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Schreiben im Krieg
from orte 220
Einleitung
Wieder wütet ein Krieg in Europa, diesmal nicht wie in den Neunzigerjahren auf dem westlichen Balkan, in Kroatien, Bosnien oder Kosovo, sondern im Osten des Kontinents, in der Ukraine. Wie so oft in der Geschichte stellt sich für Schriftsteller und Schriftstellerinnen auch diesmal die Frage, wie das Grauen und der Schrecken des Krieges, wie die Trauer und der Schmerz, wie das Unvorstellbare und Unfassbare, das plötzlich und unerwartet hereinbricht und alle Gewissheiten zum Einsturz bringt, in Worte und Bilder gefasst werden können. Den einen verschlägt es buchstäblich die Sprache. Sie verstummen. Jegliche Literarisierung und Ästhetisierung erscheinen ihnen zweifelhaft und unangebracht. Andere schreiben angesichts der bedrückenden und erdrückenden Wirklichkeit keine Literatur mehr, sondern zeichnen auf und dokumentieren, was um sie herum und mit ihnen geschieht. Wieder andere betrachten das Schreiben als Rettungsanker, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere, denen der Krieg den Boden unter den Füssen weggezogen hat. Sie setzen der Zerstörungswut und dem Zynismus der Kriegsherren ihr literarisches Schaffen entgegen. Sie sehen ihre Aufgabe gerade darin, die Sprachlosigkeit und die Erstarrung zu überwinden und mit Poesie und Prosa die Narrative der Kriegstreiber zu durchbrechen. Sie wollen den Menschen Mut machen und Hoffnung geben. Wie kann man noch schreiben, wenn über Nacht nichts mehr so ist wie zuvor, wenn der Tod allgegenwärtig ist, wenn Menschen alles verlieren und der Krieg, von dessen Verwüstungen man allenfalls in Fernsehberichten aus fernen Ländern Bilder gesehen hat, plötzlich zur eigenen Lebensrealität wird? Was geschieht mit der Sprache?
Kann Poesie etwas bewirken, wenn die Waffen sprechen? Schafft dichterische Verarbeitung des Grauens nicht eine unzulässige Distanz zur Realität? Nimmt man dem Krieg auf diese Weise nicht seinen Schrecken? Das vorliegende orte-Heft präsentiert eine kleine Auswahl von Gedichten und Prosatexten zu diesen Themen, geschrieben von Dichtern und Schriftstellern aus unterschiedlichen Ländern und Epochen. Eines haben sie alle gemeinsam: Verstummen ist für sie keine Option. Sie wollen schreiben. Auch sind alle Autoren, die hier vorgestellt werden, in ihren kriegsversehrten Ländern geblieben oder haben sogar an Kriegshandlungen teilgenommen. Sie alle waren oder sind vom Krieg direkt betroffen. Sie schrieben oder schreiben im Krieg über den Krieg. Ihre Texte handeln denn auch von Zerstörung, Elend und Tod – und vom Schreiben sowie der Brüchigkeit der Sprache. Unberücksichtigt bleiben all jene Dichter, die in patriotischer Euphorie und nationalistischer Verblendung den Krieg verherrlicht oder überhöht haben. Der ukrainische Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan zählt zu den prominentesten Stimmen seines Landes. Für sein literarisches Schaffen und sein humanitäres Engagement im Kriegsgebiet erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Für ihn ist die Frage, wie man angesichts des Schreckens des Krieges und des unermesslichen Leids überhaupt noch schreiben kann, ein zentrales Thema. In den hier abgedruckten Gedichten und Aufzeichnungen geht es denn vor allem um die Macht und Ohnmacht der Sprache. Auch im dichterischen Werk des russischen Schriftstellers Lew Tolstoi spielt der Krieg eine zentrale Rolle. In diesem orte-Heft finden sich einige Ausschnitte aus den Sewastopoler Erzählungen, einem wenig bekannten Frühwerk. Der junge Tolstoi hielt sich als Offizier der russischen Armee in der im Krimkrieg (1853–1856) belagerten Festung von Sewastopol auf. In eindringlichen Bildern schildert er bereits in diesen Erzählungen, wie später vor allem in seinem Meisterwerk Krieg und Frieden, das Leiden und Sterben der beteiligten Menschen, deren Hilflosigkeit und Ohnmacht im unfassbaren und für den Einzelnen undurchschaubaren Schlachtengetümmel. Enes Karić, ein bosnischer Schriftsteller und renommierter Islamwissenschaftler, beschreibt in seinem aussergewöhnlichen Roman Der Jüdische Friedhof mit viel Anteilnahme und ohne jegliches Pathos aus der Perspektive eines neugierigen Heranwachsenden den mühsamen und gefährlichen Alltag in Sarajevo in der Zeit der Belagerung durch bosnisch-serbische Truppen. In einem über Email mit orte ge- führten exklusiven Interview erklärt Karić, warum er das damalige blutige Geschehen gerade aus der Sicht eines Jugendlichen schildert und was Schreiben im Krieg für ihn bedeutet.
Zu Wort kommt auch der syrische Schriftsteller Khaled Khalifa, der während des Krieges in Damaskus geblieben ist. Die Textstellen sind seinem bemerkenswerten Roman Der Tod ist ein mühseliges Geschäft entnommen. Khalifa beschreibt darin die Schwierigkeiten dreier Geschwister, die in einem Kleinbus ihren verstorbenen Vater durch das verwüstete Land von Damaskus in die Nähe von Aleppo bringen, um ihn in seinem Heimatdorf zu beerdigen. Im Mittelpunkt der Textausschnitte stehen zwei der vielen Checkpoints, welche die Geschwister auf ihrer langen und mühsamen Fahrt passieren müssen. An dem einen werden sie von Soldaten des Machthabers Baschar al-Assad kontrolliert, am anderen von Islamisten. An beiden sind sie in gleicher Weise der Willkür und Unberechenbarkeit jener ausgeliefert, die dort stehen. Am Kontrollposten des Regimes wird sogar die Leiche des Vaters festgenommen, da sein Name auf einer Fahndungsliste steht. Die orte-Redaktion hat Khalifa nach einer Lesung im Literaturhaus in Zürich getroffen und auch ihn gefragt, was Schreiben im Krieg für ihn bedeutet und wie sich die Sprache in Zeiten des Krieges verändert. Je ein Gedicht von Wilfred Owen, Oskar Kanehl, Georg Trakl und Wilhelm Klemm runden die Textsammlung ab. Sie alle haben den Ersten Weltkrieg hautnah erlebt und das Leid und das Grauen in Worte zu fassen versucht.
Bebildert wird dieses orte-Heft von Aufnahmen des visuellen Poeten Peter Hebeisen. Der Fotograf hat sich dem Thema Battlefields in eigener und einzigartiger Art verschrieben. Während die Schriftsteller, die hier zu Wort kommen, mitten im Kriegsgeschehen standen oder stehen, besuchte Hebeisen Jahrzehnte später sechzig Schlachtfelder des letzten Jahrhunderts in Europa. Entstanden sind beeindruckende Landschafts- und Städtebilder, in denen kein einziger Mensch zu sehen ist. Sie formen das Heft zusammen mit den Texten zu einer Einheit. Peter Hebeisen hat seine Bilder orte zur Verfügung gestellt. Dafür und für die hervorragende Zusammenarbeit danken wir ihm herzlich. Danken möchten wir auch Mirsad Maglajac, der den Kontakt zu Enes Karić hergestellt hat.
Cyrill Stieger