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Den Zusammenbruch der Sowjetunion bezeichnet Putin als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.

NATO, Genozid und Biowaffen Das sind Putins „Gründe“ für den Ukraine-Krieg

Von Maximilian Beer

Es ist mühsam, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was Wladimir Putin will. Oder was er denn eigentlich will. Und doch wird die Frage viel diskutiert dieser Tage, was verständlich ist, immerhin befehligt der russische Präsident einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Putin ist das Staatsoberhaupt einer Nuklearmacht und versucht, westliche Demokratien durch den bloßen Gedanken an einen Atomkrieg einzuschüchtern. Sind es imperialistische Phantasmen, die ihn antreiben? Will er die Zeit zurückdrehen? Das liegt nahe, immerhin bezeichnete er den Zusammenbruch der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Seine historischen Einlassungen oder die seines Botschafters in Berlin lassen sich ausführlich analysieren, in die Gedankenwelt des Kremlchefs hineinschauen kann allerdings niemand. Offenkundig ist hingegen, dass Putin und seine Regierung sich die Unklarheit über ihre Ziele zunutze machen wollen. In den vergangenen Wochen und Monaten hat Moskau zahlreiche Argumente gestreut, mit denen es die „Sonder-Militäroperation“ im Nachbarland begründen, Verwirrung stiften oder zumindest Stoff für Propagandamedien liefern möchte. Doch was ist dran an den Behauptungen und Vorwürfen gegenüber der Ukraine und dem Westen?

„Die NATO hat versprochen, sich nicht nach Osten auszubreiten“ Schon in den Monaten vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine forderte Putin verbindliche Sicherheitsgarantien vom Westen. Seine Begründung war nicht neu: Dass die NATO ihr Versprechen, sich nicht nach Osten auszudehnen, gebrochen habe, behauptet der Kreml seit Jahren. Weil Putin nun aber Zehntausende Soldaten an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren ließ, wurde

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der Vorwurf mit einer Drohung ergänzt, halten hätte. Richtig ist, dass die NATO die mit der Invasion am 24. Februar zur ihre Präsenz in den osteuropäischen MitRealität wurde. Nur: Völkerrechtlich bin- gliedstaaten verstärkt hat. Allerdings gedend waren Zugeständnisse hinsichtlich schah auch dies in Reaktion auf die ruseiner möglichen NATO-Osterweiterung, sischen Interventionen auf der Krim und sofern es sie überhaupt gab, nie. Weder im Osten der Ukraine. Gegen die NATOaus den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen Russland-Grundakte verstoßen habe das zur Wiedervereinigung Deutschlands Militärbündnis jedoch nicht, betonte noch aus den Jahren danach sind belast- zuletzt der Politikwissenschaftler und bare Garantien an die Sowjetunion oder Sicherheitsexperte Carlo Masala im ZDF. Russland überliefert. So oder so stand ei- Von einer „substanziellen Präsenz“, etwa ne NATO-Mitgliedschaft osteuropäischer durch die Stationierung von taktischen Länder 1990 gar nicht zur Debatte. Der Nuklearwaffen oder NATO-HauptquarWarschauer Pakt existierte noch, es ging tieren, könne nicht die Rede sein. allein um die DDR. Selbst der ehemalige sowjetische Staatspräsident Michail Gor- „Die NATO will die Ukraine batschow, der 2009 noch davon sprach, aufnehmen“ man hätte die Russen „über den Tisch In seiner viel beachteten Fernsehanspragezogen“, bezeichnete es fünf Jahre spä- che unmittelbar vor dem Einmarsch erter als „Mythos“, dass er von den USA, klärte Putin, die Gewährleistung der eiFrankreich, Großbritannien und Deutsch- genen Sicherheit dürfe keine Bedrohung land betrogen worden sei. Der Vorwurf für andere Staaten darstellen. Worte, die unterstellt zudem, die NATO würde in Anbetracht der jüngsten Ereignisse sich ehemalige Staaten des Warschau- mindestens bemerkenswert erscheinen. er Pakts gewissermaßen einverleiben, „Ein NATO-Beitritt der Ukraine ist jedoch ganz so, als sei das Bündnis auf einem eine unmittelbare Bedrohung für die SiEroberungszug. Dabei ignoriert Putin cherheit Russlands“, sagte der Präsident. jedoch, dass der Beitritt 14 osteuropäi- Tatsächlich erhielt die Ukraine auf dem scher Länder wie Polen oder denen des NATO-Gipfel 2008 eine grundsätzliche Baltikums aus eigenen, legitimen Sicher- Beitrittsperspektive, genauso wie Geheitsinteressen der jeweiligen Regierun- orgien. „Wir haben uns heute geeinigt, gen erfolgte. Sie fühlten sich von Russ- dass diese Staaten NATO-Mitglieder land bedroht, und man kann darüber werden sollen“, hieß es in einer Erklärung. streiten, wie naheliegend eine russische Allerdings äußerte schon damals nicht Intervention zum jeweiligen Zeitpunkt nur Russland Bedenken, sondern auch war. Dass Moskau aber nicht davor zu- Frankreich und Deutschland, die sich rückschreckt, einst sowjetische Länder sogar gegen einen Beitritt aussprachen. anzugreifen und zu besetzen, beweisen Seither liegt das Thema auf Eis. Under Krieg in Georgien und die Annexion ter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz der ukrainischen Halbinsel Krim. Nicht betonte mehrmals, dass eine Mitgliedumsonst wird heute darüber diskutiert, schaft der Ukraine im westlichen Miliob eine NATO-Mitgliedschaft der Ukra- tärbündnis bis zuletzt nicht debattiert ine Russland von einem Einmarsch abge- wurde. Es sei völlig klar, „dass die Ukra-

