orte Verlag Leseprobe
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Gegründet von Werner Bucher und Rosemarie Egger im Jahr 1974
Nr. 220, März 2023
ISBN 978-3-85830-301-1; ISSN 1016-7803
Erscheint fünf Mal jährlich. Die nächsten Ausgaben mit folgenden Themen: 221 «Ulrich Becher»; 222 «Ein Ort für orte: Der Kreuzgang Grossmünster Zürich»; 223 «Übersetzungen»; 224 «Regina Ullmann (1884–1961)».
Fühlen Sie sich von einem der Themen angesprochen, haben Sie Informationen dazu oder sogar Interesse, in der Redaktion mitzuarbeiten, dann freuen wir uns über Ihre Zuschrift an unsere Redaktionsadresse.
Leitung Redaktion: Annekatrin Ranft-Rehfeldt
Redaktion orte
Bärenmoosweg 2, CH-5610 Wohlen
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Redaktionsteam: Annekatrin Ranft-Rehfeldt (Leitung)
Gabriel Anwander, Viviane Egli, Regina Füchslin, Susanne Mathies, Erwin Messmer, Monique Obertin, Cyrill Stieger, Peter K. Wehrli
Verlag: orte Verlag
Im Rank 83, CH-9103 Schwellbrunn
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Einzelnummer: Fr./Euro 18.–
Abonnemente: Gönnerabonnement orte Fr./Euro 140.–(5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda)
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Umschlag: Gestaltung: Daniela Saravo, Verlagshaus Schwellbrunn, unter Verwendung des Bildes «Schlacht bei Kursk, Prochorowka, Russland 1943», © Peter Hebeisen, 2008
Copyright der Texte bei den Autorinnen und Autoren.
Trotz umfangreicher Bemühungen ist es uns in wenigen Fällen nicht gelungen, die Rechteinhaber für Texte und Bilder einiger Beiträge ausfindig zu machen. Der Verlag ist hier für entsprechende Hinweise dankbar. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.
3 Editorial
orteinhaltsverzeichnis
Schreiben im Krieg
5 Einleitung Cyrill Stieger
8 «Der Krieg bringt seine eigenen Wörter hervor»
Über Macht und Ohnmacht der Sprache
17 «Wir sehen den Krieg in seinem wahren Wesen»
Über die Belagerung von Sewastopol
22 «Ich dachte, die Erdkruste sei aufgesprungen»
Der Kriegsalltag im belagerten Sarajevo aus der Sicht eines Heranwachsenden
Serhij Zhadan
Lew Tolstoi
Enes Karić
29 «Bis langsam niedersinkend sein ganzes Gesicht Wilfred Owen, den Schlamm küsste»
Oskar Kanehl, Georg Trakl, Vier Stimmen aus dem Ersten Weltkrieg
Wilhelm Klemm
36 «Zuerst formt sich das Bild in meinem Kopf»
Der visuelle Poet und seine Schlachtfelder
44 «… und jetzt hätte die Leiche seines gesuchten Vaters sie beinahe in ein endloses Labyrinth gestürzt»
Eine Reise quer durch Syrien mitten im Krieg
52 orte-bestenliste
56 orte-festival: 19. Internationales Lyrikfestival Basel
69 orte-bücherregal
74 hör-orte: Das Hörbuch des Jahres, Robert Musil
76 ortolan: Richard Butz
79 wander-orte: Erich Maria Remarque
85 fund-orte
89 orte-nachruf: Andrea Maria Keller, Günter Eich
93 orte-agenda
95 orte-marktplatz
Peter Hebeisen
Khaled Khalifa
Ulrich Schmid
Annekatrin Ranft-Rehfeldt
Peter K. Wehrli
Erwin Messmer
Cyrill Stieger
Anna Gruver
Erwin Messmer
Annekatrin Ranft-Rehfeldt
1 orteinhalt
«Ich dachte, die Erdkruste sei aufgesprungen»
Lesungen April – Juni 2023
Vorverkauf
Sonntag, 23. April 2023, 11:00
Yvonne Zitzmann liest aus Die Füchse haben Gruben, die Vögel haben Nester
Sonntag, 7. Mai 2023, 11:00
Demian Lienhard liest aus Mr. Goebbels Jazz Band
Sonntag, 11. Juni 2023, 11:00
Katja Petrowskaja
liest aus Das Foto schaute mich an
zpk.org/lesungen
Fotos (Von links nach rechts): © Kerstin Weinert | © Laura J Gerlach | © Gunter-Glücklich / Suhrkamp-Verlag
Liebe Leser und Leserinnen
Worte dafür zu finden, womit der Titel dieser orte-Ausgabe verbunden ist, das Thema zu beschreiben, worum es in dieser Nummer geht – den Krieg –, es fällt mir schwer. Das Wort Krieg geht mir nicht leicht über die Lippen. Es fühlt sich kalt an, und ehrlich gesagt, mag ich es nicht. Die Bilder der Schlachtfelder im Zentrum des Heftes halten mich lange fest. Die Texte brennen sich beim Lesen in meine Gedanken ein.
