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Helga Kohler-Spiegel

2.1

Gender im Religionsunterricht

Als Buben und Mädchen Religion entdecken

Helga Kohler-Spiegel

„Beim Lehrausgang zur Bergkirche hatten wir einen anspruchsvollen Weg zu bewältigen. Auch die Mädchen haben ihn gut gemeistert.“ „Überraschend war, wie aufmerksam die Jungen der Erzählung von Mose zugehört haben. Das hat sicher damit zu tun, dass es eine spannende Geschichte ist.“ Diese Aussagen von Lehrpersonen zeigen, dass die geschlechtsspezifische Wahrnehmung unbewusst abläuft sowie dass die damit verbundene Erwartung an das Verhalten der Schülerinnen und Schüler und die Bewertung dieses Verhaltens unbewusst sichtbar werden. Zugleich prägen diese Zuschreibungen auch die Schülerinnen und Schüler.

1 Persönliche Erfahrungen und biografische Reflexionen

Ich selbst komme aus der Generation der Frauenbewegung in den 70er und 80er Jahren. Wir fragten in Frauengruppen u. a. nach der erlebten Erziehung, der Beziehung zu den Eltern und nach der geschlechtsspezifischen Sozialisation in der Familie, in Schule und Kirche. Wir fragten nach Rollenbildern, nach Einschränkungen und Möglichkeiten. Die Chance auf Bildung war für uns teilweise gegeben, und dennoch wirkten die Geschlechterbilder, wenn es um den Erziehungsalltag mit eigenen Kindern oder um die Pflege alt werdender Eltern ging…

Mein persönlicher Zugang zum Thema soll eine Einladung sein, selbst zu überlegen: Wie wurde ich als Mädchen oder als Junge erzogen? Welche Rollenbilder wurden mir durch Religion und Glaube vermittelt? Und wie erlebe ich die Rollenbilder in der Schule, in der Kirche? Welche Erfahrungen mache ich als (Religions-)Lehrerin oder (Religions-)Lehrer mit Buben und Mädchen?

2 Vergewisserung: Geschlecht und Gender

2.1 Begrifflichkeiten

Lange Zeit galt Geschlecht als etwas Eindeutiges und von Geburt an Irreversibles; Verhaltensweisen und Verhaltensdeutungen werden vorbewusst von der Geschlechtszugehörigkeit bestimmt. Eine der ersten Fragen bei der Geburt ist bis heute: Ist es ein Bub oder ein Mädchen? Heute ist im Bewusstsein, dass Menschen neben dem biologischen Geschlecht („sex“) auch ein soziales Geschlecht („gender“) haben, das durch normative Zuschreibungen auf der Basis des biologischen Geschlechts bestimmt ist. Die Gebärfähigkeit von Frauen z. B. beinhaltet keine Festlegung auf Kindererziehung. Prägend ist, was die Gesellschaft aus dem biologischen Geschlecht macht. Gender ist also keine kausale Folge des biologischen Geschlechts, sondern solche Zuschreibungen werden konstruiert und im System der Zweigeschlechtlichkeit eingeordnet; es ist historisch gewachsen und sozial gelernt, was Männern und Frauen zugeschrieben wird.1

„Doing gender“ bedeutet, dass Geschlechterverhältnis und Geschlechterdifferenz, Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechtsidentität nicht festgeschrieben sind, sondern in Interaktionen immer wieder neu hergestellt, gemacht werden („doing“). Dies geschieht so unbemerkt, dass „Geschlecht“ als selbstverständlich und „natürlich“ erscheint. Kulturelle und historische Zuschreibungen sind für das Verständnis von Gender ebenso prägend wie sozial erwünschte Vorstellungen. Geschlecht ist eine „soziale Konstruktion“, aufgrund des wahrgenommenen Geschlechts entstehen Erwartungen an Aussehen, Verhalten und Interessen, und wir schreiben jeweils bestimmte kognitive, emotionale und motorische Fähigkeiten aufgrund des Geschlechts unbewusst zu, z. B. „Überraschend war, wie aufmerksam die Jungen der Erzählung zugehört haben.“ Oder: „Toll, wie leicht sich dieses Mädchen in Mathe tut.“ So lernen Jungen wie Mädchen, was wichtig ist, um sich dem eigenen Geschlecht zuzuordnen, sie lernen die Gesten und das Gehabe, die Körpersprache und den Tonfall des jeweiligen Geschlechts – und manche Kinder erleben, dass sie „anders“ sind, dass es schwierig ist für sie …