Hintergrund

ine nie der NATO beitreten wird“, sagte im Januar der Osteuropa-Experte André Härtel von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Die russischen Sicherheitsinteressen werden schon seit Jahren von NATO-Staaten wie der Türkei oder Italien geteilt – es gibt also keinen Konsens für einen Beitritt der Ukraine.“ Das war vor Russlands Einmarsch, und das Verständnis für russische Sicherheitsinteressen dürfte seitdem eher gelitten als zugenommen haben. Womit der Krieg die Ukraine perspektivisch wohl näher an den Westen binden dürfte.

„Im Donbass gab es einen Genozid“

Ukraine müsse „entnazifiziert“ werden. Entnazifizierung oder Denazifizierung wird die Politik der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg genannt, mit der die deutsche Gesellschaft von Nationalsozialisten befreit werden sollte. Entsprechend bezeichnet Putin die Regierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als „faschistisch“. Während der Begriff der Entnazifizierung kurzfristig aus der Propaganda des Kremls verschwunden zu sein schien, nutzte Außenminister Sergej Lawrow ihn … nach dem Treffen mit seinem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba gleich mehrfach. „Es ist geradezu pervers, dass (Putin) von der Entnazifizierung eines Landes spricht, an dessen Spitze mit Wolodymyr Selenskyj ein Präsident jüdischer Herkunft steht“, sagte der Historiker Karl Schlögel. „Zu behaupten, es gebe in der Ukraine eine nationalistische Bewegung, ist völlig absurd und an den Haaren herbeigezogen.“ Bei der Wahl 2019 scheiterten die Rechtsextremisten an der Fünf-Prozent-Hürde und sind somit nicht einmal im Parlament vertreten.

