MEIN STANDPUNKT
Demut Sie ist die Tugend, die aus dem Bewusstsein unendlichen Zurückbleibens hinter der erstrebten Vollkommenheit hervorgehen kann. Sie ist im christlichen Kontext als Haltung des Geschöpfes gegenüber dem Schöpfer zu verstehen. Sie soll im Althochdeutschen aus den Worten „dienen“ und „Mut“ entstanden sein. Und sie ist im deutschen politischen Diskurs unserer Tage leider völlig verloren gegangen – die Demut. Da wird einer Bundesregierung, die sich selbst ganz unbescheiden als „Fortschrittskoalition“ preist, vom höchsten deutschen Gericht die Verfassungswidrigkeit ihres Haushalts bescheinigt, wegen trickreicher Verschiebung vieler Milliarden vom einen ins andere Schuldenbuchungsjahr – und niemand zeigt Demut, hat also den Mut, Verantwortung für den schweren Fehler im Dienst an Bürger und Staat zu übernehmen. Der Bundeskanzler nicht, der die Trickserei noch in seiner früheren Funktion als Bundesfinanzminister ersonnen haben soll, in einer Regierungserklärung zu dem Haushaltsdebakel aber nichts erklärt und nichts entschuldigt. Der aktuelle Bundesfinanzminister nicht, der nach dem Urteil in einem gerade einminütigen Statement mitteilt, dass es vorerst bei der Notlagenbewirtschaftung des Bundeshaushalts bleibe, Nachfragen unerwünscht. Und der Bundeswirtschaftsminister nicht, der der Industrie großzügige Mittel zur nachhaltigen Transformation versprochen hat, die nun dank illegaler Finanzierung zumindest vorerst nicht fließen, was der Amtsinhaber den obersten Richterinnen und Richtern in klagendem Ton indirekt zum Vorwurf macht. Statt Demut allerorten eine befremdliche Mischung aus Selbstgerechtigkeit und beleidigtem Tonfall, statt Fehlereinsicht folgt der höchstrichterlichen Klatsche im Handumdrehen der politische Versuch, neue Schlupflöcher für neue Schuldenmilliarden zu finden. Kein Wunder, dass den Spitzen dieser „Fortschrittskoalition“ nach Umfragen nahezu zwei Drittel der Steuer- und Stimmbürger nicht mehr über den Weg trauen. Keine Überraschung, dass die Politikverdrossenheit weiter wächst, genau wie die Zustimmungswerte für Parteien an den politischen Rändern. Und leider keine Konjunktur für die Tugend, die aus dem Bewusstsein unendlichen Zurückbleibens hinter der erstrebten Vollkommenheit hervorgehen sollte.
Alexander Luckow, „Standpunkte“Chefredakteur
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NORDMETALL Standpunkte
4 / 2023