2.2 Geschlechterspezifische Sozialisation

Evtl. mögen Sie vorab ein Video anschauen: https://www.youtube.com/ watch?v=nCyP9nxw2s4, eine kurze Forschungssequenz zeigt, wie sich unser Spiel verändert, wenn wir meinen, mit einem männlichen oder weiblichen Baby zu spielen.

Geschlechterspezifische Sozialisation ist ein zentraler Faktor für die Entwicklung von Kindern. Marianne Grabrucker2 spricht von fünf Ebenen der Vermittlung geschlechtsspezifischen Verhaltens, auf fünf bzw. erweitert auf sechs Arten lernen wir unser jeweiliges Geschlecht: ■■ Die Ebene bewussten Vermittelns geschlechtsspezifischen Verhaltens: es wird ausdrücklich gemacht, was ein Mädchen tut und was es nicht tut (Mädchen pfeifen nicht, machen sich nicht schmutzig ...), was ein Junge tut und was nicht … ■■ die Ebene unbewussten Vermittelns geschlechtsspezifischen

Verhaltens: es findet eine subtile Auswahl von Geschichten, von

Geschenken für Mädchen statt; es ist unterschiedlich, wann ein

Mädchen oder wann ein Junge getröstet und wann gelobt wird. ■■ die Ebene der Imitation geschlechtsspezifischen Verhaltens: das

Mädchen ahmt Umgangsformen, Äußeres und Tätigkeiten der

Mutter nach, sie ahmt Frauen auf dem Spielplatz, im Supermarkt, im Fernsehen und in der Schule nach (z. B. sie schminkt sich wie die Mutter, versorgt eine Baby-Puppe wie die Mutter ein Baby),

Buben tun das mit verfügbaren männlichen Modellen … ■■ die Ebene der Klassifizierung weiblichen und männlichen Verhaltens: Verhalten wird gelernt, weil es von Erwachsenen und Gleich-

altrigen als männlich oder weiblich klassifiziert wird: „Du benimmst dich ja wie ein Bub“, „Pfui, du bist doch ein Mädchen“…, ■■ die Ebene der Identifikation: in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter nimmt die Tochter latente, nicht-reflektierte Gefühle der Mutter auf, z. B. die Geschlechtsrolle und den Selbstwert der

Mutter betreffend, im Sinne des Gleichseins, über Identifikation.

Konkret sind hier Fragen möglich wie z. B.: Ist meine Mama stolz darauf, eine Frau zu sein? Ist sie das gerne? Sieht das

Kind – egal ob ein Bub oder ein Mädchen – die Wertschätzung des (biologischen oder sozialen) Vaters gegenüber der Mutter?

Erleben Söhne wie Töchter, dass ihre Mama und andere Frauen wertgeschätzt werden?

Der letzte Aspekt wird oft übersehen: „Selbstsozialisation“ ermöglicht einem Kind, in seinem Geschlecht gesehen und erkannt zu werden – und sich zum eigenen (oder bevorzugten) Geschlecht zugehörig Wissen. Selbstsozialisation nimmt also das jeweils eigene oder das bevorzugte Geschlecht in den Blick. Das ist nicht einfach zu fassen, ich versuche es zu benennen: Ein Mädchen nimmt wahr, dass seine Mutter durch den Partner oder andere Familienmitglieder abgewertet wird. Dieses Mädchen kann sich mit seiner Mutter identifizieren und diese Abwertung des Weiblichen spüren und aufnehmen, oder es kann sich dem männlichen Geschlecht zuwenden und sich damit verbinden – aber auch so bleibt das eigene Weiblichsein abgewertet … Das klingt kompliziert, aber Sozialisationsprozesse sind hoch komplex. Hinzu kommt, dass diese Prozesse verknüpft sind mit allen sozialen, regionalen, kulturellen, religiösen u. a. Einflüssen.

