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orte Verlag Leseprobe

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Gegründet von Werner Bucher und Rosemarie Egger im Jahr 1974 Nr. 219, Dezember 2022 ISBN 978-3-85830-300-4; ISSN 1016-7803

Erscheint fünf Mal jährlich. Die nächsten Ausgaben mit folgenden Themen: 220 «Schreiben im Krieg»; 221 «Ulrich Becher»; 222 «Ein Ort für orte: Der Kreuzgang Grossmünster Zürich»; 223 «Übersetzungen»; 224 «Regina Ullmann». Fühlen Sie sich von einem der Themen angesprochen, haben Sie Informationen dazu oder sogar Interesse, in der Redaktion mitzuarbeiten, dann freuen wir uns über Ihre Zuschrift an unsere Redaktionsadresse.

Leitung Redaktion: Annekatrin Ranft-Rehfeldt Redaktion orte

Bärenmoosweg 2, CH-5610 Wohlen Tel. +41 44 742 31 58, redaktion@orteverlag.ch

Redaktionsteam: Annekatrin Ranft-Rehfeldt (Leitung)

Gabriel Anwander, Viviane Egli, Regina Füchslin, Susanne Mathies, Erwin Messmer, Monique Obertin, Cyrill Stieger, Peter K. Wehrli

Verlag: orte Verlag

Im Rank 83, CH-9103 Schwellbrunn Tel. +41 71 353 77 55, Fax +41 71 353 77 56 verlag@orteverlag.ch, www.orteverlag.ch

Einzelnummer: Fr./Euro 18.–Abonnemente: Gönnerabonnement orte Fr./Euro 140.–(5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda) Jahresabonnement orte Fr./Euro 86.–(5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda) Abonnemente im Ausland: Fr./Euro 12.– Zuschlag

Inseratepreise: 1 / 1 Seite (121 x 180 mm) Fr. 400.–

1 / 2 Seite (121 x 88 mm) Fr. 200.–1 / 4 Seite (121 x 42 mm) Fr. 120.–

Inserateverkauf: Annina Dörig, inserate@orteverlag.ch, Tel. +41 71 353 77 40

Umschlag: Gestaltung: Daniela Saravo, Verlagshaus Schwellbrunn unter Verwendung des Fotos «Jennifer Hermond bei der Arbeit» von Catherine Meyer

Copyright der Texte bei den Autorinnen und Autoren. Trotz umfangreicher Bemühungen ist es uns in wenigen Fällen nicht gelungen, die Rechteinhaber für Texte und Bilder einiger Beiträge ausfindig zu machen. Der Verlag ist hier für entsprechende Hinweise dankbar. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

orteinhalt

orteinhaltsverzeichnis 3 Editorial La Chaux-de-Fonds 5 Einleitung Monique Obertin 10 Rückkehr in die Heimatstadt 11 Once Upon a Time in La Chaux-de-Fonds

Julie Guinand 14 Gespräch mit Julie Guinand 16 «Und winters, wenn die Stadt erblüht» 17 Und winters, wenn die Stadt erblüht

Urs Mannhart 24 Hinter den Kulissen von La Tchaux!

Autorenkollektiv AJAR 29 Kleinstadt auf dem Land Hélène Bezençon 32 Der Rohstoff Zeit 33 La Chaux-de-Fonds und Le Locle als offenes Buch Isabelle Meyer 38 Die Ursprünge des schachbrettartigen Stadtplans von La Chaux-de-Fonds Raoul Cop 43 La Chaux-de-Fonds zwischen Lwiw und Rio 43 Ist La Chaux-de-Fonds denn nicht die Hauptstadt der Schweiz?