Cyrill Stieger, Viviane Egli und Regina Füchslin haben den Thementeil mit direkt vom Krieg betroffenen Autoren und dem renommierten Schweizer Fotografen Peter Hebeisen auf eine Art und Weise aufbereitet, die die beschriebene Atmosphäre in den gewählten Beiträgen spürbar werden lässt. Man beginnt die Worte laut auszusprechen und den Blick länger auf den Bildern ruhen zu lassen. Die ortebestenliste hat Slavist und Universitätsprofessor Ulrich Schmid auf die Thematik dieser Ausgabe, «Schreiben im Krieg», ausgerichtet. Im wanderorte über Erich Maria Remarque spielt der Krieg eine zentrale Rolle, und sein Antikriegsroman Im Westen nichts Neues, der 1929 erschien, gehört zu den bekanntesten Werken nach dem Ersten Weltkrieg. Wir danken allen Mitwirkenden für ihre Zeit und ihr Engagement, etwas in Worte zu
fassen, das unfassbares, unvorstellbares und unmenschliches Leid bedeutet. Kleine Ablenkungen bieten das ortebücherregal, das hörorte oder vielleicht der ortolan. Im Anschluss an den Hauptteil stellen wir das Internationale Lyrikfestival Basel mit Anna Hetzer und ihren Texten vor. Der ausführliche Vorabdruck des Programms beinhaltet Ankündigungen und Gesprächsthemen zum Festival im Mai mit dem Schwerpunkt «Lyrik im Krieg».
Ein Nachruf auf die Lyrikerin Anna Maria Keller und den Dichter Günter Eich stimmen nachdenklich, ebenso wie die literarischen Texte zum Thema «Schreiben im Krieg» und die visuelle Poesie. Äussere Stille und laute Gedanken werden jeden Satz und jedes Bild auf den nächsten Seiten umgeben. Es lohnt sich, in die Texte einzutauchen. Sie zeigen, was Dichtung auch in Zeiten des Krieges bewirken kann. Autoren und Autorinnen schreiben weiter, selbst wenn alles um sie herum aus den Fugen gerät. Denn sie glauben an die Kraft der Sprache.