Die „Sonder-Militäroperation“, mit der Putin seinen Angriffskrieg umschreibt, begründete der Präsident auch mit einem angeblichen Völkermord an der russischen oder russischsprachigen Minderheit in der Ostukraine. Sie gelte dem „Schutz der Menschen, die seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt sind“. Allerdings fehlen dafür schlichtweg die Belege. Auch die Beobachtermission der OSZE, die seit der Annexion der Krim 2014 das Geschehen in den umkämpften Gebie- „Die Ukraine gehört zu ten im Donbass begleitet, konnte keine Russland“ Hinweise darauf finden. Kurz vor dem „Die heutige Ukraine wurde voll und Einmarsch erkannte Putin schließlich ganz und ohne jede Einschränkung von die Unabhängigkeit der ostukraini- Russland geschaffen“, sagte Putin in schen Separatistenregionen Luhansk seiner Fernsehsprache vor Kriegsbeginn. und Donezk an – nachdem die dorti- Die Unabhängigkeit des Landes sei ein gen Rebellenführer ihn um Hilfe vor „Fehler“ gewesen, es habe nie eine „echeinem vermeintlich drohenden Angriff te Staatlichkeit“ gehabt. Auch diese der Ukraine gebeten hatten. In den Behauptung, die der Ukraine die SouveGebieten kämpften seit 2014 prorussi- ränität abspricht, ist nicht neu in der russche Milizen gegen die ukrainische Ar- sischen Propaganda – was nicht zuletzt mee. Beweise dafür oder für Kriegsplä- die Eroberung der Krim zur Folge hatte. ne Kiews gegen Russland selbst blieb Zwar haben Russland und die Ukraine Putin bislang schuldig, weshalb auch gemeinsame Wurzeln, sie gingen beide sein Verweis auf eine Verteidigung im aus dem mittelalterlichen Großreich Kiewer Rus hervor. Nach dessen Zerfall im Sinne der UN-Charta ins Leere läuft. 13. Jahrhundert entfernten sich Russen „Die Ukraine muss und Ukrainer jedoch erstmals voneinan‚entnazifiziert‘ werden“ der: Teile des heutigen ukrainischen TerEng verbunden mit dem Vorwurf des ritoriums gingen in das Großfürstentum Völkermords ist Putins Behauptung, die Litauen und das Königreich Polen über.

In den Jahren 1917 und 1918 wurden schließlich die unabhängigen „Ukrainischen Volksrepubliken“ und die „Westukrainischen Volksrepubliken“ ausgerufen. Putin behauptete fälschlicherweise, die Ukraine sei 1917 von den Bolschewisten erschaffen worden. Gegenüber der Deutschen Presse-Agentur sagte der Osteuropa-Historiker Joachim von Puttkamer, Putin betreibe eine „Instrumentalisierung der Geschichte“. Dabei habe es ein „ukrainisches Eigenständigkeitsbewusstsein und Sonderbewusstsein gegenüber den Russen“ spätestens seit dem 17. Jahrhundert gegeben.

„Die Ukraine verfügt über Massenvernichtungswaffen“ Um seinen Krieg zu begründen, warf der Kreml der Ukraine zuletzt öffentlich die Entwicklung von Biowaffen vor. Doch nicht nur die Vereinten Nationen wissen nichts davon, auch das internationale Berichtsblatt der Atomwissenschaftler bezeichnete derartige Gerüchte in russischen Medien bereits im Februar als Falschinformation. Trotzdem wird Außenminister Lawrow nicht müde, von Dokumenten zu sprechen, die Forschungslabore für Biowaffen an den Grenzen zu Russland nachwiesen. Die UN definiert diese Art von Massenvernichtungswaffen als „alle gezielt eingesetzten […] infektiösen Stoffe, die Krankheiten oder Tod bei Mensch, Tier oder Pflanzen verursachen“. Kurz vor dem Einmarsch hatte Putin Kiew bereits unterstellt, nicht nur alte Atomwaffen aus Sowjetzeiten zu besitzen, sondern auch neue entwickeln zu wollen. Dafür gibt es ebenfalls keine Belege. Ganz im Gegenteil: Im Budapester Memorandum von 1994 erklärte sich das Land bereit, die einst sowjetischen Nuklearwaffen abzugeben, am 1. Juni 1996 übergab die Ukraine schließlich ihren letzten Atomsprengkopf an Russland. Im Gegenzug versicherten die Amerikaner, Briten und Russen den Ukrainern ihre Souveränität. Die Grenzen des Landes, so das Versprechen damals, sollten geachtet werden.

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Quelle: ntv.de

Hintergrund


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Nota bene 23 by Mateo Sudar - Issuu