Peter K. Wehrli 52 Rezension zu Das Streichholzhaus von Eugenia Senik 54 Interview mit Eugenia Senik Gabriel Anwander 57 Biografien 59 orte-bücherregal 65 orte-bestenliste

Yla Margrit von Dach 70 hör-orte Manuel Steccanella 72 fund-orte: Babel Festival – Poethreesome Meret Gut Matthieu Corpataux Stella N’Djoku 78 orte-festival Annekatrin Ranft-Rehfeldt 79 Jubiläum: Beizenführer und Wirtshaus Reutegg Peter Eggenberger 81 orte-rückschau

Annekatrin Ranft-Rehfeldt 85 orte-agenda 87 orte-marktplatz

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POETISCH VERZAUBERT DURCH DAS JAHR 2023

Erhältlich im Buchhandel oder im Verlagsladen Schwellbrunn, Im Rank 83, 9103 Schwellbrunn Tel. 071 353 77 55 www.verlagshaus-schwellbrunn.ch

Kennen Sie die Schweizer Stadt auf fast tausend Metern über dem Meeresspiegel, in der Fussgängertunnel zum Sternentor werden und das Licht Samthandschuhe trägt?

Sie halten die Antwort in Händen, wir führen Sie heute in den Neuenburger Jura, nach La Chaux-de-Fonds. Eingeladen, um für orte zu schreiben, wurden unter anderem die Schriftstellerkollegen Julie Guinand, Hélène Bezençon und Urs Mannhart sowie das Autorenkollektiv AJAR. Wir danken allen Beteiligten für ihre Beiträge und Unterstützung zur Entstehung der orteAusgabe 219. Unsere drei Redaktorinnen Regina Füchslin, Susanne Mathies und Monique Obertin haben für den Thementeil einen literarischen Teppich durch die markanten, schachbrettartigen Strassen von La Chaux-de-Fonds ausgelegt. Spazieren Sie mit uns durch diese für Sie ausgewählten (W)-orte.

Im Mantelteil dieser Winterausgabe haben wir das orte-bücherregal besonders reich bestückt. In der orte-bestenliste lässt Autorin Yla Margrit von Dach ausgesuchte Werke direkt zu uns sprechen, und im hör-orte geht Manuel Steccanella von der Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte der Frage zur Schriftlichkeit eines Textes nach. Das fundorte präsentiert Ihnen wortreich den Übersetzeraustausch mit dreisprachigen Gedichten aus dem Pro-

jekt Babel Festival. Etwas Altes und etwas Neues finden Sie zum einen beim Jubiläum des Beizenführers aus dem Jahre 1997 und zum anderen im orte-festival bei der Schweizer Tournee des Schriftstellers Klaus Merz, welcher gemeinsam mit Sandro Zolliger eindrucksvolle Virtual Reality verbundene Literatur präsentiert.

Bei den Veranstaltungstipps blicken wir für einmal in der orte-rückschau auf Preise und Nominierungen wie den Kurt Marti Literaturpreis, den Preis der Studer/Ganz-Stiftung und den Deutschen Buchpreis sowie auf «Zürich liest». Die orte-agenda empfiehlt als Brücke von Vergangenem zu Aktuellem ein Gespräch über den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch, die Lesung Countdown in Aarau und die Buchvernissage zu Peter Stamms neuem Roman, In dunklen Stunden.

Lassen Sie sich durch unser orte-Heft inspirieren, Neues zu wagen und Altes wiederzuentdecken. Wir wünschen Ihnen in den kommenden Tagen grosse und kleine Begegnungen – so, als ob Sie jedes Mal durch ein Sternentor schreiten würden und das Licht Ihnen mit Samthandschuhen den Weg ins neue Jahr zeigen möchte – vielleicht bei einem winterlichen Besuch in La Chaux-de-Fonds.

Beste Grüsse

Annekatrin Ranft-Rehfeldt

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orteeditorial
Liebe Leserinnen und Leser
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Foto: © Catherine Meyer