Beste Grüsse
Annekatrin RanftRehfeldt
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orteeditorial
Schreiben im Krieg
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Anzio Beach, Italien 1944. © Peter Hebeisen, 2008
Einleitung
Wieder wütet ein Krieg in Europa, diesmal nicht wie in den Neunzigerjahren auf dem westlichen Balkan, in Kroatien, Bosnien oder Kosovo, sondern im Osten des Kontinents, in der Ukraine. Wie so oft in der Geschichte stellt sich für Schriftsteller und Schriftstellerinnen auch diesmal die Frage, wie das Grauen und der Schrecken des Krieges, wie die Trauer und der Schmerz, wie das Unvorstellbare und Unfassbare, das plötzlich und unerwartet hereinbricht und alle Gewissheiten zum Einsturz bringt, in Worte und Bilder gefasst werden können. Den einen verschlägt es buchstäblich die Sprache. Sie verstummen. Jegliche Literarisierung und Ästhetisierung erscheinen ihnen zweifelhaft und unangebracht. Andere schreiben angesichts der bedrückenden und erdrückenden Wirklichkeit keine Literatur mehr, sondern zeichnen auf und dokumentieren, was um sie herum und mit ihnen geschieht. Wieder andere betrachten das Schreiben als Rettungsanker, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere, denen der Krieg den Boden unter den Füssen weggezogen hat. Sie setzen der Zerstörungswut und dem Zynismus der Kriegsherren ihr literarisches Schaffen entgegen. Sie sehen ihre Aufgabe gerade darin, die Sprachlosigkeit und die Erstarrung zu überwinden und mit Poesie und Prosa die Narrative der Kriegstreiber zu durchbrechen. Sie wollen den Menschen Mut machen und Hoffnung geben. Wie kann man noch schreiben, wenn über Nacht nichts mehr so ist wie zuvor, wenn der Tod allgegenwärtig ist, wenn Menschen alles verlieren und der Krieg, von dessen Verwüstungen man allenfalls in Fernsehberichten aus fernen Ländern Bilder gesehen hat, plötzlich zur eigenen Lebensrealität wird? Was geschieht mit der Sprache?
Kann Poesie etwas bewirken, wenn die Waffen sprechen? Schafft
dichterische Verarbeitung des Grauens nicht eine unzulässige Distanz zur Realität? Nimmt man dem Krieg auf diese Weise nicht seinen Schrecken? Das vorliegende orte-Heft präsentiert eine kleine Auswahl von Gedichten und Prosatexten zu diesen Themen, geschrieben von Dichtern und Schriftstellern aus unterschiedlichen Ländern und Epochen. Eines haben sie alle gemeinsam: Verstummen ist für sie keine Option. Sie wollen schreiben. Auch sind alle Autoren, die hier vorgestellt werden, in ihren kriegsversehrten Ländern geblieben oder haben sogar an Kriegshandlungen teilgenommen. Sie alle waren oder sind vom Krieg direkt betroffen. Sie schrieben oder schreiben im Krieg über den Krieg. Ihre Texte handeln denn auch von Zerstörung, Elend und Tod – und vom Schreiben sowie der Brüchigkeit der Sprache. Unberücksichtigt bleiben all jene Dichter, die in patriotischer Euphorie und nationalistischer Verblendung den Krieg verherrlicht oder überhöht haben. Der ukrainische Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan zählt zu den prominentesten Stimmen seines Landes. Für sein literarisches Schaffen und sein humanitäres Engagement im Kriegsgebiet erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Für ihn ist die Frage, wie man angesichts des Schreckens des Krieges und des unermesslichen Leids überhaupt noch schreiben kann, ein zentrales Thema. In den hier abgedruckten Gedichten und Aufzeichnungen geht es denn vor allem um die Macht und Ohnmacht der Sprache. Auch im dichterischen Werk des russischen Schriftstellers Lew Tolstoi spielt der Krieg eine zentrale Rolle. In diesem orte-Heft finden sich einige Ausschnitte aus den Sewastopoler Erzählungen, einem wenig bekannten Frühwerk. Der junge Tolstoi hielt sich als Offizier der russischen Armee in der im Krimkrieg (1853–1856) belagerten Festung von Sewastopol auf. In eindringlichen Bildern schildert er bereits in diesen Erzählungen, wie später vor allem in seinem Meisterwerk Krieg und Frieden, das Leiden und Sterben der beteiligten Menschen, deren Hilflosigkeit und Ohnmacht im unfassbaren und für den Einzelnen undurchschaubaren Schlachtengetümmel. Enes Karić, ein bosnischer Schriftsteller und renommierter Islamwissenschaftler, beschreibt in seinem aussergewöhnlichen Roman Der Jüdische Friedhof mit viel Anteilnahme und ohne jegliches Pathos aus der Perspektive eines neugierigen Heranwachsenden den mühsamen und gefährlichen Alltag in Sarajevo in der Zeit der Belagerung durch bosnisch-serbische Truppen. In einem über Email mit orte ge-
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führten exklusiven Interview erklärt Karić, warum er das damalige blutige Geschehen gerade aus der Sicht eines Jugendlichen schildert und was Schreiben im Krieg für ihn bedeutet.
