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Zu Besuch im Ölparadies

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Die Wolfurterin Birgit Kalb (57) ist Craniosacral- und Traumatherapeutin und hat sich auf frühkindliche Traumata spezialisiert. In ihrer Praxis betreut sie Babys und deren Eltern. Aber auch die Weitergabe von traumatischen Erlebnissen auf nachfolgende Generationen ist ein Gebiet, in dem sich die Expertin auskennt. Im Gespräch mit der marie erklärt sie ihre therapeutische Arbeit und spricht über mögliche Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf Menschen in Vorarlberg.

Interview: Brigitta Soraperra und Simone Fürnschuß-Hofer Fotos: Jasmine Kalb, iStock, alamy

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„TRAUMAHEILUNG BRAUCHT ZEIT – UND WAHRHEIT“

Sie sagen, eine frühkindliche Traumatisierung wirkt schwerer als ein Trauma, das der erwachsene Mensch erlebt. Warum ist das so? Das Baby hat keine Möglichkeit, nicht einmal theoretisch, sich vor der Traumatisierung zu schützen oder Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es ist absolut darauf angewiesen, dass die Eltern oder die Fachpersonen seine Not erkennen und ihm helfen. Es gibt noch keine Sprache, um das Erlebte auszudrücken. Im Unterschied zu einem Erwachsenen gibt es nicht die Möglichkeit, sich bewusst an das Ereignis zu erinnern, weil die dafür notwendige Gehirnstruktur noch gar nicht entwickelt ist.

Das könnte aber doch auch bedeuten, dass es sich nie mehr daran erinnert? Die einschneidende Erfahrung bleibt in jedem Fall in unserem Nervensystem gespeichert und läuft, vor allem unverarbeitet, wie eine „externe Festplatte“ unbewusst mit. Sie bestimmt später in unserem Leben – besonders in Stresssituationen – unsere Gefühle und unser Handeln. Man nennt das Stressimprint, also eine Art Prägung, die später zu körperlichen oder psychischen Erkrankungen führen kann. Auch die Bindung zwischen Eltern und Kindern kann sie stören oder gar verunmöglichen. Für das Baby bedeutet das den Verlust von Sicherheit und Geborgenheit, nicht selten reagiert es dann beispielsweise mit Schlafstörungen oder lässt sich kaum beruhigen. Die Kompetenz der Babys, schwierige Situationen zu verarbeiten, wird allgemein unterschätzt. Was sie » dazu brauchen, sind in erster Linie Eltern, die gut mit sich selbst in Kontakt, innerlich ruhig sind.

Das bedeutet in dem Fall auch, dass Babys schon im Mutterleib traumatisiert werden können? Ja definitiv. Die Pränatalpsychologie, also jener Teil der Entwicklungspsychologie, der sich mit den Prägungen dieser frühen Lebenszeit vor der Geburt und deren Auswirkungen beschäftigt, weist schon lange darauf hin.

Wie arbeiten Sie mit Babys, wie mit deren Eltern, wenn sie zu Ihnen in die Praxis kommen? Mittels Verlangsamung. Ich versuche, viel Zeit einzuräumen und als erstes eine gute Basis des Vertrauens und der Sicherheit zu schaffen. Die Kompetenz der Babys, schwierige Situationen zu verarbeiten, wird allgemein unterschätzt. Was sie dazu brauchen, sind in erster Linie Eltern, die gut mit sich selbst in Kontakt, innerlich ruhig sind. Sind Eltern selbst traumatisiert, etwa durch die Geburt des Kindes oder durch andere Ereignisse in ihrem Leben, wird das Weinen des Kindes ihre eigenen Traumaerfahrungen reaktivieren. Ein bedeutendes Werkzeug in der Arbeit mit den Eltern ist die Atmung in den Bauchraum. Nach einer ersten Beruhigung gebe ich ich den Eltern und dem Baby Raum, das Erlebte zu erzählen.