3 Entwicklungsbezogene Aspekte – Kurze Blitzlichter

Neben den häufig bedachten Faktoren geschlechtsspezifischer Sozialisation sind auch entwicklungspsychologische Aspekte im Blick auf Gender für altersentsprechendes Arbeiten zu bedenken. Auch hier gilt es, sich von Biologismen zu lösen und „Geschlecht“, das meist als „natürlich“ erlebt wird, als sozial konstruiert zu verstehen. Ein paar Schlaglichter:

Mit ca. drei Jahren besitzen Kinder eine ausgeprägte Geschlechtsidentität, die sie auch nach außen verteidigen. Ihre Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit sind relativ umfassend und stark stereotyp, aber noch wenig mit Wertungen verbunden. Hilfreich ist nach heutigem Wissen, die Entwicklung im Blick auf die jeweiligen Kinder zu verstehen – Unterstützung gilt dann dem Lernschritt bzw. den Lernschritten, die beim Kind anstehen. Während manche Kinder Unterstützung im Eigenständig-Werden brauchen, ist bei anderen Kindern wichtig, die Emotionsregulierung zu begleiten (meist: wie lernt ein Kind, mit Zorn umzugehen). Während manche Kinder lernen, für sich einzustehen, müssen andere lernen, sich zurückzunehmen. Entwicklung bei Kindern zu begleiten heißt, auf die „Passung“ zu achten, was zu entwickeln wichtig und möglich ist. Aus Forschungen bekannt ist, dass klare Strukturen, Regeln und Rituale den Kindern zur Orientierung dienen und es Kindern Sicherheit gibt, wenn die erwachsene Person Regeln nicht nur einführt, sondern auch einfordert.

Im späteren Schulalter und in der Pubertät rückt das subjektive Körpergefühl in den Mittelpunkt des Interesses der Heranwachsenden. Unabhängig vom Geschlecht geht es darum, neu mit Nähe und Distanz experimentieren zu dürfen, Zuwendung zeigen zu können, ohne dass sie missbraucht wird. Cliquen und Freundschaften haben wichtige Stabilisierungsfunktion, sie geben emotionalen Halt im Klassenverband und schützen vor Diskriminierung. „Vieles zusammen machen“ stärkt das Selbstwertgefühl und hilft, die eigenen Gefühle und das Handeln miteinander abzusichern.

4 Theologisch-fachliche Grundlegung – in aller Kürze: Was ist der Mensch?

Wenn es um Geschlechterfragen geht, geht es um die Frage nach dem Menschen. Deshalb ein kurzer Blick auf die theologische Grundlegung.

Im Hymnus aus der Zeit des babylonischen Exils 586–538 und in mythischen Bildern sind am Beginn der Bibel Schöpfungstexte überliefert. Der Hymnus (Gen 1) besingt – in einer Zeit von Krieg und Chaos, Gewalt und Deportation – die Welt als geordnet und gut. Jedes Lebewesen hat darin seinen Platz, der Mensch ist nicht des Menschen Feind, sondern als Mann und Frau gemeinsam Bild, Abbild Gottes mit besonderer Verantwortung für die Lebewesen. Das Ziel der Schöpfung, dieses wunderbaren „Gartens“ Erde, ist der Schabbat, das genießende Ruhen, alle Lebewesen im Einklang mit allen – „Schalom“.