Einleitung

Der im Planquadrat angelegte Stadtkern ist das Wahrzeichen von La Chaux-de-Fonds. Jeder und jede kennt ihn aus den Schulbüchern. Aber wer hat ihn schon einmal besucht? Wir, die orteRedaktorinnen Regina Füchslin, Susanne Mathies und Monique Obertin unternahmen die Reise im vergangenen Mai. In weitläufigen Schlaufen ging es vom Neuenburgersee durch Tunnels und Wälder den Jurasüdhang hinauf – den glitzernden See noch die längste Zeit vor Augen – nach Chambrelien, wo der Interregiozug nach einem überraschenden Richtungswechsel rückwärts weitertuckerte, vorbei an Ortschaften mit geheimnisvoll klingenden Namen wie Les Geneveys-sur-Coffrane oder Les Hauts-Genevey. Unerwartet bald, nur eine kleine Stunde von Bern entfernt, trafen wir in La Chaux-de-Fonds ein, der höchsten Industrie- und Kulturstadt der Schweiz, auf fast tausend Metern über dem Meeresspiegel gelegen.

Als wir aus der zum Kulturgut der Schweiz gehörenden Bahnhofshalle auf den grosszügigen Bahnhofplatz traten, empfing uns La Chaux-de-Fonds mit architektonisch einladend weiter Geste, aber empfindlich frisch und im Nieselschleier. So führten unsere ersten Handgriffe an die Knopfleisten unserer Mäntel und in die Taschen, um eiligst Regenschirme ans Tageslicht zu befördern.

Nach einem ersten Augenschein von La Chaux-de-Fonds trafen wir Julie Guinand und Urs Mannhart zum Gespräch. Die Offenheit der beiden und ihre Bereitschaft, für das vorliegende Heft etwas beizutragen, ermöglichte dessen Realisierung wesentlich. Die beiden seien an dieser Stelle nochmals herzlich verdankt!

Die Schriftstellerin Julie Guinand wurde in La Chaux-de-Fonds geboren und ist heute wieder dort ansässig. Sie ist Mitglied der Gruppe AJAR (Association des Jeunes Auteurs Romands), deren Ziel die Veröffentlichung von gemeinsamen Texten ohne Einzelautorenschaft ist. Die AJAR-Autorinnen und -Autoren schrieben für uns eine Liebeserklärung an die Stadt La Chaux-de-Fonds, hinter deren Kulissen es ganz schön geheimnisvoll zu- und hergeht – wo ein Fussgängertunnel schon mal zum Sternentor wird oder das Licht Samthandschuhe trägt. Mythische Ausmasse nehmen auch die Schneemassen im winterlichen La Chaux-de-Fonds an, die der Schriftsteller und WahlChaux-de-Fonnier Urs Mannhart beschreibt. Sein neustes Buch, Lentille – Aus dem Leben einer Kuh, ist soeben bei Matthes und Seitz erschienen.

Die Stadt stiftete zum zehnjährigen Jubiläum ihrer Ernennung zum UNESCO-Kulturerbe den Literaturpfad 1000 mètres d’auteur.e.s. Die mit literarischen Zitaten von Autorinnen und Autoren der Romandie beschrifteten Hausfassaden wurden für uns von der Künstlerin Catherine Meyer fotografiert und illustrieren dieses Heft.

Der orte-Redaktor Peter K. Wehrli wartet mit einer ungewohnten Sicht auf La Chaux-de-Fonds auf. Mehr sei hier nicht verraten. Unter dem Titel Sortir du bois (aus dem Wald treten) widmete das Musée des Beaux-Arts in La Chaux-de-Fonds den Werken von Künstlerinnen und Künstlern des Style Sapin eine Ausstellung. So nennt sich eine lokale Richtung des Jugendstils aus den 1920erJahren. Der Tannenstil wurde durch den Kunstgewerbeschul-

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lehrer und Jugendstilkünstler Charles L’Eplattenier und dessen Schülerinnen und Schüler geprägt. Grundlage der ornamentalen Studien der Gruppe war die Tanne, weil sie nach Ansicht von L’Eplattenier im Ganzen oder im Detail unerschöpfliche dekorative Ressourcen bietet. Nebst der Tanne wurden auch andere einheimische Tiere und Pflanzen der Juraregion zu Hauptdarstellern in den Werken des Tannenstils, der nach seiner Entstehung fast hundert Jahre lang in einen Dornröschenschlaf fiel und kaum mehr ausgestellt wurde. Erst seit Kurzem finden die Werke wieder Beachtung. Ob das neu aufgekeimte Interesse an einheimischer Flora und Fauna zum Revival des Tannenstils beigetragen hat? Wir waren jedenfalls hingerissen von den Keramiken und Textilien mit Käfer-, Schmetterlings-, Tannen-, Kornblumen-, Mistel-, Efeu-, Löwenzahn- und Enzianornamenten. In gezeichneten und gemalten Studien liess sich in der Ausstellung die Umwandlung

