar sein. Diese wichtigen Konzepte der Wissenschaft haben sich in der Corona-Pandemie bestätigt. In einem wirklich atemberaubenden Tempo wurde das SARS-CoV-2Virus nicht nur isoliert und wichtige Aspekte der Virus-vermittelten Pathogenese aufgeschlüsselt, sondern auch verschiedene therapeutische und prophylaktische Therapieansätze, wie neue Impfstoffe auf mRNA-Basis, entwickelt. Für Letztere konnte in großen prospektiven und randomisierten Studien ein Schutz vor einem schweren Verlauf von mehr als 90 Prozent gezeigt werden. Es gibt wahrscheinlich keinen ähnlich großen Erfolg in der Medizingeschichte, bei dem Erkenntnisse der Grundlagenwissenschaften so unmittelbar und rasch zum Wohle der Menschen umgesetzt werden konnten. Die Wahl der bestmöglichen Prophylaxe und Therapie einer SARS-CoV-2-Infektion ist für uns als betreuende Ärzte und Ärztinnen verpflichtend. Die Eindeutigkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse macht es uns dabei einfach: Es besteht kein Zweifel am klinischen Nutzen der Impfung! Die Corona-Pandemie und die Notwendigkeit, sich ständig mit neuen und sich teilweise auch widersprechenden Erkenntnisgewinnen auseinanderzusetzen, zeigt aber auch die Herausforderungen der Wissenschaft auf. Der Philosoph Karl Popper hat diese bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts skizziert und die Fehlbarkeitslehre entwickelt. Wissenschaftlichkeit ist demnach definiert als Bereitschaft zur ständigen kritischen Überprüfung und gegebenenfalls auch Verwerfung der einmal aufgestellten Hypothesen.
ÄBW 03 | 2022
Das ständige Hinterfragen muss Grundvoraussetzung eines Akademikers sein, denn nur dann wird man zu neuen Versuchen und zu neuem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn getrieben. Diese Dynamik in der Wissenschaft ist der Bevölkerung sicher nicht immer leicht zu vermitteln und erfordert regelmäßige Aufklärung, um das Auftreten von Ermüdung oder gar Zweifel gegenüber neuen Erkenntnissen zu verhindern. Die Vielstimmigkeit der öffentlich vorgebrachten Einschätzungen und Prognosen ist dabei für die Bevölkerung sicherlich schwierig zu interpretieren und wird gerne von verschiedenen Personengruppen als Argument gegen die Wissenschaft und für die Verbreitung von Wissenschaftsskepsis, ja sogar Wissenschaftsfeindlichkeit verwendet. Aber der Wunsch nach einfachen und häufig falschen Antworten ist per se schon unwissenschaftlich. Auf den amerikanischen Politikberater Bernard Baruch geht der Satz zurück „Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene Meinung, nicht aber auf falsche Fakten“. Es ist eine zentrale Aufgabe der Wissenschaft, insbesondere in Zeiten einer Pandemie, den falschen Fakten entgegenzutreten und vielmehr auf die Bedeutung und Relevanz der wissenschaftlichen Ergebnisse hinzuweisen. Dies hat durchaus auch politische Relevanz. So stellt die Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Prof. Katja Becker, zu Recht fest: „Dass gerade hier in Deutschland die Wissenschaft als Orientierungshilfe gewählt wurde, zeichnet dieses Land, seine Gesellschaft und seine Entscheidungsträger aus.“ Es ist dabei aber wichtig zu betonen, dass Wissenschaft keine Politik machen will. Auch wenn Rudolf Virchow konstatierte „Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen“, so sind doch die Aufgaben von Wissenschaft und Politik grundsätzlich eigenständig und unabhängig. Dennoch ist es
aber wünschenswert, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse in die Entscheidungen der Politik über einen offenen und transparenten Dialog miteinfließen. Tatsächlich könnte genau dies eine der großen positiven und nachhaltigen Folgen dieser Pandemie werden. So hat die Politik durchaus vielfach den Rat der Wissenschaft und von wissenschaftlichen Organisationen angenommen und umgesetzt. Exemplarisch stehen hierfür die Ad-hoc-Stellungnahmen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, in der beispielsweise Ende November 2021 in Anbetracht einer erneuten, verschärften Eskalation der COVID-19-Pandemie sofortige klare und konsequente Maßnahmen inklusive einer massiven Verstärkung der Impfkampagne bis zur stufenweisen Einführung einer Impfpflicht sowie strikte, kontrollierte und sanktionierte 2G-Regelungen gefordert wurden. Auch die Einberufung eines mit führenden Wissenschaftlern zusammengesetzten Corona-Expertenrats der neuen Bundesregierung unterstreicht die zunehmende Akzeptanz und Bedeutung der Wissenschaft als Beratungsinstanz für die Politik. Es kann auch als klares Signal der Politik für eine rationale Basis von Entscheidungen und gegen die Leugnung und Missachtung von wissenschaftlichen Erkenntnissen gewertet werden. Natürlich bringt diese große Bedeutung und Aufmerksamkeit der Wissenschaft aber auch eine ungewohnte und neue Verantwortung mit sich. Dieser gerecht zu werden ist eine große Herausforderung für uns alle, denn Wissenschaftlichkeit ist eine ärztliche Kernkompetenz! Prof. Dr. Robert Thimme Ärztlicher Direktor Klinik für Innere Medizin II, Universitätsklinikum Freiburg Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina
Foto: Alissa Eckert, MS, Dan Higgins, MAM
Editorial