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Ethische Herausforderungen der postmortalen Organspende während und nach der Pandemie

141 Ethische Herausforderungen der postmortalen Organspende während und nach der Pandemie

Dr. N. Primc

Redaktion: Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing, Prof. Dr. phil. Hans-Jörg Ehni Universität Tübingen, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Gartenstraße 47, 72074 Tübingen www.iegm.uni-tuebingen.de Prof. Dr. phil. Robert Ranisch, Universität Potsdam Die COVID-19-Pandemie hat auch die Transplantationsmedizin vor besondere ethische Herausforderungen gestellt. Dies betrifft vor allem den Umgang mit knappen Ressourcen im Gesundheitswesen sowie die Abwägung der Risiken und Nutzen für die Empfänger. Gerade zu Beginn der Pandemie, die sehr stark durch epistemische Unsicherheiten und fehlende Schutzmaßnahmen für Personal und Patienten (u. a. Schutzkleidung, Testkapazitäten, Impfstoffe) geprägt war, kam es international zu einem starken Rückgang an Spende- und Transplantationsraten [1]. Die Gründe hierfür waren vielfältig. So befürchtete man, die Empfänger aufgrund der notwendigen Immunsuppression einem höheren Risiko auszusetzen als durch das Verschieben der Transplantation. Dies betraf besonders die Lebendorganspende. Diese setzt nicht nur einen gesunden Spender dem Risiko eines schwerwiegenden fremdnützigen Eingriffes aus. Lebendtransplantationen werden zudem tendenziell an Patienten mit einer vergleichsweise geringeren Dringlichkeit und guten Erfolgsaussicht durchgeführt [2], für welche sich im Gegensatz zu anderen schwerkranken Patienten die prinzipielle Möglichkeit der Verschiebung des Eingriffes eröffnet. Daher wurden gerade Nierenlebendspenden, für welche die Überbrückung der Wartezeit mittels Dialyse bestand, in den ersten Monaten der Pandemie (März bis Juni 2020) weltweit in vielen Zentren und Regionen vollständig ausgesetzt [1].

Postmortale Organtransplantation in der Pandemie – gleiches Recht auf lebenserhaltende Ressourcen

Die pandemiebedingte Überlastung der Intensivstationen stellte auch für die postmortale Organspende eine besondere Herausforderung dar. Eine adäquate Spendererkennung und Realisierung von Transplantationen setzt nicht nur ausreichende zeitliche und personelle Ressourcen voraus, sondern ebenso eine Vielzahl an materiellen Ressourcen (u. a. Schutzmaterialien, Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Testkapazitäten), die gerade in den ersten Monaten der Pandemie kaum vorhanden oder sehr knapp waren. Daher wurden selbst postmortale Transplantationen international kurzzeitig komplett zurückgefahren oder auf lebensnotwendige Transplantationen, das heißt Patienten mit einer sehr hohen Dringlichkeit begrenzt [1]. Der weltweite Rückgang an Organspenden hat zu einer erhöhten Sterblichkeit der Patienten auf der Warteliste geführt und zu einer Zunahme der Anzahl an Patienten auf der Warteliste [3].

In Deutschland hat sich die postmortale Organspende im internationalen Vergleich als recht stabil erwiesen. Im Jahr 2020 wurde ein leichter Rückgang von 2 Prozent verzeichnet, wobei 2021 mit insgesamt 933 postmortalen Organspendern wieder das Niveau von 2019 erreicht hat [4]. Hingegen wurde für das gesamte Eurotransplant-Gebiet im Vergleich zu 2019 jeweils ein Rückgang von fast 11 Prozent (2020) beziehungsweise zirka 10 Prozent (2021) gemeldet [5]. Die Gründe für den weitaus geringeren Rückgang in Deutschland werden unter anderem in den höheren Intensivkapazitäten, der frühzeitigen Umsetzung einer durchgängigen Testung aller potenziellen Spender auf Sars-CoV-2 sowie dem großen Engagement der Entnahmekrankenhäuser gesehen [6].

Die postmortale Organtransplantation ist sicherlich eine im Vergleich zu anderen medizinischen Eingriffen sehr personal- und ressourcenintensive Maßnahme, die einen hohen logistischen Aufwand erfordert. Aus ethischer Sicht ist es vornehmlich das Prinzip der Gleichbehandlung aller Patienten, das die Aufrechterhaltung der Transplantationsprogramme auch unter den erschwerten Bedingungen einer Pandemie rechtfertigt und fordert. Für viele Patienten stellt die Transplantation die einzige Chance auf Lebensrettung dar. Eine Verschiebung der Transplantation birgt die Gefahr, dass diesen Patienten nicht mehr rechtzeitig ein passendes Organ angeboten werden kann. Zudem geht die Verschiebung mit dem Risiko einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes der Patienten und damit der Erfolgsaussichten einer Transplantation einher. Es würde demnach eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dieser Patienten darstellen, wenn ihnen gegenüber anderen Patientengruppen bei entsprechender Dringlichkeit und ausreichenden Erfolgsaussichten von vornherein die Chance auf eine Transplantation und damit einhergehende intensivmedizinische Behandlung versagt bleiben würde [7].

Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende – ein neuer Auftrag an Hausärzte

Am 1. März 2022 trat das „Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“ in Kraft, das am 16. Januar 2020 vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde – kurz vor dem Bekanntwerden des ersten offiziell gemeldeten Falles einer mit SARS-CoV-2 infizierten Person in Deutschland [8]. Der Gesetzesänderung vorausgegangen war eine öffentliche Debatte zur Regelung der postmortalen Organspende. Weitgehende Einigkeit bestand dahingehend, dass es Maßnahmen zur Steigerung der Rate an postmortalen Organspenden bedarf. Strittig war hingegen die Frage, welche Maßnahmen hierfür geeignet und als ethisch zulässig anzusehen sind. Die Mehrheit der Abgeordneten hatte sich damals gegen eine Widerspruchslösung und für die Beibehaltung einer Zustimmungslösung beziehungsweise Entscheidungslösung ausgesprochen [9]. Die sogenannte Entscheidungslösung wurde bereits 2012 in Deutschland eingeführt. Dahinter verbirgt sich eine Zustimmungslösung, flankiert von unterschiedlichen Maßnahmen, die die Bereitschaft der Bürger zur Dokumentation ihrer Entscheidung für oder gegen eine postmortale Spende fördern sollen. Mit der Gesetzesänderung bleibt die Zustimmungslösung grundlegend bestehen. Eine postmortale Organspende bleibt demnach weiterhin

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