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Haus im Style Sapin – eine lokale Richtung des Jugendstils aus den 1920er Jahren. Foto: Monique Obertin

der natürlichen Formen zu Ornamenten nachvollziehen und bewundern.

Die Stadt La Chaux-de-Fonds hat keine Vororte und liegt in einer dünn besiedelten Gegend. Deshalb wird sie oft als Stadt auf dem Land (Ville à la campagne) bezeichnet, obwohl sie eigentlich eine Industriestadt ist. Hélène Bezençon geht in ihren tagebuchartigen Reflexionen auf diese besondere geografische Situation aus einer eigenwilligen Perspektive ein.

Die Uhrmacherei nahm in La Chaux-de-Fonds bereits im frühen 19. Jahrhundert ihren Anfang, in den ersten Jahren vor allem in Heimarbeit. Der Wiederaufbau der Stadt erfolgte nach dem Brand im Jahr 1794 aus Stein und in einer zukunftsweisenden Art, die ihresgleichen sucht: Dem Abstand zwischen den Häusern, dem Lichteinfall in die Uhrmacherateliers, den Arbeitswegen und Wohnungen der Arbeiterinnen und Arbeiter wurde grösste Bedeutung beigemessen. Nicht umsonst fand die Stadt in Karl Marx’ Hauptwerk, dem Kapital, Erwähnung. Ihr Zentrum bildet die grosszügige Avenue Léopold-Robert, «le pod». Der Autor und Historiker Raoul Cop berichtet über die Ursprünge des schachbrettartigen Stadtplans von La Chaux-de-Fonds.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich La Chaux-deFonds zum wirtschaftlichen Mittelpunkt des jungen Kantons Neuenburg und gab sich 1848 ein republikanisches Staatsgrundgesetz. Die Schweizer Uhrenindustrie musste sich nach einer Krise in den 1870er-Jahren modernisieren, um mit den im Ausland aufkommenden industriellen Produktionsmethoden Schritt zu halten. Dies gelang nicht zuletzt dank zugezogener, meist jüdischer Investoren. La Chaux-de-Fonds zog in der Folge viele Arbeitskräfte an und wuchs schnell, erlebte aber über die Jahre mehrere Hochs und Tiefs, indem es sich als Magnet für Arbeitsuchende erwies oder aber, nach wirtschaftlichen Einbrüchen, hohe Arbeitslosenzahlen zu verzeichnen hatte. Heute ist die Uh-

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renindustrie durch Präzisionsmechanik, Mikromechanik und Elektronik teilweise ergänzt oder abgelöst. Gesellschaftlich und kulturell reflektiert La Chaux-de-Fonds Offenheit und Toleranz. Die Stadt brachte zahlreiche Schriftsteller, Architekten, Designer und Musiker hervor: Blaise Cendrars, Le Corbusier, Emile de Ceunick und Charles L’Eplattenier und viele andere.

Der Club 44 an der Rue de la Serre 64, eröffnet 1944 durch den Industriellen Georges Braunschweig, hat zum Ziel, der ansässigen Bevölkerung unterschiedliche Blickwinkel auf die Welt zu ermöglichen und objektive Informationen in einem demokratischen Geist zu fördern. Unter den eingeladenen Referierenden befanden sich unter anderem der französische Präsident François Mitterand, Jean-Paul Sartre, Hubert Reeves, Jeanne Hersch und François Truffaut. Kultur und Geschichte der Stadt La Chaux-de-Fonds wurden durch visionäre Persönlichkeiten geprägt. Ein Klima der Toleranz und eine gewisse Originalität ist in den rechtwinkligen Strassen heute noch spürbar und wir nehmen uns vor, der Stadt auch in Zukunft ab und zu einen Besuch abzustatten … vielleicht schon nächsten Winter, an einem Frosttag, um die sagenhaften Schneehaufen auf den Trottoirs zu bestaunen.

