marie 71/ Mai 2022

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INTERVIEW

#71 | Mai 2022

Die Kompetenz der Babys, schwierige Situationen zu verarbeiten, wird allgemein unterschätzt. Was sie dazu brauchen, sind in erster Linie Eltern, die gut mit sich selbst in Kontakt, innerlich ruhig sind.

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Das bedeutet in dem Fall auch, dass Babys schon im Mutterleib traumatisiert werden können? Ja definitiv. Die Pränatalpsychologie, also jener Teil der Entwicklungspsychologie, der sich mit den Prägungen dieser frühen Lebenszeit vor der Geburt und deren Auswirkungen beschäftigt, weist schon lange darauf hin.

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Die Wolfurterin Birgit Kalb (57) ist Craniosacral- und Traumatherapeutin und hat sich auf frühkindliche Traumata spezialisiert. In ihrer Praxis betreut sie Babys und deren Eltern. Aber auch die Weitergabe von traumatischen Erlebnissen auf nachfolgende Generationen ist ein Gebiet, in dem sich die Expertin auskennt. Im Gespräch mit der marie erklärt sie ihre therapeutische Arbeit und spricht über mögliche Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf Menschen in Vorarlberg. Interview: Brigitta Soraperra und Simone Fürnschuß-Hofer Fotos: Jasmine Kalb, iStock, alamy

„TRAUMAHEILUNG BRAUCHT ZEIT – UND WAHRHEIT“ Sie sagen, eine frühkindliche Traumatisierung wirkt schwerer als ein Trauma, das der erwachsene Mensch erlebt. Warum ist das so? Das Baby hat keine Möglichkeit, nicht einmal theoretisch, sich vor der Traumatisierung zu schützen oder Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es ist absolut darauf angewiesen, dass die Eltern oder die Fachpersonen seine Not erkennen und ihm helfen. Es gibt noch keine Sprache, um das Erlebte auszudrücken. Im Unterschied zu einem Erwachsenen gibt es nicht die Möglichkeit, sich bewusst an das Ereignis zu erinnern, weil die dafür notwendige Gehirnstruktur noch gar nicht entwickelt ist. Das könnte aber doch auch bedeuten, dass es sich nie mehr daran erinnert? Die einschneidende Erfahrung bleibt in jedem Fall in unserem Nervensystem gespeichert und läuft, vor allem unverarbeitet, wie eine „externe Festplatte“ unbewusst mit. Sie bestimmt später in unserem Leben – besonders in Stresssituationen – unsere Gefühle und unser Handeln. Man nennt das Stressimprint, also eine Art Prägung, die später zu körperlichen oder psychischen Erkrankungen führen kann. Auch die Bindung zwischen Eltern und Kindern kann sie stören oder gar verunmöglichen. Für das Baby bedeutet das den Verlust von Sicherheit und Geborgenheit, nicht selten reagiert es dann beispielsweise mit Schlafstörungen oder lässt sich kaum beruhigen.