Für den Juden Jesus ist dieses Menschenbild der Tora klar, alle Menschen haben die Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen. Zugleich gilt die Zusage Gottes, geliebt, erwählt, begleitet zu sein. Diese Zusage Gottes ist im Namen Gottes sichtbar: JHWH – „Ich bin, der/die ich bin.“ (Ex 3,14) und: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid …“ (Ex 3,7). Präsenz und Zuwendung – und damit verbunden diese Zusage, etwas weniger Angst haben zu müssen in dieser Welt“.

Diese Zusage steht auch am Beginn und am Ende des Weges Jesu: Bei Jesu Geburt verkünden Engel die sichtbare Seite Gottes: „Friede den Menschen. Fürchtet euch nicht, habt keine Angst“; am Grab nach Jesu Tod verkünden Engel: „Fürchtet euch nicht, habt keine Angst“; die ersten Worte des Auferstandenen an die Jüngerinnen und Jünger lauten: „Friede den Menschen. Fürchtet euch nicht.“ Der Gott der Bibel verspricht den Menschen kein einfaches und unkompliziertes, auch kein leidfreies Leben, aber ein begleitetes Leben.

Damit ist klar: Es geht nicht um die Bewertung, wer „richtig“ und „falsch“ ist, wer dazugehört und wer nicht. Die Spaltung zwischen „ihr“ und „wir“, zwischen „rein“ und „unrein“, zwischen „Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Frau“ ist nach Gal 3, 28a aufgehoben. Jesu Botschaft, dass es keine Unterscheidung zwischen In-Group und Out-Group gibt, dass keine Grenzen zu ziehen sind zwischen „den Anderen“ und „uns“, war und ist eine Provokation, die die Ordnung dieser Welt verändert. So verlieren die Kategorien zur Einteilung von Menschen ihre Macht, dies gilt im religiösen Bereich („rein – unrein“, „Jude – Heide“), im gesellschaftlichen Bereich („Herr – Sklave“) und im Geschlechterbereich („Mann – Frau“). Genau dies scheint eine der großen Anziehungskräfte des jungen Christentums gewesen zu sein: Nicht Macht und Unterwer-

fung, sondern Begegnung und Miteinander – auch zwischen den Geschlechtern – sollen das Zusammenleben prägen.

5 Konkret: Macht Gender einen Unterschied? Schule als Erfahrungsraum

So ist – christlich gesehen – klar: Es ist ein Recht von Kindern, sich ohne Diskriminierung im Blick auf Geschlecht, Kultur, Religion sowie Stärken und Handicaps entwickeln zu dürfen. Es ist damit auch ein Recht von Kindern, als geschlechtliches Wesen und zugleich unabhängig von ihrem Geschlecht unterstützt zu werden.

5.1 Im Kontext von Schule…

Szene: Jungs in einer Pause sind in kleinere „Rauf-Kämpfe“ verwickelt. Die Intervention der Lehrperson weist darauf hin, dass sie einander nicht verletzen sollen, es gilt aber als akzeptiert, dass Jungs körperbezogene kleine Kämpfe brauchen. Wenn Mädchen in der Pause ähnlich körperbezogen raufen, wird dies schnell gestoppt durch Sätze wie: „Aber Mädchen raufen doch nicht …“

Auch im Kontext von Schule und Schulentwicklung prägen gesellschaftliche Bilder und Erwartungen die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, also auch geschlechtsbezogene Vorstellungen. Pädagogisches Handeln ist nie „neutral“, die pädagogischen Interventionen wurzeln immer wieder in gemeinsamen und persönlichen Werten und Bewertungen. So wurde z. B. Mitte der 90er Jahre Koedukation kritisch reflektiert. Zahlreiche Untersuchungen zeig(t)en, dass trotz höherer Leistungen der Mädchen beide Geschlechter die Leistung der Mädchen geringer einschätzten. Mädchen erbringen in reinen Mädchenklassen die besseren Leistungen, Buben in gemischten Klassen. Die Benachteiligung von Mädchen in der formal koedukativen Schule ist hinreichend bekannt, statt formaler Koedukation wurde über „bewusste Koedukation“ zur Lernförderung von Mädchen und Jungen nachgedacht. Insgesamt sind Schulen gefordert, alle schulbezogenen Themen wie z. B. das Schulsystem insgesamt, Schulkultur und Führungsaufgaben, Unterricht u.a. geschlechterbewusst weiterzuentwickeln.