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Rückkehr in die Heimatstadt

Informationen zu allen Bildern von Catherine Meyer siehe Seite 34.

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Foto: © Catherine Meyer

Once Upon a Time in La Chaux-de-Fonds

Das Taxi rast mit Tempo Teufel durch die Landschaft. Bei jeder Kurve knallt meine Schulter gegen die Tür. Ich sitze auf dem Beisitz, die Rückbank ist vollgepackt. Neben mir plaudert der Fahrer und streicht mir beim Schalten über den Oberschenkel. Das kotzt mich an, aber ich beisse die Zähne zusammen. Das Schild am Eingang der Stadt hinterlässt eine Art blaue Schliere auf der Scheibe. Ich bin nicht besonders glücklich, nach La Chaux-deFonds zurückzukehren, aber auch nicht speziell traurig, vom Land wegzuziehen. Wenn ich ein Pferd oder auch nur eine Katze hätte halten können, wäre es etwas anderes gewesen. Wie ist es nur so weit gekommen? Vor einigen Monaten bin ich zufällig Jesse begegnet, einem Freund aus Kindertagen. Ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich bin mit ihm auf den Bauernhof meiner Kindheit gezogen, den er bei seiner Rückkehr aus Amerika gekauft hatte. Ein glücklicher Zufall? Ich habe seine Kollegen kennengelernt (was sie arbeiteten ist mir immer noch schleierhaft) und ihre Freundinnen, die Drillinge, die da wohnten. Da die Männer immer häufiger fort waren, habe ich versucht, mich mit ihnen anzufreunden. Zwecklos. Eines Tages haben sie mir Knall auf Fall befohlen, meine Sachen zu packen. Wir hauen ab, haben sie mir gesagt. So ist alles gekommen. Das GPS gibt die Strassennamen und Ab-

zweigungen durch. Wir fahren am Parc du Sport vorbei, an der Apotheke von Versoix, dem Sitz der Zeitung L’Impartial, und drehen dann eine Dreiviertelrunde im Kreisel. Das Hotel Fleur de Lys befindet sich am Anfang des Pod. Die Drillinge haben vier Zimmer reserviert, bis wir eine Bleibe finden, die diesen Namen verdient. Sie wollten nicht mit mir kommen und gaben vor, sie müssten bei der Reithalle ein paar letzte Dinge regeln.

Das Taxi hält mitten auf dem Gehsteig. Erleichtert, dass ich in einem Stück angekommen bin, steige ich aus, recke und strecke mich und hebe den Blick. Eingefasst von einer Personalvermittlung links und der Bank R. rechts, steht das Hotel gegenüber dem Grossen Brunnen. Der Turm ist potthässlich, aber die Zimmer sind offenbar luxuriös und die Aussicht atemberaubend. Wenn sie allerdings auf Espacité und seinen Parkplatz geht, sehe ich nicht, was man davon hat. Ich gehe durch die automatischen Türen, gefolgt vom Fahrer, dem mindestens zwanzig Kilo Gepäck an den Armen hängt. Mit einem Mal komme ich mir vor wie die Heldin aus Pretty Woman. Betont auffällig löse ich meine Haare, klappere mit den Absätzen auf dem Marmorboden und bleibe vor der grossen Spiegelwand stehen: Ich sehe bescheuert aus.

