Religion entdecken 4

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a.  1.1 wieser: wertebildung

1.1 Wertebildung als Aufgabe von Schule und Religionsunterricht Renate Wieser

In Kombination mit der zunehmenden gesellschaftlichen sozio-kulturellen Heterogenität – auch im Klassenzimmer – und der mit ihr einhergehenden Wertepluralität verweisen die angeführten Punkte auf einen steigenden Bedarf an Wertebildung: „Wertefragen, damit verknüpfte ethische Urteile sowie wertebasiertes Handeln sind zentral für die Gestaltung des menschlichen Alltags und erfordern eine bildende Auseinandersetzung.“ (Lindner & Zimmermann 2021b, 3) Dabei geht es auf der individuellen Ebene für den*die Einzelne*n um den Aufbau eines eigenen Wertesystems, auf gesellschaftlicher Ebene geht es „um den Zusammenhalt der Gesellschaft auf der Basis gemeinsam geteilter (Grund-)Werte sowie um den Umgang mit Wertepluralismus und Wertekonflikten“ (Schubarth 2019, 82).

I Grundlegungen

I.1

Warum ethisch-moralische1 Bildung wichtig ist und wichtiger wird

„Darf ich ein Geheimnis, das mir mein bester Freund anvertraut hat, weitererzählen?“ „Muss ich bei jedem Blödsinn, den andere machen, mittun oder darf ich ,Nein‘ sagen, wenn ich etwas nicht will?“ „Wenn ich jemandem weh getan habe – kann ich das dann wieder gutmachen?“ „Darf meine Lehrerin mich anders behandeln als die anderen Kinder in meiner Klasse?“ … Kinder beobachten, erfahren und entwickeln schon früh grundlegende Konzepte von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Sein und Sollen. Demnach stellen sie auch schon früh Fragen, die sich als „ethisch“ und „moralisch“ qualifizieren lassen, „da sie ein Abwägen von Wünschen und deren Legitimität, Normen und Konventionen, von Interessen und Möglichkeiten, von Individuum und Gemeinschaft“ (Pirker 2021, 9) erfordern. Zudem wachsen Kinder hierzulande in einer Welt auf, „die durch eine Pluralität von Einstellungen und Werthaltungen, von Lebensformen, sozialen Beziehungen, religiösen Überzeugungen und Praktiken“ (Hugoth 2012, 22) gekennzeichnet ist. Sie nehmen wahr, dass sich auch die Meinungen von ihnen nahen Erwachsenen über grundsätzliche Fragen des Lebens deutlich voneinander unterscheiden können, dass man also über ein- und dieselbe Sache unterschiedlich denken kann. Hier zeigt sich dann auch schon die zunehmende Relevanz von ethischmoralischer Bildung, sind doch Kinder in einem solchen Kontext schon recht bald herausgefordert, sich ihre eigenen Gedanken zu machen und sich ihre eigene Meinung zu bilden. Was soll ich tun? Wie will ich leben? Warum habe ich so gehandelt? Diese Grundfragen begleiten die menschliche Lebensführung schon seit jeher – verstärkt jedoch in spätmodernen Gesellschaften, denn die vielfältigen Gestaltungs-, Wahl- und Handlungsmöglichkeiten, die sich Menschen durch gesamtgesellschaftliche Prozesse wie z. B. den der Individualisierung (Beck, 1983) eröffnen, erfordern vom Individuum reflektierte Entscheidungen, die dann auch vor anderen zu verantworten sind. Parallel zur zunehmenden gesellschaftlichen Pluralisierung „verlieren Werte immer mehr ihren kulturellen Selbst-

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verständlichkeitscharakter und ihren religiös-metaphysisch begründeten Absolutheitsanspruch. Dagegen breitet sich die Auffassung aus, dass Werte geschichtlich entstanden, kontingent geprägt, kulturell relativ und somit auch veränderbar sind. [...] Während in traditionalen vormodernen Gesellschaften Werte als selbstverständliche, unterbewusst wirksame Leitvorstellungen stabil verankert waren, unterliegen sie in modernen, offenen, dynamischen Gesellschaften der rationalen Reflexion und einer zunehmenden individuellen Verfügbarkeit.“ (Hillmann 2009, 162)

I.2

Die sozial-moralische Entwicklung: Wie wir gut leben und richtig handeln lernen

Antworten auf die oben benannten ethisch-moralischen Fragen erwerben sich Menschen in einem längerfristigen Entwicklungsprozess, der früh in der Kindheit beginnt und sich über das gesamte Leben hinweg vollzieht: im Prozess der sozial-moralischen Entwicklung. „Dabei geht es im Grunde um das Hineinwachsen in das Regelwerk einer Gesellschaft, das kulturell geprägt und historischem Wandel unterworfen ist. Es dient dem Ziel, konstruktiv miteinander leben zu können. Dafür sind die Kenntnis und das Verständnis von Normen, ihre Vereinbarung und Einhaltung, der Umgang mit Konflikten, Helfen, die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen und mitfühlen zu können konstitutiv.“ (Kracke 2014, 163) Grundsätzlich resultiert die Entwicklung von stabilen Werthaltungen und -orientierungen aus einem komplexen Zusammenspiel von drei Komponenten; es geht um … „(1) die kognitiven Fähigkeiten, um zu erkennen, warum eine Handlung moralisch oder unmoralisch ist; (2) die emotionalen Fähigkeiten wie u. a. Empathie und Schuld; (3) die behaviorale Komponente, welche durch soziale Erfahrungen geprägt ist.“ (Schwyzer & Malti 2021, 24) Für moralisch kompetentes bzw. mündiges Verhalten lassen sich demnach empirisch folgende moralspezifische Einflussgrößen benennen: „moralisches Wissen (Kenntnis moralischer Werte und moralischer Begründungen, moralisches Bewusstsein, Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Selbsterkenntnis), auf andere bezogenes Fühlen (Empathie, Liebe zu allem Guten, Empfinden von Scham und Schuld) und Handlungsorientierung (Kompetenz, Wille, Gewohnheit).“ (Mauermann 2014, 285) Kinder erwerben sich diese moralischen Kompetenzen – wie eben Wissen, Denken und Argumentieren über Normen, moralische Gefühle und normgerechtes Verhalten – vor allem durch Sozialisations-

A.  1.1  Wieser: Wertebildung

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