Zu Wort kommt auch der syrische Schriftsteller Khaled Khalifa, der während des Krieges in Damaskus geblieben ist. Die Textstellen sind seinem bemerkenswerten Roman Der Tod ist ein mühseliges Geschäft entnommen. Khalifa beschreibt darin die Schwierigkeiten dreier Geschwister, die in einem Kleinbus ihren verstorbenen Vater durch das verwüstete Land von Damaskus in die Nähe von Aleppo bringen, um ihn in seinem Heimatdorf zu beerdigen. Im Mittelpunkt der Textausschnitte stehen zwei der vielen Checkpoints, welche die Geschwister auf ihrer langen und mühsamen Fahrt passieren müssen. An dem einen werden sie von Soldaten des Machthabers Baschar al-Assad kontrolliert, am anderen von Islamisten. An beiden sind sie in gleicher Weise der Willkür und Unberechenbarkeit jener ausgeliefert, die dort stehen. Am Kontrollposten des Regimes wird sogar die Leiche des Vaters festgenommen, da sein Name auf einer Fahndungsliste steht. Die orte-Redaktion hat Khalifa nach einer Lesung im Literaturhaus in Zürich getroffen und auch ihn gefragt, was Schreiben im Krieg für ihn bedeutet und wie sich die Sprache in Zeiten des Krieges verändert. Je ein Gedicht von Wilfred Owen, Oskar Kanehl, Georg Trakl und Wilhelm Klemm runden die Textsammlung ab. Sie alle haben den Ersten Weltkrieg hautnah erlebt und das Leid und das Grauen in Worte zu fassen versucht.
Bebildert wird dieses orte-Heft von Aufnahmen des visuellen Poeten Peter Hebeisen. Der Fotograf hat sich dem Thema Battlefields in eigener und einzigartiger Art verschrieben. Während die Schriftsteller, die hier zu Wort kommen, mitten im Kriegsgeschehen standen oder stehen, besuchte Hebeisen Jahrzehnte später sechzig Schlachtfelder des letzten Jahrhunderts in Europa. Entstanden sind beeindruckende Landschafts- und Städtebilder, in denen kein einziger Mensch zu sehen ist. Sie formen das Heft zusammen mit den Texten zu einer Einheit. Peter Hebeisen hat seine Bilder orte zur Verfügung gestellt. Dafür und für die hervorragende Zusammenarbeit danken wir ihm herzlich. Danken möchten wir auch Mirsad Maglajac, der den Kontakt zu Enes Karić hergestellt hat.
Cyrill Stieger
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«Der Krieg bringt seine eigenen Wörter hervor»
Die hier veröffentlichten Texte des ukrainischen Schriftstellers und Musikers Serhij Zhadan sind vor dem 24. Februar 2022 entstanden, also vor Beginn der russischen Invasion in die Ukraine. Und dennoch handeln sie vom Schrecken des Krieges, von Ohnmacht und Todesangst, vom Leiden der Menschen, die im Kriegsgebiet leben – im besetzten Donbass im Osten der Ukraine. Dort wird, vom Westen kaum beachtet, seit 2014 gekämpft. Die Texte sind zwei Büchern entnommen, dem 2020 erschienenen Gedichtband Antenne sowie dem 2016 veröffentlichten Sammelband mit dem Titel: Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg. Dieser enthält Gedichte, Tagebucheintragungen, Notizen. Vieles ist unterwegs entstanden, auf den Reisen im Kriegsgebiet im Donbass. Zhadan, der in Charkiw lebt, wurde in der Nähe der 2014 von russischen Truppen besetzten ostukrainischen Stadt Luhansk geboren. Er kennt die Region. Er ist mit ihr vertraut. Zhadan steht ganz auf der Seite der Ukraine. Er leistet Widerstand gegen die russische Aggression, nicht mit Waffen, sondern mit Worten und humanitärem Engagement. Seine Waffe ist die Sprache. Er will den Menschen Mut machen. Mit seiner Band tritt er in Spitälern, vor ukrainischen Soldaten oder in Metrostationen auf, in denen die Bevölke-
rung von Charkiw während der russischen Angriffe Schutz sucht. Er organisiert Hilfstransporte, evakuiert Kinder und alte Leute. Er fährt auch selbst in abgelegene Dörfer, um Menschen zu helfen, die in ihren Häusern ausharren.