In meinem riesigen Zimmer beschliesse ich, das Auspacken der Kartons in Angriff

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zu nehmen. Jesses Anweisungen waren glasklar: Einzig und allein den Karton öffnen, der mit «Kleider» beschriftet ist, seine schwarzen Hemden bügeln und in den Schrank hängen. Den Rest nicht anfassen. Ich lege los, völlig fasziniert, dass mein Zimmer über ein eigenes Bügelbrett und ein eigenes Bügeleisen verfügt. Es gibt sogar einen Spray mit Weichspüler. Als die vierundzwanzig Hemden in Reih und Glied im Schrank hängen, vergewissere ich mich, dass die Zimmertür verschlossen ist und mache mich an den Rest. Jesse wird es nie erfahren. Es stimmt, ich habe das Pulver nicht erfunden und wittere nicht überall Unrat, so bin ich erzogen worden. Doch ich bin auch nicht dümmer als andere. Ich kann lesen, schreiben, Gleichungen mit einer oder zwei Unbekannten lösen, Kreuzworträtsel ausfüllen ohne Lösungshilfe, einen Fahrradreifen wechseln und mit einem einzigen Streichholz ein Feuer entfachen. Als ich die unordentlich in die Sporttasche gestopften Handschellen, Stricke und Strümpfe entdecke, verstehe ich schlagartig: Jesse betrügt mich mit einer anderen. Einer anderen, die es offensichtlich hart mag und die überhaupt keinen Geschmack hat. Die beigen Strümpfe sind schon lange aus der Mode. Der Ärger treibt mir Tränen in die Augen. Monsieur amüsiert sich. Die Geschäftsreisen bis zum Gehtnichtmehr entpuppen sich als Bettgeschichten. Wie konnte ich nur so naiv sein? Ich lege die Stricke zurück in die Tasche, ziehe den Reissverschluss zu und schneide mit dem Cutter den zweiten Karton auf. Sofort werde ich schwach. Er enthält den Kaufver-

trag für unsere zukünftige Ranch in Colorado, ein Hufeisen als Glücksbringer, Fotos von uns beiden und meine mit einem hübschen goldenen Band zusammengebundenen Briefe. Jesse ist im Grunde ein grosser Romantiker. Zweifellos wird er das Missverständnis bei seiner Rückkehr klären.

In einer Woche habe ich die Annehmlichkeiten des Hotels ausgeschöpft. Ich habe ein paarmal im Privatsalon des ersten Stocks Kaffee getrunken, ein bisschen auf den Fahrrädern des Fitnesscenters pedalt, die 300 Fernsehsender durchgezappt und die Liste der Pizzasorten abgehakt. Ich habe die Nase gestrichen voll, aber ich getraue mich nicht nach draussen vor lauter Angst, meiner Mutter zu begegnen, die gleich um die Ecke wohnt und immer noch meint, die Zukunft der Reithalle liege in meinen Händen. Um mir die Beine zu vertreten, steige ich die acht Stockwerke hoch und runter und streife durch jeden Flur. Vor einem Zimmer der Drillinge bleibe ich stocksteif stehen: Die Tür ist angelehnt. Ich kann mein Glück nicht fassen und schleiche hinein. Das Bett ist unberührt und alle Kartons türmen sich in einer Ecke. Unangetastet. Die Drillinge ihrerseits stehen zusammengedrängt am Fenster vor einem grossen Fernglas. Sie sprechen so leise, dass es für mich wie das Brummen einer Fliege klingt. Ich trete in winzigen Schritten näher und halte dabei die Luft an. Meine Schuhe machen ein leises Sauggeräusch auf dem Teppich und sogleich fahren drei Köpfe herum. Die Drillinge mähen mich mit ihren Blicken nieder und schlagen das

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kleine Heft zu, das sie in Händen halten. Verstört finde ich mich im Korridor wieder. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Drillinge eine Leidenschaft für Vogelkunde entwickelt haben, erst recht nicht, da die einzigen Vögel, die in den Dächern der Stadt nisten, verfettete Tauben sind. Warum nur beobachten sie die LéopoldRobert-Strasse? Ich habe keine Zeit, mir den Kopf zu zermartern, denn ein Riesenknall, gefolgt von Polizeisirenen, zerreisst mein Trommelfell. Ich stürze mich in mein Zimmer. Auf dem Bildschirm meines immer noch laufenden Fernsehers flackert die Flashmeldung, die zehn Meter von unserem Hotel entfernte Bank R. sei überfallen worden. Die Drillinge, bestimmt ebenso schockiert wie ich, platzen in mein Zimmer. Sie schmeissen eine grosse Schere und eine Flasche Wasserstoffperoxid auf mein Bett und weisen mich an, ihnen die Haare ganz kurz zu schneiden. Ich gehorche und denke, dass eigentlich nicht der Moment sei für Eitelkeiten.