Heute ist teilweise von der Benachteiligung der Jungs im Schulsystem die Rede. In der SZ vom 7.1.2013 heißt es: „Wenn Jungs sich in der Schule wie Jungs benehmen, gelten sie als verhaltensauffällig.“ Schule ist stark sprachorientiert, Sprache ist ein zentrales Werkzeug von Schule. Im Gymnasium ist die Sprachfähigkeit höher angesiedelt als die mathematischen Noten, wie Untersuchungen zeigen. Wer also in Deutsch mit Gut und in Mathe mit Befriedigend ins Gymnasium kommt, ist im Verlauf erfolgreicher als jemand, der in Deutsch mit Befriedigend und in Mathe mit Gut kommt. Außerdem betont Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), dass das eigentliche Problem die „Selbstüberschätzung der Jungen“ sei, die glaubten, sie müssten sich nicht anstrengen, um Erfolge zu haben. Schließlich sehen sie, dass die meisten Spitzenpositionen auch so von Männern besetzt sind. Fleiß gilt unter Jungs als uncool, bei Mädchen wird es positiv akzeptiert, weil Anstrengung und Fleiß als Haltungen bei Mädchen auch später sinnvoll sind. Haltungen werden geschlechterbezogen wahrgenommen und entwickelt, Heterogenität zwischen den Geschlechtern sowie innerhalb der Geschlechter erfordert eine „Pädagogik der Vielfalt“.

5.2 Zur Person der Lehrerin, des Lehrers

Unter Genderaspekten müssen auch die sogenannte „weibliche Prägung“ des Lehrberufs und die damit verbundenen Rollenmodelle bedacht werden, inklusive der häufig zumindest latenten Unterstellung, die Feminisierung von Schulen schade den Jungs. Dass dem nicht so ist, zeigen historische Daten: Buben hatten bereits durchschnittliche schlechtere Noten, als Schule von Männern dominiert war.

Das Handeln der Lehrperson hat Bedeutung, dies hat die „HattieStudie“ eindrücklich deutlich gemacht. Lehrpersonen arbeiten mit all ihren Kompetenzen und ihrer Persönlichkeit mit den Schülerinnen und Schülern, die wiederum ihre eigenen Erfahrungen mitbringen. Aufgrund dessen, dass pädagogisches Handeln ein Beziehungsgeschehen ist, müssen Lehrpersonen im Grundschulbereich immer ‚mal wieder z. B. einem Buben sagen: „Falls du zuhause mit deiner Mama so reden darfst – mit mir redest du nicht so.“ Lehrpersonen lösen Übertragungen aus – als Mann und als Frau, engagiert und/ oder mütterlich, väterlich, zugewandt und klar und Orientierung gebend… Heute wird fachlich zwischen spontanen Übertragungen und den klassischen „Übertragungen“ unterschieden, die Sigmund Freud „eine Verwechslung in der Zeit“ genannt hat. In der Schule spielen die spontanen Übertragungen eine wichtige Rolle, aber auch „Verwechslungen in der Zeit“ können vorkommen, indem Kinder mit Lehrpersonen so umgehen, wie sie es von Zuhause her kennen … Damit immer wieder umzugehen und es teilweise auch zu korrigieren, braucht Klarheit – und viel Kraft von den Lehrpersonen.