Babys erzählen? Absolut. Nicht mit Sprache, aber mit Emotionen. Es kommt immer wieder vor, dass das Baby zunächst schläft und dann, wenn die Eltern ihre Erlebnisse erzählen, genau an dem Punkt zu weinen beginnt, wo es auch für das Baby schwierig war. Das ist sehr berührend. Die Eltern müssen spüren, dass sie alles erzählen dürfen, denn Traumaheilung braucht Wahrheit. Wenn dann bei ihnen Stress aktiviert wird, achte ich darauf, dass sie immer wieder in die Ruhe kommen, also eine Pendelbewegung im Nervensystem entsteht.

Sie sagen, das Trauma bewirkt eine Erstarrung im Nervensystem. Wie wirkt sich das körperlich aus? Bei den Babys zeigt sich das, wie gesagt, als Schlafstörungen, Koliken, Saugprobleme oder innere Unruhezustände. Bei Erwachsenen kann es mit Panikattacken verbunden sein, die sich in Herzrasen, Bluthochdruck, Schwindel und Alpträumen zeigen. Auch Taubheit und Gefühllosigkeit – sowohl real körperlich wie emotional – sind Auswirkungen, ebenso wie deren Gegenteil: Schreckhaftigkeit und Reizbarkeit. Bei den Betroffenen geht es darum, Erinnerungslücken zu schließen, um wieder Anschluss an die eigenen Gefühle zu bekommen. Trauma kann wie ein Filmriss empfunden werden. Die Craniosacral-Therapie ist hier eine hilfreiche Methode, die, vereinfacht gesagt, die Fixierung im Organismus zu lösen hilft und Anbindung nach Innen zulässt. Auf der emotionalen Ebene bedeutet das, dass sich Gefühle wie Hilflosigkeit und Ohnmacht wieder in ein „Ich kann…“ verwandeln. INTERVIEWIst es wichtig, ursächliche Situationen in der Therapie noch einmal zu durchleben oder wäre Verdrängen auch eine Möglichkeit, um diese Erlebnisse „verarbeiten“ zu können? Es ist eine veraltete Vorstellung von Traumatherapie, dass es zwingend notwendig ist, das Erfahrene noch einmal zu durchleben. In vielen Therapieformen ist ein inhaltsfreies Arbeiten möglich, das heißt, es braucht nicht zwingend die Rekonstruktion des Ereignisses, was zum Beispiel bei sexuellem Missbrauch sehr unterstützend sein kann. Meine Erfahrung ist, dass, sobald ein traumatisierter Mensch wieder Boden unter den Füßen spürt, die Wahrheit sozusagen aus ihm heraus auf den Tisch kommt. Verdrängen ist eine gute Strategie, die vor allem auch sinnvoll ist, wenn der erlebte Schrecken noch sehr zeitnah ist. Ein Verarbeiten wird allerdings verhindert. Einen Schwerpunkt Ihrer Arbeit bildet auch die transgenerationale Vererbung von Traumata und die Beschäftigung mit der sogenannten Kriegskindergeneration, also den im Zweiten Weltkrieg Geborenen. Was genau ist damit gemeint? Auf diese Frage könnte man jetzt als Antwort ein ganzes Buch schreiben. Ich versuche es kürzer. Sobald wir mit unserer Zeugung in Beziehung mit dieser Welt treten, vermischt sich das Eigene mit dem Fremden, beginnt Prägung – und schon davor. Die Eizelle, aus der wir entstehen, entwickelt sich bereits in der Embryonalzeit unserer Mutter, während sie also im Körper ihrer Mutter, unserer Oma, ist. Diese Zelle ist mit der umgebenden Atmosphäre verknüpft, nimmt also auch auf, was die Oma zu dieser Zeit erlebt und verbindet sich mit ihrer Geschichte. Wenn sie also – wie unsere Großeltern damals – in einer Kriegssituation ist und etwa großen Ängsten ausgesetzt ist, überträgt sich dieses Gefühl auf das Kind, egal ob noch im Mutterbauch oder als >>

Kleinkind. Als erwachsene Person oder auch schon davor, können dann bei diesem Menschen Ängste auftauchen, die scheinbar irrational sind und nicht zu selbst Erlebtem zugeordnet werden können.