Wir ziehen nicht aus der Stadt, aber in den Norden, in die Höhe. Es ist chic und teuer: breite Kiesalleen, Garagen, in denen drei Autos Platz haben, Gärten so gross wie Fussballplätze. Die meisten Kinder der Reithalle kamen von hier. Die Mädchen kreuzten in den grossen Schlitten ihrer Eltern auf. Sie hatten für gewöhnlich ihr eigenes Pferd bei uns in Pension, dem sie einen lächerlichen Namen aus der Serie Der Sattelclub verpassten. Ich verspürte für diese Mädchen eine Mischung aus Faszination und Hass. Einerseits hätte ich gerne in ihrem Jacuzzi ge-

planscht und an ihren Pyjamapartys teilgenommen, wo, wie ich gehört hatte, die heisse Schokolade mit essbarem Gold überstäubt war. Andrerseits war ich es mehr als leid, dass sie mich von oben herab ansahen und sich über meinen «Bauernakzent» mokierten.

Die Tage vergehen, ich langweile mich zu Tode. Ich getraue mich nicht hinaus, Jesse kommt nicht zurück und die Drillinge schneiden mich. Als ich mich aufs Basteln verlegen will, stosse ich auf folgenden Artikel:

Missglückter Überfall auf die Bank R. Gestern kurz vor Mittag drangen vier bewaffnete, vermummte Banditen in die Bank R. ein. Die von einer Passantin gerufene Polizei gab am Rande des Gebäudes Schüsse ab und verfolgte die Kriminellen, die in zwei schwarze Mercedes gestiegen waren. Sie habe die Spur der Fahrzeuge bei der Tunnelausfahrt der Vue-des-Alpes verloren. Laut verschiedener Quellen seien einer der Übeltäter sowie zwei Polizisten im Gemenge verletzt worden. Bis anhin konnte die Identität der Räuber nicht festgestellt werden. Die Direktorin der Niederlassung gab jedoch zu verstehen, es könnte sich um die «Schwarze Bande» handeln, die seit mehreren Monaten ihr Unwesen treibt.

Ich bin nicht dümmer als andere. Ich zerknülle den Artikel in meinen Fingern, langsam, beinahe mit Wollust.

Auszug aus Hors-la-loi, Lausanne, Paulette éditrice, 2018. Aus dem Französischen von Ruth Gantert.

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Gespräch mit Julie Guinand im Café ABC, La Chaux-de-Fonds

Regina Füchslin, Susanne Mathies und Monique Obertin treffen Julie Guinand im Café ABC, dem Kulturzentrum (CinéCafé Théâtre) von La Chaux-de-Fonds, zum Gespräch. Julie wohnt in der Stadt und trifft mit dem Fahrrad ein.

orte: Julie Guinand, wie kamst Du zum Schreiben?

Julie Guinand: Ich wollte schon als Kind Schriftstellerin werden. Schreiben hilft mir, meine Gedanken zu ordnen und an der Welt teilzunehmen.

Was sind die Hauptthemen in Deinen Texten? Hast Du literarische Vorbilder? Menschliche Beziehungen, Gedanken und Gefühle interessieren mich am meisten. Politische Aspekte werden mir in dem Sinn immer wichtiger, als Politik bei den Menschen anfängt. Empowerment ist ein wichtiger Begriff. In meinem Roman Hors-la-loi, einem modernen Western aus La Chaux-de-Fonds, geht es um eine Frau, die sich leichtgläubig in ein kriminelles Milieu begibt und sich ermächtigt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Mich interessiert, wie Macht funktioniert und sich auswirkt. Ich mag das Spiel mit Perspektiven, dabei interessiert mich insbesondere die weibliche Sicht auf die Dinge. Bei der Darstellung liebe ich die Vermischung von Realem mit Fantastischem. Als Vorbilder würde ich Antoi-

nette Rychner und Haruki Murakami nennen.