Wie arbeiten Sie mit Babys, wie mit deren Eltern, wenn sie zu Ihnen in die Praxis kommen? Mittels Verlangsamung. Ich versuche, viel Zeit einzuräumen und als erstes eine gute Basis des Vertrauens und der Sicherheit zu schaffen. Die Kompetenz der Babys, schwierige Situationen zu verarbeiten, wird allgemein unterschätzt. Was sie dazu brauchen, sind in erster Linie Eltern, die gut mit sich selbst in Kontakt, innerlich ruhig sind. Sind Eltern selbst traumatisiert, etwa durch die Geburt des Kindes oder durch andere Ereignisse in ihrem Leben, wird das Weinen des Kindes ihre eigenen Traumaerfahrungen reaktivieren. Ein bedeutendes Werkzeug in der Arbeit mit den Eltern ist die Atmung in den Bauchraum. Nach einer ersten Beruhigung gebe ich ich den Eltern und dem Baby Raum, das Erlebte zu erzählen. Babys erzählen? Absolut. Nicht mit Sprache, aber mit Emotionen. Es kommt immer wieder vor, dass das Baby zunächst schläft und dann, wenn die Eltern ihre Erlebnisse erzählen, genau an dem Punkt zu weinen beginnt, wo es auch für das Baby schwierig war. Das ist sehr berührend. Die Eltern müssen spüren, dass sie alles erzählen dürfen, denn Traumaheilung braucht Wahrheit. Wenn dann bei ihnen Stress aktiviert wird, achte ich darauf, dass sie immer wieder in die Ruhe kommen, also eine Pendelbewegung im Nervensystem entsteht. Sie sagen, das Trauma bewirkt eine Erstarrung im Nervensystem. Wie wirkt sich das körperlich aus? Bei den Babys zeigt sich das, wie gesagt, als Schlafstörungen, Koliken, Saugprobleme oder innere Unruhezustände. Bei Erwachsenen kann es mit Panikattacken verbunden sein, die sich in Herzrasen, Bluthochdruck, Schwindel und Alpträumen zeigen. Auch Taubheit und Gefühllosigkeit – sowohl real körperlich wie emotional – sind Auswirkungen, ebenso wie deren Gegenteil: Schreckhaftigkeit und Reizbarkeit. Bei den Betroffenen

geht es darum, Erinnerungslücken zu schließen, um wieder Anschluss an die eigenen Gefühle zu bekommen. Trauma kann wie ein Filmriss empfunden werden. Die Craniosacral-Therapie ist hier eine hilfreiche Methode, die, vereinfacht gesagt, die Fixierung im Organismus zu lösen hilft und Anbindung nach Innen zulässt. Auf der emotionalen Ebene bedeutet das, dass sich Gefühle wie Hilflosigkeit und Ohnmacht wieder in ein „Ich kann…“ verwandeln. Ist es wichtig, ursächliche Situationen in der Therapie noch einmal zu durchleben oder wäre Verdrängen auch eine Möglichkeit, um diese Erlebnisse „verarbeiten“ zu können? Es ist eine veraltete Vorstellung von Traumatherapie, dass es zwingend notwendig ist, das Erfahrene noch einmal zu durchleben. In vielen Therapieformen ist ein inhaltsfreies Arbeiten möglich, das heißt, es braucht nicht zwingend die Rekonstruktion des Ereignisses, was zum Beispiel bei sexuellem Missbrauch sehr unterstützend sein kann. Meine Erfahrung ist, dass, sobald ein traumatisierter Mensch wieder Boden unter den Füßen spürt, die Wahrheit sozusagen aus ihm heraus auf den Tisch kommt. Verdrängen ist eine gute Strategie, die vor allem auch sinnvoll ist, wenn der erlebte Schrecken noch sehr zeitnah ist. Ein Verarbeiten wird allerdings verhindert.

Einen Schwerpunkt Ihrer Arbeit bildet auch die transgenerationale Vererbung von Traumata und die Beschäftigung mit der sogenannten Kriegskindergeneration, also den im Zweiten Weltkrieg Geborenen. Was genau ist damit gemeint? Auf diese Frage könnte man jetzt als Antwort ein ganzes Buch schreiben. Ich versuche es kürzer. Sobald wir mit unserer Zeugung in Beziehung mit dieser Welt treten, vermischt sich das Eigene mit dem Fremden, beginnt Prägung – und schon davor. Die Eizelle, aus der wir entstehen, entwickelt sich bereits in der Embryonalzeit unserer Mutter, während sie also im Körper ihrer Mutter, unserer Oma, ist. Diese Zelle ist mit der umgebenden Atmosphäre verknüpft, nimmt also auch auf, was die Oma zu dieser Zeit erlebt und verbindet sich mit ihrer Geschichte. Wenn sie also – wie unsere Großeltern damals – in einer Kriegssituation ist und etwa großen Ängsten ausgesetzt ist, überträgt sich dieses Gefühl auf das Kind, egal ob noch im Mutterbauch oder als >>

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