Das heißt, ein Kriegstrauma wird gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen? Ja, in etwa. Selbst wenn eine traumatische Erfahrung der Eltern schon lange zurückliegt, ist das Kind in der Beziehung mit den Eltern mit der Auswirkung dieser Erfahrung auf ihr « Fühlen, Denken und Handeln konfrontiert. Das beeinflusst in jedem Fall die körperliche und psychische Entwicklung des Kindes. Als wir bei uns zum letzten Mal Krieg hatten, glaubte man noch, dass ein Kind sich ohnedies an nichts mehr aus der frühen Zeit erinnert und es deshalb keine Auswirkung auf sein Leben hat.

Ganz abgesehen von nationalsozialistischer Erziehungsdoktrin ... Die sich auch auf den Umgang mit dem Säugling auswirkte, ganz genau. Dabei ging es darum, den Willen des Kindes von Anbeginn an zu brechen. Mit dem Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer kam ein Erziehungs- und Pflegeratgeber in tausende Haushalte in Deutschland und Österreich, der aus heutiger Sicht eine Anleitung zu schwersten Bindungsverletzungen darstellt. Das lässt Rückschlüsse auf das Ausmaß von Trauma in unsere Gesellschaft zu.

Heißt das, dass für die Generationen unserer Eltern und Großeltern angesichts der schrecklichen Bilder aus der Ukraine gerade eine Art Retraumatisierung stattfindet? Ich würde eher sagen, dass ihre eigenen Erfahrungen und die damit verbundenen Gefühle reaktiviert werden können und das kann sich sehr real anfühlen. Besonders aus der Generation der Kriegskinder gibt es nicht viele Menschen, die ihre traumatischen Erlebnisse aktiv und mit Unterstützung aufgearbeitet haben. Das sind emotionale Minenfelder, die natürlich aufbrechen können. Die Craniosacral-Therapie ist eine hilfreiche Methode, » die, vereinfacht gesagt, die Fixierung im Organismus zu lösen hilft und Anbindung nach Innen zulässt.

Was können diese Generationen in der aktuellen Situation konkret tun? Wie können sie sich schützen? Jede Krise ist tatsächlich auch immer eine Chance. Es kann sehr gut sein, dass gerade diese Situation den Menschen hilft, über ihr Erlebtes und ihre Gefühle zu sprechen. Das ist einfacher, wenn eine, in diesem Fall große zeitliche Distanz zum eigenen Traumaerlebnis da ist. Darüber reden wäre sehr wichtig. Ich lade nachfolgende Generationen auch aktiv dazu ein, ihre Eltern oder Großeltern zu fragen. Wichtig ist echtes Interesse und Mitgefühl. Um alte, durch Erfahrung entstandene unterbewusste Programme zu stoppen, ist es hilfreich, mit unserem Verstand einen Faktencheck zu machen und uns auf das „Hier und Jetzt“ zu beziehen und uns bewusst zu machen, dass wir in Österreich, zumindest was die direkten Kriegshandlungen betrifft, sicher sind. Kommen wir noch zum Begriff der „Kriegsenkel“. Wie lässt es sich neurobiologisch erklären, dass durch Kriegssituationen ausgelöste Gefühle gar über zwei Generationen hinweg vererbt werden? Zum einen beobachtet die Verhaltensforschung, wie wir durch die Spiegelneuronen Verhaltensweisen unserer Eltern kopieren. So kann zum Beispiel ein ängstliches, vermeidendes Verhalten eines Elternteils von den Kindern übernommen werden, obwohl sich diese in sicheren Verhältnissen befinden. Des Weiteren befasst sich das Forschungsgebiet der Epigenetik mit der Entwicklung eines Lebewesens ausgehend von den Wechselwirkungen zwischen Umwelteinflüssen und Genen. So wie ich es bereits mit dem Beispiel der Eizelle der Mutter im Körper der Oma erklärt habe. Es werden also nicht nur Aussehen und Eigenschaften, sondern auch Emotionen weitervererbt. Inzwischen wissen wir, dass wir Programme aktiv verändern können, zum Beispiel durch Therapie, durch Bewusstwerden und Korrektur von negativem Verhalten etc. Wir können also zwar nichts dafür, dass sich ein Programm installiert, aber nur wir selbst können nicht mehr sinnvolle, manchmal sogar zutiefst destruktive Programme verändern.