Viele seiner Texte, auch die hier abgedruckten, handeln von der Unzulänglichkeit der Sprache, vom Schreiben im Krieg, vom Versuch, das Unfassbare und Unvorstellbare, das Grauen in Worte zu fassen. Doch das ist schwierig: «In Kriegszeiten ertappst du dich dauernd bei dem Gedanken, dass dir die Worte fehlen, als stocke dir der Atem, als bekämst du keine Luft, so dass die Worte verloren gehen, auseinanderfallen, unpassend erscheinen. Das ist ein sehr seltsames Gefühl. Seltsam und unangenehm, denn es enthält zu viel Wut und zu viel Machtlosigkeit.»* Doch Verstummen ist für Zhadan keine Option. Er sieht seine Aufgabe darin, den Schrecken des Krieges zu beschreiben, all das zu benennen, was um ihn herum geschieht, auch wenn die Kunst, wie er selbst schreibt, im Angesicht des Todes erstarrt und sich die übermächtige, grausame Wirklichkeit oft als stärker erweist als die Sprache.
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* Zhadan, Serhij: Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2022, Seite 229.
Serhij Zhadan über Macht und Ohnmacht der Sprache
Der Krieg bringt seine eigenen Wörter hervor. Sie klingen scharf und kalt, sie bezeichnen nie kriegsferne Dinge, obwohl sie ins zivile Leben eindringen und tiefe Spuren hinterlassen. Das Kriegsvokabular strömt in die Gespräche, wie Passagiere in die morgendlichen Terminals strömen. Du legst fremde Wörter an, rollst sie auf der Zunge hin und her, spürst den metallischen Nachgeschmack. Der Krieg ist wie Giftmüll im Fluss – er erreicht jeden, der in Flussnähe wohnt. Du musst auf die neuen Substantive und Verben reagieren, du gewöhnst dich an sie, sie werden dir vertraut. Plötzlich finden sich unter deinen Bekannten Einberufene, Verwundete und Gefangene. Du gewöhnst dich daran, dass die Sprache um Wörter dieses schwarzen Vokabulars erweitert wird, um Dutzende neuer Wörter, von denen jedes einzelne nichts anderes als Tod bedeutet. Da der Tod viele Namen hat, müssen sich die Lebenden die Wörter wohl oder übl einprägen.
Der Krieg ändert auch die Intonation. Sarkasmus und Ironie sind in vielen Fällen unangebracht, Pathos ist überflüssig, Groll schädlich. Wohl oder übel musst du mit Blick auf den Krieg deine Sprache korrigieren, denn ein falsches Wort zur falschen Zeit zerstört möglicherweise nicht nur das semantische Gleichgewicht, sondern ein ganz reales Menschenleben. Der Tod kommt dir so nahe, dass du viele Dinge mit ihm abstimmen musst.
Zudem verändert der Krieg die Farben. Für viele Menschen verschwinden ein für alle Mal die Schattierungen, plötzlich ist die Welt schwarz-weiβ, fest umrissen, streng konturiert. Und auch die Sprache ist für viele plötzlich schwarz-weiβ. Ihr Gewicht nimmt zu, aber ihr Anwendungsbereich schrumpft dramatisch. Abseits des Krieges ist die Kriegssprache kaum verständlich. Einen Sinn hat sie nur, solange sie praktisch angewendet wird. […] Ein Mensch, der sich nicht im Visier des Feindes befindet, hat eine andere Atmung und einen anderen Herzschlag. Wenn er die Welt betrachtet, sind weder Feind noch Tod allgegenwärtig.