6 Exemplarische Konkretionen

Eine Geschichte: Gottes Erziehung

Ein Junge hatte Bonbons genascht, und sein Vater hatte sie erwischt. Da er ein sehr frommer Mann war und seine Kinder religiös erzogen hatte, verwickelte er seinen Sohn in folgendes Gespräch: „Aber Junge, weißt du denn nicht, dass der liebe Gott dich immer sieht und alles beobachtet, was du tust?“ „Sicher, Papa, das weiß ich.“ „Dann ist dir ja auch klar, dass er dich eben in der Küche gesehen hat!“ „Natürlich hat er mir zugesehen!“ „Und was hat er wohl gesagt, als er sehen musste, wie du genascht hast?“ „Nun, er hat gesagt: Meine Liebe, du und ich, wir sind gerade allein hier in der Küche: nimm ruhig zwei Bonbons!“ (Anonym überliefert)

Ist es gegendert, wenn ich diese Geschichte als Geschichte zwischen Sohn und Vater oder zwischen Tochter und Vater erzähle? Im Original spielt die Geschichte zwischen Mutter und Sohn? Ich denke, es ist manchmal gut, die Perspektive zu wechseln, auch wenn dies alleine keine Geschlechtergerechtigkeit herstellt.

6.1 Wahrnehmen – den Blick schärfen

Die eigene Wahrnehmung als Lehrperson zu schulen, ist sinnvoll. Diese Wahrnehmung wird geschult, wenn z. B. für ein paar Tage die Nachrichten unter dem Aspekt gehört werden, was die jeweilige Meldung für davon betroffene Frauen und Kinder bedeutet. Wahrnehmung wird geschult, indem die eigenen, manchmal auch

ambivalenten Bilder bzgl. Männern und Frauen sowie die eigenen Gottesbilder reflektiert werden. Wahrnehmung wird geschult, indem ich beobachten kann, wie sich die konkreten Jungen und Mädchen in der Klasse verhalten … Mit Kindern auf der Grundstufe 2 ist bereits möglich zu überlegen: Wäre etwas anders, wenn ich ein Bub, ein Mädchen wäre? Was müsste ich mehr tun, was weniger? Und warum eigentlich? Solche Rollen-Wechsel-Spiele dürfen auch Spaß machen … Wenn es um Beziehungen geht: Welche Erwartungen habe ich an einen Jungen, an ein Mädchen? Manchmal ist eine Ambivalenz in den eigenen Vorstellungen spürbar, dass Männer empathisch und stark und fürsorglich und durchsetzungsfähig sein sollen, und auch Frauen anhänglich und unabhängig und stark und sanft …

6.2 Exemplarische praktische Impulse

Biblische Erzählungen: Erzählen bleibt bedeutsam, mit Worten und mit Bildern, aus verschiedenen Perspektiven, dies kann dann mit Spielen und Malen und anderen Formen des Gestaltens vertieft werden. Bei der Auswahl der biblischen Erzählungen können Erzählungen aus verschiedenen Perspektiven genutzt werden, wie z. B. „Mirjam ist älter geworden und erzählt im Rückblick den Auszug aus Ägypten“. Lebensgeschichten und Gottesbegegnungen sind im Ersten und im Neuen Testament von Männern und Frauen überliefert, sprachlich kann bewusst gemacht werden, dass wir „Gott“ manchmal mit „er“ verbinden. Wir könnten auch „sie“ zu Gott sagen, um die Geschlechter-Zuordnung zu überschreiten.

Gottesbild: Es ist nicht überraschend, dass die Rede von Gott vielfältig sein darf und sein muss. Die Bilder, mit denen wir von Gott sprechen, sind ja „Platzhalter“ und „Türöffner“, um zu erahnen, wie vielfältig Menschen Gott erleben können. Die biblische Botschaft erinnert daran: der Name Gottes wird gefasst mit JWHW – „Ich bin da, als der/die ich da sein werde“. Glauben heißt, in Verbindung sein mit Gott, es ist – wie schon gesagt – kein leidfreies, aber ein „begleitetes Leben“. Dies fixiert die Rede von Gott nicht auf den männlichen oder weiblichen Artikel, sondern öffnet den Blick auf die Erfahrung, immer wieder begleitet zu sein – in schönen Situationen, in schweren Situationen, in Freude und in Angst …