Wir haben gelesen, der Austausch mit anderen Schreibenden sei Dir sehr wichtig. Ja, ich bin Mitglied von AJAR, einem Schreibkollektiv, das 2012 gegründet wurde und sich monatlich zum Austausch in Cafés oder privat trifft. AJAR hat verschiedene Aktivitäten. 2016 erschien zum Beispiel der Roman Vivre près des tilleuls (Flammarion; auf Deutsch 2017 im Lenos-Verlag: Unter diesen Linden), ein Gemeinschaftswerk der achtzehn frankophonen Autorinnen und Autoren des Kollektivs. Jede AJAR-Autorin, jeder AJAR-Autor verfasste darin ein Kapitel, ohne als Autorin in Erscheinung zu treten, denn die Kapitel durchlaufen die ganze Gruppe zur Überarbeitung, damit das Werk als reine Kollektivarbeit gelten konnte. Die Idee war ursprünglich eher humoristischer Natur, fand aber gefallen, wurde erfolgreich umgesetzt und als Buch publiziert. Die AJAR Gruppe tauscht sich mit anderen Schreibgruppen aus verschiedenen Erdteilen aus, nimmt an Festivals teil (zum Beispiel am Festival von Québec) und engagiert sich auch politisch.

Was zeichnet die Bewohner und Bewohnerinnen von La Chaux-de-Fonds aus? Ich denke, sie haben im Allgemeinen Bo-

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denhaftung, sind tolerant und sehr entspannt. Sie kümmern sich wenig um Modeströmungen. Deshalb ist es einfach, in La Chaux-de-Fonds sein Leben so zu führen, wie man es selbst für richtig hält. Als ich 21 war, zog ich von La Chaux-de-Fonds weg und kehrte nach ein paar Jahren zurück, um mich bis auf Weiteres niederzulassen.

Bist Du Vollzeitschriftstellerin?

Momentan bin ich Vollzeitschriftstellerin. Ich arbeite innerhalb des Kollektivs, aber auch an eigenen Texten. Ferner gebe ich Schreibkurse im Kollektiv und im Projekt «Roman d’Ecole», wo ich mit den Teilnehmenden an einem Schulhausroman arbeite.

Spielt der industrielle Hintergrund der Stadt in Deiner Literatur eine Rolle?

Die Leute sind schon geprägt von der Uhrenindustrie. Mein jüngster Roman handelt von vier Frauen in vier Generationen aus La Chaux-de-Fonds. Hier wird deutlich, wie sich die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt auf die Personen auswirkt. La Chaux-de-Fonds hat viele Krisen überstanden. Die Stadt ist seit zehn Jahren UNESCO-Kulturerbe und hat einige herausragende Kunstschaffende hervorgebracht: Le Corbusier kann man in der Villa Blanche und in der Villa Turque besuchen. Blaise Cendrars ist zu nennen, Emile de Ceunick,1 Charles L’Eplattenier.2 Und es gibt «1000 mètres d’auteur.e.s», eine Aktion der Stadt mit literarischen Zitaten von einheimischen Künstlerinnen und Künstlern an Hauswänden.3

1 Komponist und Musiklehrer am Konservatorium von La Chaux-de-Fonds.

2 Der Kunstgewerbeschullehrer und Jugendstilkünstler prägte, inspiriert von einheimischen Pflanzen und Tieren, einen eigenen Ornamentstil, den Style Sapin, welchem im Kunstmuseum von La Chaux-de-Fonds derzeit eine Ausstellung gewidmet ist.

3 Julie Guinands Zitat befindet sich in der Nähe des Cafés ABC, an der Rue du Coq.

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Schriftstellerin Julie Guinand im Gespräch mit orte. Foto: Susanne Mathies

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