marie 68/ Februar 2022

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Miserable Tänzer und völlig unmusikalisch Die Vorarlberger sind miserable Tänzer und haben keine Ahnung von Musik. Dieses niederschmetternde Urteil fällte die „Gesellschaft der Musikfreunde Österreichs“ in Wien, nachdem sie die Tanzkünste vom Bregenzerwald bis ins Montafon unter die Lupe nahm. Doch im Geheimen trieben es die „Gsiberger“ ziemlich bunt. Text: Gerhard Thoma, Fotos: Archiv

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an könnte sogar sagen: Die Wiener wurden „an der Nase herumgeführt“. Es begann im Jahre 1819, als Josef von Sonnleithner von den „Musikfreunden“ eine wissenschaftliche Sammlung über Volkstänze und Volksmusik in der Monarchie anlegen wollte. In Vorarlberg sollten die Landrichter Auskunft geben – und das taten sie auch. Aus Bludenz kam die Meldung, „dass in keiner Gemeinde des Gerichtsbezirkes Nationaltänze aufgespielt noch Lieder oder Melodien gesungen werden.“ Nur „linke Füße" und totale musikalische Versager vermeldete auch der Schrunser Landrichter: „In keiner Gegend dürfte wohl weniger Neigung für die Tanzkunst unter dem Volke herrschen, als gerade in diesem Amtsbezirke. Außer den Schullehrern, welche zugleich Organisten sind, versteht niemand etwas von Musik.“ Ein wüstes Gehopse gab es auch im Raum Bregenz: „Ebensowenig werden bei besonderen Feierlichkeiten oder andern Gelegenheiten Nationaltänze, sondern in der Stadt werden die Walzer nach 3/8 Takt und auf dem Land auch die so genannten Hopser nach 2/4 Takt getanzt, welch letztere nicht regelmäßig sind, sondern jeder, der diesen Tanz aussucht, macht willkürlich und nach seinem Gefallen die Bewegung. Melodien zu Nationaltänzen sind keine bekannt und die Tanzspielenden in der

Stadt beschränken sich auf keine besonderen Melodien.“ Ebenso in Dornbirn: „Die gewöhnlichen Tänze, die im Lande getanzt werden, sind originelle Schweizer Tänze oder aus dem benachbarten Allgäu und haben durchaus keine besondere Auszeichnung.“ Trotzdem sind die Rückmeldungen der Landrichter wichtig für die Vorarlberger Musikgeschichte, wie Dr. Annemarie Bösch-Niederer, Leiterin des Musikarchivs im Vorarlberger Landesarchiv, erklärt: „Die zur Sammlung aufgeforderten Beamten legten diesen Schreiben Notenmaterial bei, welches heute im Archiv der Gesellschaft für Musikfreunde in Wien aufbewahrt wird. Diese handschriftlichen Dokumente sind die ältesten volksmusikalischen Belege unserer Region. Tanzbeschreibungen wurden leider nicht mitgeliefert.“

Tanzhäuser

Tatsächlich wurde im Ländle schon immer das Tanzbein geschwungen. Bösch-Niederer: „Tanzveranstaltungen fanden bis ins 19. Jahrhundert in Tanzhäusern oder Tanzlauben statt. Seit dem 14. Jahrhundert gibt es in deutschen Städten, auch in Vorarlberg, Tanzhäuser.“ Um 1390 wird erstmals in Feldkirch ein Tanzhaus erwähnt, 1431 gibt es ein solches in Satteins, 1465 in Rankweil, 1481 in Thüringen. Der Historiker Franz Josef Weizenegger (1784-1822) spricht sogar von „Gemeindetanzlau-

ben, die in jedem Pfarrorte errichtet waren" und in denen man „überall dem Treiben und Drängen der jungen Leute zusehen konnte“. Die Tanzhäuser waren mehrfunktionale Gebäude. Während der Woche dienten sie als Wetterschutz für Vaganten, als Kaufhäuser, Gerichts-, und Versammlungsstätten, doch darüber hinaus waren sie auch Orte der Unterhaltung und des Theaters. Dass sich die Vorarlberger Behörden ahnungslos stellten, hatte einen triftigen Grund: Angst vor der Kirche. Die meisten Geistlichen wollten das Tanzen verbieten. Der engagierte Volksliedsammler, Pädagoge und erste Archivar des Vorarlberger Volksliedarchivs, Josef Bitsche (1900 bis 1974), schreibt noch im Jahr 1961: „Tanz, das war bei uns immer etwas, dem der Makel des – sagen wir es einmal ganz offen – des Sündhaften anhing.“ In Vorarlberg wurde deshalb sogar an der biblischen Geschichte gedreht: König David hat vor der Bundeslade getanzt, aber auf Vorarlberger Gemälden schreitet er erhabenen Schrittes mit der Harfe der Bundeslade voran. Tanzen bleibt dem Teufel vorbehalten. So dauerte es 100 Jahre, ehe sich wieder ein Musikwissenschaftler auf den Weg machte, um den Vorarlbergern ihre Tanz-Geheimnisse zu entlocken. Prof. August Schmitt (1861-1933) reiste zwischen 1923 und 1927 mehrmals ins Montafon, um die dortigen Volkstänze zu erforschen. Der Wiener Volkstanz-


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