Wie können wir, die Kriegsenkelgeneration, mit dem Krieg in der Ukraine umgehen? Denn auch wir nehmen eine große innere Empörung, aber auch eine Lähmung und Hilflosigkeit wahr. Wir sollten Verantwortung übernehmen, wo wir Verantwortung übernehmen können und gleichzeitig akzeptieren, dass Gefühle, wie Sie sie beschreiben, auch passend sind zu der Situation. Es ist wichtig, dass wir lernen, mit diesen negativen Gefühlen zu sein, diese zuzulassen und zu regulieren. Es nützt den Menschen in der Ukraine gar nichts, wenn wir in Hilflosigkeit erstarren. Darüber hinaus plädiere ich dafür, dass wir uns ehrlich mit dem Kern der Opfer-Täter Dynamik auseinandersetzen. Immerhin haben unsere Vorfahren im Zweiten Weltkrieg einen ebenso aggressiven Angriffskrieg auf Polen ausgeübt. Wir sollten uns mit dem Opfer in uns auseinandersetzen, damit wir nicht Gefahr laufen, bei dem Gefühl von Machtverlust in die Täterebene zu wechseln.

Vielen Dank für das Gespräch!

Infobox Mit frühkindlichen Traumata sind Traumatisierungen gemeint, die im vorgeburtlichen Zeitraum, aber auch während der Geburt oder in der vulnerablen Zeit des Anpassens nach der Geburt bis etwa zum dritten Lebensjahr geschehen. Ein Baby kann etwa bei einer Kaiserschnittgeburt mit einem Verlust der Orientierung konfrontiert sein, ähnlich wie ein Mensch, der bei einem Autounfall ein Schleudertrauma erlebt hat. Oder es wirken enorme Kräfte auf das Baby ein, wenn die Wehentätigkeit sehr stark ist, aber der Muttermund sich nicht entsprechend öffnet. Im vorgeburtlichen Bereich können invasive Interventionen wie beispielsweise eine Fruchtwasserpunktion ein Trauma verursachen. Genauso wie körperlicher oder seelischer Stress der Mutter oder Rauchen und Drogenkonsum während der Schwangerschaft. In dieser symbiotischen Phase der Mutter-Kind-Beziehung wirkt sich alles, was die Mutter erfährt, auch auf das Kind aus und umgekehrt.

Literaturhinweise Thomas Harms: Keine Angst vor Babytränen. Wie Sie durch Achtsamkeit das Weinen Ihres Babys sicher begleiten. Gießen 2018 Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart 2014 (20. Aufl.) sowie: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart 2013 (10. Aufl.) Ingrid Meyer-Legrand: Die Kraft der Kriegsenkel. Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erbe erkennen und nutzen. München 2021 Kontakt/Infos: www.birgitkalb.at

Impressum

Grundlegende Richtung

Die Straßenzeitung marie versteht sich als Sprachrohr für die Anliegen von Randgruppen unserer Gesellschaft. marie ist ein Angebot zur Selbsthilfe für Menschen an oder unter der Armutsgrenze, die ihren Lebensmittelpunkt in Vorarlberg haben. Ziel ist die Förderung des Miteinanders von Menschen am Rande der Gesellschaft und der Mehrheitsgesellschaft. Die Hälfte des Verkaufspreises von 2,80 Euro verbleibt den Verkäufern. marie ist ein parteiunabhängiges, soziales und nicht auf Gewinn ausgerichtetes Projekt.

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marie – Die Vorarlberger Straßenzeitung, Graf-Maximilian-Straße 18, 6845 Hohenems, Telefon: 0677 61538640, eMail: redaktion@marie-strassenzeitung.at, Internet: www.marie-strassenzeitung.at Redaktion: Frank Andres, Simone Fürnschuß-Hofer MitarbeiterInnen dieser Ausgabe: Eckart Drössler, Daniela Egger, Daniel Furxer, Guntram Gärtner, Christine Mennel, Daniel Mutschlechner, Pia Pichler, Hans Platzgumer, Petra Rainer, Brigitta Soraperra, Gerhard Thoma

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Druck: Russmedia Verlag GmbH, Schwarzach

Auflage: 15.000 Exemplare, Erscheinungsweise monatlich

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