Aus: Zhadan, Serhij: Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg. © Serhij Zhadan, 2016. © Suhrkamp Verlag, Berlin, 2016, Seite 11/12.
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«Der Krieg ist wie Giftmüll im Fluss» (Titel: Cyrill Stieger)
Wir setzen ja im Grunde all unsere literarischen Mittel ein, um zu lernen, wie wir über das sprechen, was uns am meisten Angst macht. Die Literatur lässt uns Synonyme finden für die schlimmsten Dinge und macht sie dadurch ein wenig erträglicher, ein wenig verständlicher. Indem wir unsere Schmerzen und Ängste benennen, zähmen wir sie, domestizieren wir sie und wagen uns in ihre Nähe. Das Unvermeidliche bleibt unvermeidlich, aber dank der Versprachlichung, dank des Aussprechens können wir Bitterkeit und Trauer zulassen. Und Trauer, die kann ja auch hell sein, sie kann auf etwas verweisen, zum Beispiel darauf, dass gar nicht alles so schlecht ist und dass in allem, was passiert, ein verborgener Sinn liegt, dass es für alles eine Rechtfertigung oder doch zumindest eine Erklärung gibt.
Aus: Zhadan, Serhij: Antenne. Gedichte. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020, Seite 12.
Die groβen Dichter der traurigen Zeiten. Hellhörige Zeugen des endenden Buchdrucks. Dichter, deren Stimmen von der Erfahrung des Überlebens in leeren Sälen sprechen, Dichter, die ihr Handwerk höchstens noch an die Schwarzdrosseln hinter dem Institutsfenster weitergeben.
Kühner Dichter der Schleusen an den europäischen Flüssen, Dichter eines Landes, das wehrlos stirbt, wenn es den Winter spürt, sprich über die Hoffnung, über Angst und Ausweglosigkeit sprechen jene, die dich nicht lesen.
Sprich über die Hoffnung, sprich über die starken Charaktere der Lehrer und Jäger.
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Deine Sprache ist lang und verschlungen wie die Donau auf der Europakarte.
Sprich über die Beharrlichkeit der Kiefern, die sich im Sand festsetzen wie Russismen in der Sprache.
Die ganze Poetik deines Kontinents entspringt dem Gesang und der Weinrebe. Sprich über die Weinrebe, über die goldene Beständigkeit der Trauben, die ihre Grenzen verstärken wie Nähte einen neuen Mantel.
Sprich über den Gesang der Frauen am sanften Flussufer, über die fehlenden Chancen reden die Leute aus Kirche und Verwaltung.
Die unendlichen Eigenschaften der Sprache. Ihre geheimnisvolle Struktur. Hoffnung durch unsere Körper treiben wie Fische ans schwarze Ufer, das rechte Wort durchs Herz führen wie einen Wanderer durch den Wald.
Sprache ist Atem, gefüllt mit Sinn. Sprache ist die trügerische Chance, jemanden daran zu hindern, von der Brücke in die Seine zu springen.
Der Dichter steht mitten in der leeren Stadt, ruft den Vögeln zu, die über den Winter nach Nordafrika fliegen:
Ich glaube nicht an Gott. Aber das macht nichts. Weil es ihn nicht gibt. Die Leser glauben nicht an mich. Das macht auch nichts. Weil es auch sie nicht gibt.
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Und weil die Vögel ihm nicht zuhören, will der Dichter sie zählen in den Herbstschwärmen unterm Himmel. Eifrig zählt er und vermerkt jede einzelne Schwalbe in einem Heft. So viele fortgeflogen sind, so viele sollen wiederkommen.
Alle muss man zählen. Keine darf man vergessen.
Die wahre Dichtung stützt sich immer auf Genauigkeit.