Role models: Jungen und Mädchen entwickeln durch attraktive, lebensnahe Vorbilder und Modelle stärkeres Vertrauen in ihre Fähigkeiten, sind selbstbewusster und treten klarer für ihre eigenen Wünsche ein. Beim religiösen Lernen haben neben den biblischen Erzählungen auch Geschichten von besonderen Menschen in der Umgebung sowie Legenden von Heiligen Platz. Forschungen zeigen, dass die nahen Bezugspersonen (Eltern, Geschwister, Großeltern, Lehrpersonen, Trainer …) als Vorbilder besonders wichtig sind.

Sprache: Natürlich ist Sprache wichtig. Mit der Sprache bilden wir Realität ab. So gibt es z. B. Ärztinnen und Ärzte und Fussballspielerinnen und Fussballspieler, ebenso wie Männer und Frauen, die auf Jesus hören und so zu leben versuchen, es gibt Männer und Frauen, die gut zuhören können, u. v. m. – das bewusste Benennen schärft immer wieder auch die Wahrnehmung.

7 Ein kurzer Schluss

Religionslehrpersonen werden weiterhin Kindern und Jugendlichen Religion und Glaube nahebringen und zur Verfügung stellen, damit sie in diesen Themen Erfahrungen sammeln und lernen können. Und das ist gut so. Religionslehrpersonen werden weiterhin ringen um ein positives Lernklima und um diszipliniertes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen. Und das ist gut so. Sie werden Mädchen und Jungen begleiten und unterstützen, damit sie sich gemäß ihren individuellen Fähigkeiten gut entwickeln können – mit all ihrem Potenzial, das sie haben.

Zugleich: Wichtig sind beim Thema Gender das Bewusstsein und die Bereitschaft der Lehrperson, immer wieder neu auf die Schülerinnen und Schüler hinzuschauen, sie als Individuen in ihrer Unterschiedlichkeit zu sehen und ihre Entwicklung zu unterstützen. „Gender“ will letztlich ermöglichen, dass „Geschlecht“ Teil des Verschiedenseins ist – unter Frauen und unter Männern und zwischen Frauen und Männern und in allen weiteren Ausprägungen, die Menschen so vielfältig und bunt machen.

Anmerkungen

1 Helga Kohler-Spiegel, „Doing Gender“ lernen. Geschlechtergerechte Bildung im Religionsunterricht. In ZPT Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, Themenheft „Gender“, Band 72/ 2020, H. 1, 66–78. 2 Marianne Grabrucker, „Typisch Mädchen...“ Prägung in den ersten drei

Lebensjahren. Ein Tagebuch, Frankfurt a. M. 1985. 3 Helga Kohler-Spiegel, „Seid also vollkommen …“ (Mt 5, 48). Was dem

Menschen möglich ist. In Elmar Mitterstieler (Hrsg.), Gottes andere Wange.

Zumutung und Erlösung. Echter Verlag Würzburg 2021, 150–157. 4 Marcel Helbig, in: SZ vom 7.1.2013, zit. nach http://www.sueddeutsche.de/ bildung/unterschiede-beim-lernen-wieso-jungen-schlechtere-noten-bekommen-1.1566498, Zugriff: 1. März 2015. 5 John Hattie hat mit Hilfe eines statistischen Verfahrens auf 815 Metaanalysen zurückgegriffen, denen über 50.000 Studien zugrunde liegen. Daraus stellt er 138 Einflussfaktoren auf die Frage „What works best?“ dar, die meisten

Einflussfaktoren betreffen den Unterricht, aber auch Elternhaus, Lernende,

Schule, Curriculum und Lehrende. Hattie ist vor allem an der Wirksamkeit von

Unterricht interessiert, für ihn ist es nicht einfach die Lehrperson, die zählt, sondern das Lehrerhandeln rückt in den Blick.