Aus: Zhadan, Serhij: Antenne. Gedichte. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020, Seite 51– 53.
Der Schriftsteller, Lyriker und Rocksänger Serhij Zhadan wurde 1974 in Starobilsk in der Nähe der ostukrainischen Stadt Luhansk geboren. Er lebt in Charkiw. Zhadan, der in ukrainischer Sprache schreibt, gehört zu den bekanntesten literarischen Stimmen des Landes. Er erhielt zahleiche Auszeichnungen, zuletzt 2022 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Geehrt wurde er für sein künstlerisches Werk und seine humanitäre Haltung.
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Einigen wir uns am besten gleich auf die Bedeutung bestimmter Wörter.
Unser Unglück ist, dass wir uns nicht trauen, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen.
Wir bringen die Namen durcheinander, nennen diejenigen, die leben, beim Namen der Toten und lassen die Sprache des Todes auf unser Territorium.
Woran denken wir, wenn wir Freude sagen? Womit vergleichen wir sie?
Gefangen in mitternächtlichen Liebesbekundungen, in der Auflehnung gegen das Böse in der Welt, kennen wir die Namen der Bäume, kennen wir die Namen der Vögel, aber wie wir diesen Zustand nennen sollen, wenn sich ein Metallfaden durch den Atem zieht, weil du im Morgenlicht wieder die schmale verschattete Schulterlinie siehst, wissen wir nicht.
Es geht darum, sich besser nicht verführen zu lassen Von Enzyklopädien und Wörterbüchern. Es geht darum, besser zu sagen, wie es ist. Der Himmel gleicht nur sich selbst. Auch der Stein gleicht nur sich selbst.
Bäume aber gleichen Fremdsprachen. Dieselbe klare rätselhafte Struktur.
Dieselbe Menge Adjektive.
[…]
Aus: Zhadan, Serhij: Antenne. Gedichte. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020, Seite 69–70.
13 Neue Rechtschreibung 1
Seit drei Jahren reden wir über den Krieg
Noch so eine merkwürdige Geschichte. Eine Geschichte über unsere Illusionen und unsere Ohnmacht.
In der Bibliothek hielt sie sich immer an die Regale mit den Büchern ihrer Lieblingsautoren. Sie stand davor, wie Frauen morgens vor dem Spiegel stehen: zuversichtlich und doch zweifelnd.
Dichter mit reinen Reimen irren sich nie. Sie wissen immer einen Ausweg. Sie trösten in jeder Not.
Eines der ersten Geschosse traf die Bibliothek.
Lehrbücher flogen durch die Straβe wie aufgerissene Kopfkissen, und Buchstaben schwebten in der Juniluft wie die Asche ausgebrannter Synagogen.
Die Dichtung hat doch nicht gerettet. Die Dichter haben geschwiegen. Keiner fand einen reinen Reim auf den Namen der zerfetzten Schülerin, die am Morgen gekommen war, um ihre gelesenen Bücher zurückzubringen.
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[…] 7
Als die Truppen kamen, als sie das Magazin renovierten, als sie ihr mehr und mehr neue Bücher brachten, als wollten sie sie mit einer neuen Sprache füllen, mit neuer Freude sozusagen, stand sie immer noch da und sagte etwas, versuchte verständlich zu sprechen, versuchte überzeugend zu wirken.
Wer hat ihr damals zugehört?
Wen haben ihre Worte interessiert? Es ist hoffnungslos, sich hinter der groβen toten Literatur zu verstecken, wenn man Menschen gegenübersteht, die in den Tod gehen. Hoffnungslos, unfair.
Hauptsache, ich habe meine Dichter nicht verraten, dachte sie, ich habe sie bestimmt nicht verraten.
Dachte sie, sagte es aber nicht laut. Sie hatte Angst. Bedankte sich.
Stand am Regal mit den toten Dichtern wie an einer Heizung, die längst keinen mehr wärmt.
Aus: Zhadan, Serhij: Antenne. Gedichte. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020, Seite 116–117.
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